Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2018

Spalte:

476–478

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Köckert, Matthias

Titel/Untertitel:

Abraham. Ahnvater – Vorbild – Kultstifter.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2017. 488 S. m. 32 Abb. = Biblische Gestalten, 31. Kart. EUR 24,00. ISBN 978-3-374-04764-2.

Rezensent:

Anke Mühling

Dieser Band der Reihe »Biblische Gestalten« ist der bislang umfangreichste, was zum einen dem inhaltlichen Reichtum der biblischen Abrahamerzählungen geschuldet ist, zum anderen aber auch der breiten Rezeptionsgeschichte, die der Erzvater in Judentum, Chris­tentum und Islam erfahren hat. Der emeritierte Berliner Alttestamentler Matthias Köckert als ausgewiesener Experte für die Vätererzählungen hat hier ein allgemeinverständliches Werk vorgelegt, das auch für den Fachfremden oder den interessierten Laien mit Gewinn zu lesen ist, sofern er grundsätzlich bereit ist, sich auf die biblischen Texte einzulassen.
Die dreiteilige Struktur des Buches entspricht der Grundanlage der Reihe: Nach einer Einführung folgt die detaillierte Darstellung der biblischen Texte auf der Grundlage der gegenwärtigen exege-tischen Forschung, bevor in einem letzten Teil die Wirkungsgeschichte der Abrahamgestalt nachgezeichnet wird. 32 Abbildungen und Karten tragen zur Anschaulichkeit bei. Der Fußnotenapparat ist auf das Nötigste beschränkt, was der flüssigen Lesbarkeit zugute kommt. Das gilt auch für das weitgehende Fehlen kleinteiliger exegetischer Argumentationen, die an anderer Stelle geführt wurden. Wer hier Genaueres wissen will, wird in den Anmerkungen und mit Hilfe des umfangreichen Literaturverzeichnisses fündig.
K. gelingt es, die Schönheit und die Besonderheiten der Erzählungen herauszustellen, ohne dabei die Frage nach ihrer Genese und der Einordnung in ihre historischen Zusammenhänge auszublenden. Nach grundlegenden Betrachtungen zur Eigenart biblischer Erzählungen würdigt er im Eingangsteil die Erzählweise in den Geschichten von Abraham und Sara, die über die biographische Perspektive der Erzeltern hinaus immer auch eine volksgeschichtliche Perspektive als Ursprungsgeschichte Israels im Blick haben und deren Sinndimensionen sich je nach literarischem Kontext verändern.
Der darstellende Hauptteil B folgt weitgehend der Reihenfolge der biblischen Erzählung und endet mit einer entstehungsgeschichtlichen Hypothese, die inzwischen weitgehend anerkannt ist: Anders als früher angenommen, stammen die Texte über Abraham wohl frühestens aus dem 8. Jh. v. Chr. und dienten mit ihren Erweiterungen und Fortschreibungen vor allem der Bewältigung von Krisen, die in Form von Landverlust und Gefährdung der Identität über Israel und Juda kamen, nach dem Untergang des Nordreichs, vor allem aber nach 587 v. Chr. mit dem babylonischen Exil. Den ältesten Kern vermutet K. wie viele andere in der Abraham-Lot-Erzählung, die eng mit Hebron verbunden ist und nach dem Untergang des Nordreichs 720 v. Chr. entstanden sein dürfte. Spätestens zu Beginn der Perserzeit habe man dann die im Südreich verhaftete Abraham-Lot-Erzählung mit der Jakoberzählung des Nordreichs verbunden. Viele der Verheißungsreden gehen eben falls auf dieses Stadium der Überlieferung zurück, wodurch die Themen Land und Mehrung sowie das Verhältnis zu anderen Völkern in den Fokus geraten. Gleich die erste große Verheißungsrede in Gen 12,1–3 macht Abraham zum Einwanderer, was ihn wiederum zum Vorbild der babylonischen Exulanten werden lässt, die damit zur Rückkehr ins verheißene Land aufgefordert werden. Als eigenständige Konzeption wird die priesterliche betrachtet, die K. ähnlich wie die zusammengefügte Vätergeschichte in der frühen Perserzeit vor dem Bau des Zweiten Tempels 520 v. Chr. verortet. Ihr zentraler Text ist bekanntermaßen Gen 17 mit dem Bundesschluss, der sich im Unterschied zum deuteronomistischen Bundesverständnis allein der Treue Gottes verdankt, der damit für Israel ein exklusives Gottesverhältnis stiftet. Als Bundeszeichen wird die Beschneidung als Identitätsmerkmal bei Abraham verankert.
Jünger als die priesterliche Neufassung der Abrahamüberlieferung, nämlich aus vorgerückter Perserzeit stammend, ist wiederum die Diskussion um Gottes Gerechtigkeit in Gen 18,17–32, in der Abraham als Prophet, Toralehrer und Weiser gezeichnet wird. Nachpriesterliche Erweiterungen aus dem 5. Jh. v. Chr. in Gen 20–22* stellen zum Teil eine Revision bekannter Texte dar und reagieren auf neue Situationen und Fragestellungen mit dem Ergebnis: Friedliches Zusammenleben von Juden und Nichtjuden ist möglich, auch wenn Mischehen weiter verboten bleiben. Und gegen allen Augenschein lohnt es sich, sein Vertrauen weiterhin auf Gott zu setzen (Gen 22). Auch in Gen 14 und 15 werden Umdeutungen aus spätpersischer Zeit gesehen, die Abraham zur königlichen Gestalt erhöhen, der die Gabe des Zehnten legitimiert und das zadokidische Hohepriestertum autorisiert (Gen 14). Gen 15 zeichnet Abraham als Vorbild des Gottvertrauens. Wiederum spätere Diskussionen und neue Sinnaspekte kommen durch Ergänzungen in Gen 22,15–18, Gen 24 und Gen 23 hinzu.
Im folgenden Hauptteil C zur Wirkungsgeschichte nimmt K. zunächst die wenigen Bibelstellen in den Blick, in denen Abraham außerhalb der Genesis erwähnt wird, und zeichnet hier seinen Weg vom »Ahn der im Lande Verbliebenen zum Vorbild der Gerechten« (274) nach. Danach folgt unter der Überschrift »Vom ersten Verehrer des wahren Gottes zum Urbild der Proselyten« (290) eine Zusammenfassung der umfangreichen Wirkungsgeschichte, die Abraham im frühen Judentum entfaltet hat. Die Deutungen, die man mit dem Ahnvater verbunden hat, weisen eine beeindruckende Vielfalt auf und stehen bisweilen auch in Spannung zueinander, was sich z. B. in der Frage widerspiegelt, ob Abraham nun »unser Vater«, also der Ahn Judas bzw. aller Juden, oder der »Vater vieler Völker« ist. Interessanterweise konnten sich sowohl weltoffene als auch sich gegen den Hellenismus abgrenzende Strömungen des Judentums für ihre Zwecke auf Abraham berufen. Der Ahnvater zieht in der frühjüdischen Literatur viele beispielhafte Charakte-ristika an sich: Er wird zum ersten Verehrer des wahren Gottes stilisiert in der Apokalypse Abrahams, er gilt als bewährter Diener der Tora im Jubiläenbuch, als Vorbild an Frömmigkeit und Tugend bei Philo, als Philosph und Erfinder bei Josephus. Einige dieser Aspekte werden wiederum weitergeführt und ergänzt in den jüdischen Bibelkommentaren, den Midraschim, die K. am Beispiel des Mid­rasch Bereschit Rabba in seine Darstellung einbezieht. Es schließt sich ein Durchgang in Auswahl durch das Neue Testament und die Alte Kirche an, wo Abraham vom »Vater aller, die glauben, zum Zeugen für Jesus Christus« (348) wird. Auch hier dient Abraham zum einen, wie bei Paulus, als integrative Figur, er konnte aber auch exklusiv christlich in Anspruch genommen werden, wie es z. B. der apokryphe Barnabasbrief belegt. Eine interessante Auslegung von Gen 22 wird mit den Homilien des Origenes vorgestellt, bevor die ältesten erhaltenen bildlichen Darstellungen biblischer Abraham-Geschichten in Rom und Ravenna behandelt werden.
Natürlich spielt Abraham auch im Islam eine bedeutende Rolle, weshalb auch eine Darstellung Abrahams im Koran nicht fehlt. Nach einem kurzen Überblick über die Entstehung des Korans werden die Bezugnahmen auf den Erzvater zusammengefasst, dessen Geschichte als »Beispiel für die Barmherzigkeit des Allmächtigen« (418) gilt, der aber vor allem auch als kompromissloser Monotheist (427 ff.), vollkommen Gottergebener (433 ff.), Kultstifter (durch seine Verbindung mit dem Heiligtum in Mekka) und Urbild eines Muslim (442 ff.) gezeichnet wird.
Ein kurzes Nachwort zum Verhältnis von Judentum, Christentum und Islam beschließt den flüssig zu lesenden Band, der einen guten Überblick über die Abraham-Geschichten der Bibel und ihre vielfältige außerbiblische Wirkungsgeschichte bietet.