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Ausgabe:

Mai/2018

Spalte:

456–458

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Dubrau, Alexander A.

Titel/Untertitel:

Der Midrasch Sifre Zuta. Textgeschichte und Exegese eines spätantiken Kommentars zum Buch Numeri. M. e. Geleitwort v. Günther Stemberger.

Verlag:

Münster u. a.: LIT Verlag 2017. XXI, 500 S. = Tübinger Judaistische Studien, 2. Kart. EUR 49,90. ISBN 978-3-643-13532-2.

Rezensent:

Daniel Schumann

Das spätantike rabbinische Werk Sifre Zuta (SifZ; wörtlich »das kleine Sifre«), dessen Bezeichnung zur Unterscheidung vom ebenfalls zum Buch Numeri (Num) verfassten Kommentar Sifre »Bücher« gewählt wurde, ist eine Auslegung der gesetzlichen Partien im 4. Buch Mose, die nach der Musterung der Leviten in Num 5,1 mit Reinheitsvorschriften einsetzt und mit den Bestimmungen zu den Fluchtstädten in Num 35,34 endet (52–53). Gegenstand detaillierter Auslegung sind dabei u. a. das Sota-Ritual bei Ehebruchsverdacht, der als Naziräer bezeichnete Geweihte, der Priestersegen, die Pries­ter- und Levitengesetze sowie Bestimmungen zur Asche der roten Kuh. SifZ gehört damit zur Gruppe der halachischen Midraschim und steht gemessen an Auslegungssprache und am darin sich Ausdruck verschaffenden Rabbinenkreis der Schule des Rabbi Aqiva (Gruppe B) nahe.
Die eben zu diesem Midrasch von Alexander A. Dubrau vorgelegte Arbeit basiert auf seiner 2011 an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg eingereichten und von Ronen Reichman be­treuten Dissertation. Die mit der Arbeit angestrebte Zielsetzung benennt der Vf. zum einen mit dem Versuch der traditionsgeschichtlichen Verortung des Werkes und zum anderen mit der Ana­lyse des Textes in seinem historischen und literarischen Um­feld (2–4). Als Hinführung auf die so angezeigte zweifache Zielsetzung der Arbeit dient dem Vf. ein umfangreiches Einleitungskapitel (1–51), in dem er SifZ im Corpus der halachischen Midraschim verortet (10–18), auf Paralleltraditionen in anderen rabbinischen Werken wie der Mischna oder den beiden Talmudim verweist (19–22), sowie eine detaillierte forschungsgeschichtliche Reflexion zu SifZ bietet (22–51).
Im zweiten Teil der Arbeit befasst sich der Vf. sodann mit dem Thema der Texterschließung (52–61). Dabei verweist er auf die mit der Textrekonstruktion und dem Ansinnen der Herausgabe einer neuen textkritischen Ausgabe von SifZ verbundenen Schwierigkeiten, die sich aus dem Umstand ergeben, dass die Geniza-Fragmente als wichtigste Zeugen der Textüberlieferung nur für Num 19,6–18 (Ms Firkovitch; stellt wichtigsten Textzeugen von SifZ dar) und Num 31,23–24 sowie 35,11–20 (Ms Oxford) vorhanden sind und die übrigen Lesarten aus dem Midrasch ha-Gadol (MidhG), dem Jalqut Shim’oni (JalqS), Numeri Rabba sowie aus Zitaten der Rischonim (rabbinische Gelehrte des 11. bis 15. Jh.s) entnommen werden müssen. Die Aufnahme großer Teile von SifZ in Textanthologien wie MidhG und JalqS kann einerseits als glücklicher Umstand der Textsicherung gelten, dürfte andererseits aber auch als Grund für das Ende der eigenständigen Rezeption von SifZ eine große Rolle gespielt haben (460). Besonders wichtig für jede wissenschaftliche Auseinandersetzung mit SifZ ist in diesem Zusammenhang eine vom Vf. zusammengetragene Liste (57–58 mit Anm. 22–25) zur bis dato einzigen kritischen und von Horovitz (1917) besorgten Ge­samtausgabe. In dieser hat der Vf. jene Stellen verzeichnet, die Ho­rovitz fälschlich zum Bestand von SifZ gerechnet hat, aber eigentlich auf Sifre Numeri, andere amoräische Quellen oder Maimo-nides zurückzuführen sind. Es folgt ein Kapitel zur Text- und Überlieferungsgeschichte von SifZ (61–141), das dem Leser eine an der geographischen und chronologischen Verbreitung der Textzeugen orientierte Darstellung der orientalischen, italienisch-by­zantinischen, aschkenasischen (mit zahlreichen Textinterpola-tionen versehen) und babylonischen Rezeptionen bietet. Daran schließt sich eine detaillierte Zusammenstellung der exegetischen Termini, der Auslegungssprache des Traditionskreises hinter SifZ und der darin zur Sprache kommenden Tradenten an (141-229), welche das Auffinden von bisher noch nicht erfassten Zitaten aus SifZ in der Literatur der Rischonim erleichtern und damit die Ar­beit an der noch unabgeschlossenen Texterschließung ungemein befördern wird.
Im dritten Teil der Arbeit (230–456) führt der Vf. an ausgewählten Textpartien von SifZ zu Num 19,1-18 eine eingehende Textanalyse durch, die dem Ziel der Untersuchung textkritischer, redaktioneller, aber auch historischer Zusammenhänge dienen soll, die wiederum in ihrem Ergebnis Auskunft über Abhängigkeitsverhältnisse paralleler Traditionen in Mischna, Tosefta und SifN ge­ben können. Da eine angemessene Besprechung aller vom Vf. de­tailliert und akribisch durchgeführten Analysen im Format einer Rezension schwerlich geleistet werden kann, soll hier dem Leser das methodische Vorgehen des Vf.s allein am Beispiel von SifZ zu Num 19,9 und den dort verhandelten Anforderungen zur Tauglichkeit einer die Asche der »roten Kuh« aufsammelnden Person vorgestellt werden (412–420). Für die Herstellung dieser Asche darf, wie der Name bereits sagt, allein eine Kuh verwendet werden, die ausschließlich rote Haare hat, nie als Lasttier in Gebrauch war und makellos ist. Nachdem das Tier verbrannt wurde, fand die auf-gesammelte Asche gemischt mit Quellwasser bei der Reinigung von mit Totenunreinheit verunreinigten Personen ihre Anwendung (Num 19,19). SifZ zu Num 19,9 definiert nun den Kreis möglicher Personen, die die Asche der roten Kuh auflesen dürfen, mit Priestern, Heiligtumssklaven, Bastarden, Proselyten, freigelassenen Sklaven und Minderjährigen. Der Vf. präsentiert zu Beginn seiner Analyse eine Synopse mit den Paralleltraditionen aus SifZ zu Num 19,9 und SifN § 124, ergänzt diese mit textkritischen Varianten und einer anschließenden deutschen Übersetzung in ebenfalls synoptischer Gegenüberstellung.
Es folgt eine traditionsgeschichtliche Untersuchung des Rituals zur Verbrennung der roten Kuh, bei der Vf. das in den Qumranfragmenten 4Q277 frg. 1 ii 2 und 4Q395 1 8–10 beschriebene Ritual mit der rabbinischen Position vergleicht und zu dem Schluss kommt, dass die Fragmente aus Qumran vor dem Hintergrund von mPara 3,7 die sadduzäische Position widerspiegeln, die eine Person bei nur geringster Verunreinigung als für das Aufsammeln der Asche untauglich disqualifiziert. Die im Widerspruch dazu stehende Öffnung des Rituals des Aschesammelns für Personen nichtpriesterlicher Herkunft, wie sie in SifN und SifZ bezeugt wird, hält der Vf. für die zur Spätzeit des Zweiten Tempels vertretene pharisäische Position. Mit der Erhellung dieser literarischen und traditionsgeschichtlichen Dependenzen gelingt es dem Vf., die Entstehungshorizonte der SifZ-Traditionen treffend zu beschreiben und die Wege der Traditionsaufnahme und Weiterentwicklung im frührabbinischen Judentum zu bestimmen.
Die Tatsache, dass Stemberger die Arbeit des Vf.s zu zentralen Themen wie Textgeschichte und Exegese von SifZ im Geleitwort als »Pionierarbeit« (v) würdigt, sagt viel über den leider aktuell unbefriedigenden Stand der Forschung zu den rabbinischen Auslegungswerken aus, zu dessen Belebung der Vf. einen wichtigen Beitrag geleistet hat. Als besonders erfreulicher Umstand dieser Pionierleistung darf die Umsichtigkeit des Vf.s gelten, mit der er übrig gebliebene Forschungsdesiderate klar benennt und damit für interessierte Forscher und Nachwuchswissenschaftler leicht An­knüpfungspunkte zur Fortsetzung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit SifZ geschaffen hat.
Zweierlei bleibt zu hoffen: Zum einen, dass der Vf. die Forschung im Bereich frührabbinischer Midrasch-Literatur mit seiner Expertise weiterhin bereichern und uns vielleicht mit einer Handschriftensynopse oder gar einer neuen textkritischen Ausgabe zu SifZ erfreuen wird. Und zum anderen, dass die Veröffentlichung in der neu gegründeten Reihe »Tübinger Judaistische Studien« vielfältige Anstöße und Impulse zur Auseinandersetzung mit rabbinischer Midrasch-Literatur erzeugt.