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Ausgabe:

Mai/2018

Spalte:

454–456

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Brumlik, Micha [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Luther, Rosenzweig und die Schrift. Ein deutsch-jüdischer Dialog. Essays, hrsg. v. M. Brumlik. M. e. Geleitwort v. M. Käßmann.

Verlag:

Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2017. 295 S. = CEP Europäische Verlagsanstalt. Kart. EUR 25,00. ISBN 978-3-86393-082-0.

Rezensent:

Matthias Morgenstern

Als der Verleger Lambert Schneider Martin Buber in Heppenheim besuchte, um ihm den Wunsch einer neuen jüdischen Übersetzung des »Alten Testaments« vorzutragen, nahm Buber – so berichtet Schneider in seinen Erinnerungen – eine Lutherbibel aus dem Regal, um anhand einer frei gewählten Bibelstelle die Berechtigung des Anliegens aufzuzeigen, zugleich aber, um auf die Größe und Bedeutung einer solchen Aufgabe aufmerksam zu machen. Auch für Franz Rosenzweig stand bei seiner Beschäftigung mit der Bibel Israels immer Luther im Hintergrund. Dessen Übersetzungsleis­tung hielt er aber – dies ist bei der Beschäftigung mit diesem spannenden Thema zu lernen – anfangs für »derart jüdisch«, dass Juden sich hier »wahrlich an den eigenen Tisch geladen« fühlen konnten. Daher war er zunächst der Meinung, ihm als »Deutschjude« sei eine neue offizielle Übersetzung nicht nur unmöglich, sondern auch verboten; nur eine jüdisch revidierte Lutherfassung sei möglich und erlaubt (Brief an Buber vom 25.1.1925).
Auf der einen Seite steht demnach eine erstaunliche Empfindung von Nähe, ein Produkt »jener Kultur, die das deutsche Judentum wähnte, dem Protestantismus zu schulden«, so Micha Brumlik in seinem Vorwort (11), auf der anderen aber jene durch die Schoa entstandene abgrundtiefe Ferne: Gershom Scholem nannte die Bibelübersetzung Bubers und Rosenzweigs das »Grabmal einer in unsagbarem Grauen erloschenen Beziehung« (13). Angesichts dieser Spannung nehmen in diesem Band unterschiedliche Autoren das Jubiläum des Jahres 2017 zum Anlass, offene, aber auch bisher verdeckte Bezüge zwischen dem Reformator und Franz Rosenzweig als einem der wohl bedeutendsten jüdischen Bibeltheologen und Bibelübersetzer des 20. Jh.s in den Blick zu nehmen.
Zu Beginn steht der Wiederabdruck von Rosenzweigs Aufsatz »Die Schrift und Luther« aus dem Jahre 1926. Es ist dies ein nachdenklicher Text, der – ausgehend von Schleiermachers Überlegungen über zwei Arten von Übersetzungen (eine lässt den Schriftsteller möglichst in Ruhe und bewegt ihm den Leser entgegen, eine lässt den Leser in Ruhe und bewegt den Schriftsteller ihm entgegen) – instruktive Betrachtungen über die Übersetzungsweise des Reformators anstellt. Rosenzweig hatte dazu die Vorreden Luthers zu unterschiedlichen biblischen Büchern gelesen. Ungeachtet der Tatsache, dass der Reformator dem Volk bekanntlich »aufs Maul« schauen wollte, konstatiert Rosenzweig, dass der Wittenberger Professor sich gerade da am meisten auf das Hebräische einließ, wo es ihm um sein eigenes, auf Christus bezogenes Glaubensanliegen ging. Dies wird anhand von Luthers Übersetzung von Ps 68,19 veranschaulicht, wo Luther die hebräische figura etymologica wörtlich wiedergibt: »Du bist in die Höhe gefahren und hast das Gefängnis gefangen« (18). Die Spannung zwischen dem als »jüdisch« empfundenen Reformator – in einem Brief Rosenzweigs an Buber vom 19. Juni 1925 heißt es gar, Luther sei, verglichen mit der eigenen Verdeutschung »fast jiddisch« – und dem antijüdischen Luther, auf den Rosenzweig freilich nie zu sprechen kommt, durchzieht das ganze Buch. Es sind in diesem Band interessanterweise die jüdischen Beiträger, die sich eher auf den einen, die christlichen Beiträger, die sich auf den anderen Aspekt konzentrieren.
Gleich im zweiten Aufsatz beschäftigt sich Walter Homolka (»Martin Luther als Symbol geistiger Freiheit? Der Reformator und seine Rezeption im Judentum«) mit dem Lutherbild deutscher Juden, wobei das Reformjudentum des 19. Jh.s im Mittelpunkt steht. Im Anschluss bringt Micha Brumlik (»Dialog zwischen Übersetzern: Franz Rosenzweigs Aufsatz ›Die Schrift und Luther‹«) die inneren Spannungen in der Theologie Rosenzweigs zur Sprache, für den »Luthers Bibelübersetzung nicht mehr und nicht weniger« darstellte »als die entscheidende Synthese von Deutschtum und Judentum« (70). Diese geht so weit, dass Rosenzweig im letzten Ab­schnitt seines Aufsatzes die paulinische Antwort auf die in der Genesis gestellte Frage »Wo bist du?« für seine eigene Geschichtsphilosophie adaptierte. Es handelt sich hier um Überlegungen, die Gesine Palmer in ihrem Beitrag zu der Frage berechtigen, ob Rosenzweig überhaupt noch als jüdischer Religionsphilosoph gelten könne (156). Die Ausführungen Palmers, die sich mit dem Islam- und Koranverständnis Rosenzweigs beschäftigen und dieses mit seinem Bild der Lutherbibel vergleichen, sind besonders anregend. In beiden Fällen, so die Rekonstruktion des Gedankenganges Rosenzweigs, sei es um die Gefahr der Buchvergötzung gegangen. Interessanterweise macht die Autorin dies mit Rosenzweigs Bild des »Verhaus« kenntlich, der sich »dem Unterfangen einer neuen Bibelübersetzung« in den Weg gestellt habe: die »Einmaligkeit des kircheversichtbarenden, […] des schriftsprachegründenden« und »des weltgeistvermittelnden Buchs« (160). Dieser »Verhau« bei Rosen zweig, so Palmer, sei philologisch und im talmudischen Sinne (Sprüche der Väter 1,1) als »Zaun um das Gesetz« zu deuten. Es ist dies eine kühne, aber vielleicht nicht unmögliche Interpretation, die dann freilich zugleich klarmacht, wie Rosenzweigs Werk (das Werk eines nicht-traditionell lebenden und lehrenden Juden!) auch mit Blick auf seine Lutherdeutung in der Tat einzuschätzen ist. Während es im Talmud darum ging, das Gesetz zu schützen und den Zaun nicht zu überspringen, hat Rosenzweig beide »Zäune« faktisch überwunden – den des traditionell-gesetzestreuen Le­bens und den um die monumentalisierte Lutherbibel, die als eine Art »Gesetz« anzuerkennen und zugleich kritisch zu befragen er sich als Jude nicht scheut. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird nun aber nicht recht klar, welche Aufgabe der Buber-Rosenzweigschen Bibel – diese verfolgt ja einen hermeneutischen Ansatz, der von all dem abweicht, was im Bereich des normativen Judentums über eineinhalb Jahrtausende Geltung hatte! – für den jüdisch-christlichen Dialog und die christliche Theologie zukom men soll. Christian Wiese stellt die »Kritik am protestantischen Neo-Marcionismus« in den Vordergrund. Rosenzweigs Bemühen sei es gewesen, so Mara H. Benjamin, die »Rolle der jüdischen Exe­gese wie der hebräischen Sprache« zu betonen, um »den authentischen Sinn der Schrift sichtbar zu machen« (261). Doch welches soll dieser authentische Sinn sein, nachdem Rosenzweig Abstand von der talmudischen Interpretation genommen hat und Wiese die christliche Deutung für »triumphalistisch« (260) erklärt? Klaus Wengst plädiert für eine »›Ehrfurcht vor dem Wort‹, das nicht Be­sitz wird«, also eine Lesung, die sich nicht davor scheut, das Fremde fremd zu lassen. Dass dies, bezogen auf Bubers und Rosenzweigs »Verdeutschung« eine schwierige Lösung ist, kann jeder bestätigen, der diesen Text einmal auf der Kanzel oder dem Katheder verwendet hat. Wer bereits Hebräisch kann, hat Freude am Wiedererkennen (das »Fremde« ist so freilich zu »Eigenem« geworden); wer dieser Sprache unkundig ist, bleibt aber mit seinem Befremden allein – einem Befremden zudem, das, geschichtlich und theologisch geurteilt, noch gar nicht (oder jedenfalls nicht in erster Linie) von dem »Anderen« des Umgangs der jüdischen Tradition mit der Bibel herrührt, sondern das mit der uns eigentümlich berührenden ex­pressionistischen Sprache zu tun hat. Da ist es interessant zu sehen, dass bereits Zeitgenossen der 1920er Jahre wie der Redakteur der Frankfurter Zeitung Siegfried Kracauer Anstoß an den Archaismen der Buber-Rosenzweigschen Bibel nahmen – ein Streit, über den Christoph Kastens lesenswerter Beitrag informiert.
Ein schöner Ausweg aus den Aporien dieses Bandes wird vielleicht im Beitrag der Rabbinerin Elisa Klapheck »Luther als Targum« gewiesen. Sie stellt die Lutherbibel neben die Septuaginta und die klassischen aramäischen Bibelübersetzungen und schlägt vor, was jeder informierte Bibelleser nicht nur leicht konzedieren, sondern als Bereicherung empfinden wird: »die Luther-Übersetzung als eine Deutung durch Übersetzung aufzufassen und sie in einen größeren Horizont von Übersetzungen zu stellen, die man gegeneinander diskutieren kann« (135).