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Ausgabe:

Mai/2018

Spalte:

453–454

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Baltrusch, Ernst, u. Uwe Puschner [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Jüdische Lebenswelten. Von der Antike bis zur Gegenwart.

Verlag:

Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang 2016. 320 S. m. 16 Abb. = Zivilisationen & Geschichte, 40. Geb. EUR 46,70. ISBN 978-3-631-64563-5.

Rezensent:

Görge K. Hasselhoff

Der 11. März 1812 wird im Allgemeinen als ein Wendepunkt der deutsch-jüdischen Geschichte angesehen, weil an diesem Tag der preußische König Friedrich Wilhelm III. das sogenannte Emanzipationsedikt erließ. Dieses Datum nahm die Freie Universität Berlin im Wintersemester 2012/13 zum Anlass, im Rahmen einer Ringvorlesung jüdische Lebensweisen von der Antike bis zur Gegenwart in den Blick zu nehmen. Der vorliegende Sammelband dokumentiert die Ergebnisse der Vorlesung. Dabei ist, wohl den Fächern der Lehrenden ebenso wie auch der Quellenlage geschuldet, ein Un­gleichgewicht im Blick auf die behandelten Epochen und Zeiträume zu konstatieren. Zwei Artikeln zur Antike und je einem Artikel z um Frühmittelalter bzw. zur Frühneuzeit stehen neun Artikel zum 18. bis 20. Jh. gegenüber. Gerahmt werden die dreizehn Beiträge durch ein zweiseitiges Vorwort, ein Autorenverzeichnis und ein Namenregister.
Ernst Baltrusch betrachtet das Verhältnis von Judentum und Hellenismus aus dem Blickwinkel eines möglichen »Kampf der Kulturen« (nach Samuel Philips Huntington und im Dialog mit einem Buch Martin Goodmans). Im Zentrum seiner wie stets sehr quellennahen Betrachtungen stehen die Makkabäeraufstände des 2. vorchristlichen Jh.s. Dabei hält er fest, dass sich zwar eine Reihe der von Huntington ins Feld geführten Elemente eines Kampfs der Kulturen aufzeigen lassen, gleichwohl gehe es im Verhältnis zwischen Hellenisten und den jüdischen Kulturen weniger um einen grundsätzlichen religiösen Dissens als vielmehr um einen »dauerhafte[n] soziale[n] und politische[n] Konflikt« (28). Werner Eck gibt in kondensierter Form einen Überblick über seine weitgestreuten Arbeiten zum sehr wechselhaften Verhältnis von Juden und Römern im Bereich Palästinas, das vom Bündnisfall in der Frühzeit über den Status der Schutzmacht zum Gegner in den drei Aufständen des 1. und 2. christlichen Jh.s bis hin zur erneuten Schutzmacht reichte. Wichtig im Blick auf die Frage nach Konstituierungsprozessen innerhalb des Judentums dieser Zeit bestätigt er Seth Schwartz’ Auffassung, dass das rabbinische Judentum noch im 3. Jh. (nur) eine von mehreren Strömungen gewesen ist.
Stefan Esders untersucht für das westgotische Reich auf der Iberischen Halbinsel des 7. Jh.s das Verhältnis von Christen zu Juden. Sein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der »mediterrane[n] Gesamtsituation«, die sich »durch die dramatischen Auswirkungen der byzantinisch-persischen Kriege und der arabischen Eroberungen des Nahen Ostens fortwährend veränderte« (57). Vor diesem Hintergrund erklärt sich leichter das sich wandelnde Verhältnis der Mehrheitskirche, die anfangs zwar erzwungene Judentaufen einführte, den »Erfolg« aber nicht weiter verfolgte, hin zu einem sich steigernden Antijudaismus – möglicherweise auch als Folge apokalyptischer Grundstimmungen und der Hoffnung eines Teils des Judentums auf den Wiederaufbau des Tempels in der Folge der persischen Eroberungen im Heiligen Land. Esders ergänzt seinen Beitrag um einen Abdruck zuvor weit verstreut edierter Quellen, die eine nützliche Sammlung darstellen.
Claudia Ulbrich gibt Beispiele christlich-jüdischer Handlungsräume und Lebenswelten im frühneuzeitlichen Deutschland: Im Alltagsleben gab es vielerlei Verflechtungen von Juden und Christen.
Mit einer Gemeinschaftsarbeit zu Lazarus Bendavid (1762–1832) warten Rainer Kampling und René Koch auf. Der eine hatte zu dem Thema im Rahmen der Ringvorlesung vorgetragen, der andere eine Masterarbeit zu diesem Vertreter der zweiten Phase der jüdischen Aufklärung (Haskala) verfasst. Bendavid hatte zwischen 1789 und 1800 13 Bücher sowie mehr als 20 Zeitschriftenartikel verfasst, die ihn als Kantianer der ersten Stunde auswiesen. Ein Schwerpunkt der Studie von Kampling und Koch liegt auf einer Analyse der Schrift Etwas zur Charackteristick der Juden von 1793, die als eine der schärfsten Kritiken des Judentums gilt und die möglicherweise »an der Festlegung und Festschreibung antijüdischer Stereotypen mitgewirkt« hat (137).
Reinhard Rürup fasst mustergültig die Entstehung, den Text und die rechtliche Wirkungsgeschichte des preußischen Emanzipationsdekrets von 1812 zusammen; Ina Ulrike Paul vergleicht es mit der in gleicher Zeit entstandenen, aber erst ab 1862 in Geltung gesetzten württembergischen Emanzipationsgesetzgebung.
Harold Hammer-Schenk zeigt anhand zahlreicher Beispiele (und 16 Schwarz-Weiß-Illustrationen) die sich im Laufe des langen 19. Jh.s wandelnden Synagogenbauweisen als Ausdruck der Emanzipation auf. Klaus Hermann gibt Beispiele für jüdische Reformgemeinden, die insbesondere durch Jérôme Napoleon, den König von Westphalen, gefördert wurden, und zeigt innerhalb der theologischen Literatur ihrer Vertreter, insbesondere David Friedländer, Nähen zur christlichen Neologie auf. Als wichtige Beigabe druckt Hermann erstmals die hebräische Fassung einer Nachdichtung des Chorals »Der Herr ist Gott« (im Original von Johann Andreas Cramer, 1723–1788) ab.
Ulrich Wyrwa vergleicht jüdische Wahrnehmungen des Antisemitismus in Italien und in Deutschland während des 19. Jh.s, deren unterschiedliche Ausprägung er in der unterschiedlichen Rolle des Liberalismus und seiner »Hegemonie […] über die politische Kultur und das öffentliche Leben in Italien sowie in der spezifischen Situation der katholischen Kirche im neuen Nationalstaat« verortet (265). Uwe Puschner stellt Ausprägungen des »völkischen Antisemitismus« und hier insbesondere Adolf Bartels (1862–1945) vor, dessen Wirken eine wichtige Wegbereiterfunktion für den Nationalsozialismus zukam.
Bei dem Beitrag von Gertrud Pickhan über den Begriff des »Ostjudentums« in der Literatur der zweiten Hälfte des 19. und der 1. Hälfte des 20. Jh.s handelt es sich um einen Wiederabdruck eines bereits 2015 veröffentlichten Beitrags. In die Gegenwart hinein ragt schließlich Andreas Nachamas Überblick über die Geschichte der jüdischen Gemeinde Berlins.
Wie der knappe Überblick zeigt, handelt es sich um eher selektive Stichproben und Tiefenbohrungen im Gebiet »jüdischer Lebenswelten«; insbesondere die Lücke zwischen dem 7. und dem 16. Jh. sowie die geographische Zentrierung auf Europa bzw. in den meis-ten Fällen sogar Deutschland fällt ins Gewicht. Dennoch stellen die Beiträge je für sich gesehen wertvolle Zusammenfassungen des je­weiligen Forschungsstandes und mitunter auch Weiterführungen dar. Zudem wird deutlich, dass »Judentum« zu keiner Zeit in einem luftleeren Raum schwebte, sondern sich im fruchtbaren Austausch mit den zeitgenössischen Kulturen und Religionen seiner Umgebung befand.
Nicht verschwiegen werden darf jedoch ein schwerwiegender produktionstechnischer Einwand: Leider hat der Verlag die Herausgeber in Lektoratsdingen im Stich gelassen. Fast auf jeder Seite finden sich falsche Worttrennungen oder fehlende oder überzählige Leerzeichen; zudem fehlt einmal mindestens ein halber Satz (32), ein andermal wird auf eine nicht abgedruckte Literaturliste verwiesen (97); in einem Fall sind hebräische Wörter falsch herum gesetzt (50); die Orthographie wechselt von Beitrag zu Beitrag (und manchmal sogar in ein und demselben), ein Stilesheet wurde anscheinend nicht vorgegeben usw. Das mindert den Buchwert erheblich.