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Ausgabe:

April/2018

Spalte:

416–418

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Roser, Traugott

Titel/Untertitel:

Spiritual Care. Der Beitrag von Seelsorge zum Gesundheitswesen. 2., erweiterte u. aktualisierte Aufl.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2017. 565 S. m. 8 Abb. u. 3 Tab. = Münchner Reihe Palliative Care, 3. Kart. EUR 39,00. ISBN 978-3-17-021439-2.

Rezensent:

Simon Peng-Keller

Traugott Rosers Habilitationsschrift, die nun in erheblich erweiterter Form vorliegt, ist auch zehn Jahre nach ihrer Erstpublikation der umfassendste theologische Beitrag zum interdisziplinären Forschungs- und Praxisfeld Spiritual Care. Da der Kernbestand des Buchs schon von Ulrike Wagner-Rau rezensiert wurde (s. ThLZ 134 [2009], 507–509), beschränkt sich die vorliegende Besprechung auf die thematischen Erweiterungen und konzeptionellen Neuakzentuierungen. Angesichts der thematischen und materialen Fülle konzentriere ich mich auf drei Schlüsselfragen, in denen die neuen Akzente besonders greifbar werden: die vieldiskutierte Verhältnisbestimmung zwischen Spiritual Care und Seelsorge, die Klärung des Spiritualitätsbegriffs und die Methodik heutiger Seelsorgeausbildung und -forschung.
Hinsichtlich des Verhältnisses von Seelsorge und Spiritual Care kündigt sich bereits im neuen Untertitel eine leichte Verschiebung gegenüber der Erstauflage an. Lautete er ursprünglich »Ethische, organisationelle und spirituelle Aspekte der Krankenhausseelsorge«, so heißt es jetzt programmatisch: »Der Beitrag von Seelsorge zum Gesundheitswesen«. Damit wird signalisiert, dass »Spiritual Care« nicht in Abgrenzung zur Krankenhausseelsorge profiliert werden soll, sondern für diese in Anspruch genommen wird. Im ersten Satz des neuen Vorworts wird festgehalten, dass »Spiritual Care« ein »Organisationsbegriff« sei und zwar im Sinne der »Organisation gemeinsamer Sorge um die individuelle Teilnahme und Teilhabe an einem als sinnvoll erfahrenen Leben im umfassenden Verständnis« (15). Dass der Seelsorge innerhalb dieser gemeinsamen Sorge eine tragende Rolle zukommt (selbst wenn »Spiritual Care nicht im seelsorglichen Handeln auf[geht]« [16]), wird mit Blick auf ausgewählte Handlungsfelder (Lebensanfang, Transplantationsmedizin, Demenz) in vielfacher Weise konkretisiert.
In diesem Zusammenhang wird auch die gängige Beschreibung diskutiert, dass sich die Krankenhausseelsorge im »Zwischenraum« zwischen Kirche und Krankenhaus bewege, und im Rückgriff auf Michel Foucault topologisch umbesetzt. Dessen Konzepte der He­terotopie und der Heterochronie dienen einerseits dazu, die raumtransformierende Rolle der Seelsorge in Gesundheitsinstitutionen zu profilieren, wie sie sich in Praktiken wie der Taufe totgeborener Kinder und dem Krankenabendmahl in besonderer Weise manifestiert. Andererseits wird auf die genannten Konzepte zurückge-griffen, um Spiritual Care in seiner interprofessionellen Gestalt als eine (durchaus heterogene) Bewegung zu beschreiben, die innerh alb biomedizinisch und ökonomisch dominierter Organisationen »he­terotopische« Räume eröffnet. Die Seelsorge kann diese Räume besiedeln und mitprägen. Mit seinen vielfältigen Denkanstößen und Praxisreflexionen ist das Buch als ein Plädoyer zu verstehen, diese Gestaltungschancen kreativ zu nutzen und Mitverantwortung für eine interprofessionell getragene Spiritual Care zu übernehmen.
So sehr dieses Plädoyer überzeugt, lässt seine konzeptionelle Entfaltung einige Fragen offen. Wie exklusiv ist beispielsweise die Festlegung des titelgebenden Terminus auf einen »Organisationsbegriff« zu verstehen? Wenn »Spiritual Care« für das Anliegen steht, die spirituelle Dimension in die Gesundheitsversorgung einzubeziehen, betrifft das zweifellos auch organisationale Aspekte und institutionelle Fragen. Doch bedeutete es eine unnötige Eingrenzung, Spiritual Care auf diesen Aspekt festzulegen. Zu hinterfragen ist auch die gelegentlich vollzogene Identifikation von »Spiritual Care« mit einem bestimmten Konzept oder Ansatz. Theologie und Seelsorge sind gegenwärtig nicht nur mit einem einzigen Ansatz, sondern einer Vielfalt von Spiritual Care-Modellen konfrontiert, die unterschiedliche Chancen und Herausforderungen beinhalten.
Dieser Vielfalt ist das Buch dort auf der Spur, wo es im Horizont von Schrift und Tradition aktuelle Spiritualitätsdiskurse analysiert. Die in der ersten Auflage vertretene These, der Terminus »Spiritualität« habe sich über eine romanische und eine angelsächsische Traditionslinie im deutschen Sprachraum eingebürgert, wird nun mit Blick auf die jüngere Forschung stark relativiert. In den Vordergrund gerückt wird demgegenüber, dass in den Diskussionen innerhalb der WHO die Rede von der »spirituellen Dimension« auch mit gerechtigkeits- und gemeinschaftsorientierten Aspekten verbunden ist. Angesichts der anhaltenden Schwierigkeit begrifflicher Klärungsversuche wird für eine Doppelstrategie argumentiert. Zum einen bedürfe es in wissenschaftlicher Hinsicht weiterer begrifflicher Anstrengungen, um Spiritualität im Horizont der Gesundheitsversorgung als »autonome[n] Forschungsgegenstand« g reifbar zu machen. Wie mit Blick auf das Johannesevangelium gezeigt wird, kann die Theologie hier pneumatologische Sprach- und Denkformen einbringen: »In parakletischer Perspektive be­deutet Spiritual Care eine Sorge um ein Leben, das vom Geist Christi durchdrungen ist, aus der Kraft des nachösterlichen Geistes schöpft und damit in eschatologischer Perspektive zu verstehen ist.« (461) Wie verhält sich ein solches pneumatologisches Verständnis von Spiritual Care zu deren Festlegung auf einen organisationalen Begriff?
In pragmatischer Hinsicht wird zum andern empfohlen, »den Begriff der Spiritualität seiner begrifflichen Unschärfe nicht zu berauben und artifiziell zu verengen, damit er für die religiösen und nicht-religiösen Weltanschauungen der Patienten anschlussfähig bleibt« (454). Insofern sich die begriffliche Rede von anderen Sprachformen gerade durch präzise Ein- und Abgrenzungen unterscheidet, fragt sich jedoch, ob der Terminus in den betreffenden lebensweltlichen Kontexten (sofern er dort überhaupt auftaucht) tatsächlich als Begriff gebraucht wird. Handelt es sich nicht eher um einen metaphorischen Sprachgebrauch?
Neue Akzente finden sich auch in jenen Abschnitten, die forschungspragmatischen Fragen gewidmet sind. Das gilt insbesondere für das Kapitel über »Fallbericht oder Verbatim als Lern- und Forschungsmethoden«. Da das vorliegende Buch selbst häufig auf Fallberichte zurückgreift, stellt dieses Kapitel eine methodologische Selbstvergewisserung dar. Wie der Titel andeutet, handelt es sich nicht zuletzt auch um eine Stellungnahme zur klassischen Lehrmethodik der KSA. Im Zentrum steht die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen zweier Grundformen seelsorglicher Dokumentation: Fallbericht und Verbatim. Während der Fallbericht am Krankheitsverlauf orientiert sei, fokussiere die für Supervisionsgespräche entwickelte Methode des Verbatim auf das Verhalten der Seelsorgeperson. Dass die in den 1970er Jahren in Deutschland eingeführte und seither kaum weiterentwickelte Verbatim-Methode nur selten kritisch reflektiert worden sei, wird ebenso kritisiert wie die gängige Zweitverwendung solcher Seelsorgeprotokolle für Forschungs-, Lehr- und Prüfungszwecke. Die Anfragen betreffen zwei zu unterscheidende Aspekte. Zu überprüfen sei erstens, ob die Standards zur Wahrung des Seelsorgegeheimnisses hinreichend berücksichtigt werden. Zweitens sei zu klären, ob die herkömmliche Form des Gesprächsprotokolls für heutige Seelsorgeausbildung und -forschung noch geeignet ist. Um seine Präferenz für Fallberichte zu begründen, verweist R. auf die Anfänge der klinischen Seelsorgeausbildung: »Der Ursprung der Fallstudienarbeit bei Boisen und Cabot entspricht einem heutigen multiprofessionellen Ansatz; die Konzeption von Gesprächsprotokollen hat eine monoprofessionelle Ausrichtung und widerstrebt einer Weitergabe über einen begrenzten (durch das Amtsgeheimnis gesetzten) Personenkreis hinaus.« (71) R.s Forderung, die seelsorgliche Dokumentation neu zu reflektieren, berührt einen zentralen Punkt heutiger Seelsorgeausbildung und -forschung und verdient es, aufgenommen zu werden. Die These, dass bei Fallberichten das Seelsorgegeheimnis leichter zu schützen sei als bei Verbatims, bedürfte in diesem Zusammenhang einer näheren Begründung.
Dass das Buch neben einem soliden theoretischen Gerüst viele Fallberichte und eine persönliche Rückschau R.s enthält, macht es auch für die Lehre und Praxisreflexion geeignet. Gerade in der Unabgeschlossenheit seiner Erkundungen, die ein sich stark entwickelndes Feld spiegeln, regt es zur Diskussion und zum Weiterdenken an. Indem Perspektiven eröffnet werden, ohne dass ab­schließende Antworten angeboten werden, wird das in der Einleitung genannte Ziel, »schlichte Entgegenstellungen von Seelsorge oder Spiritual Care oder eine vereinfachende Auflösung von Seelsorge in Spiritual Care zu überwinden und damit Diskurse möglich zu machen« (17), in überzeugender Weise erreicht.