Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2018

Spalte:

412–414

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Noller, Annette

Titel/Untertitel:

Diakonat und Kirchenreform. Empirische, historische und ekklesiologische Dimensionen einer diakonischen Kirche.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2016. 477 S. m. 19 Abb. = Diakonat – Theoriekonzepte und Praxisentwicklung, 5. Kart. EUR 35,00. ISBN 978-3-17-028917-8.

Rezensent:

Thomas Zippert

Annette Noller ist Professorin für Diakoniewissenschaft sowie Theologie und Ethik in sozialen Handlungsfeldern an der Evangelischen Hochschule in Ludwigsburg. Sie legt mit diesem Werk den Ertrag einer mehrjährigen Forschungstätigkeit zum Diakonat vor. Als Habilitationsschrift am Diakoniewissenschaftlichen Institut der Universität Heidelberg ist es 2017 mit dem Wichern Sonderpreis der Diakonie Deutschland ausgezeichnet worden.
Verortet sind diese Forschungen dreifach: zum einen in ihrer Lehrverantwortung für die doppelt qualifizierte Diakonenausbildung an dieser Hochschule und im Rahmen der Konferenz der Ausbildungs- und Studiengangsleitungen DiakonInnenausbildung, de­ren stellvertretende Vorsitzende sie lange Jahre war, zum anderen im Württembergischen Projekt »Diakonat – neu gedacht, neu ge­lebt« (2008–2013), in dessen Veröffentlichungsreihe »Diakonat – Theoriekonzepte und Praxisentwicklung« das Werk den fünften und letzten Band darstellt, und schließlich im Kontext der Neubeschäftigung der EKD (nach beinahe 20 Jahren Pause) mit den »Perspektiven für diakonisch-gemeindepädagogische Ausbildungs- und Berufsprofile« (EKD-Texte 118, 2014). In dessen Folge haben einige Landeskirchen begonnen, das Verhältnis kirchlicher Berufe zum Pfarramt neu zu gestalten (u. a. die Nordkirche, die EKvW, die EKM, die EKKW, die ELKB). Einige Kapitel dieses Buches und viele Gedanken dieses Werks sind in diese Prozesse schon eingeflossen, aber hier deutlich erweitert und in den Gesamtkontext der gegenwärtigen Debatten um Kirchenreform gestellt worden, die sie aus der Fixierung auf Parochie und Parochus löst.
N. weist nach, wie sehr auch die »anderen« Berufe, Ämter und Dienste trotz mangelhafter Aufmerksamkeit seit Jahrhunderten wie heute den diakonischen (Teil-)Auftrag der Kirche verwirklichen (Kapitel 4). N. ruft ältere Forschung wieder ins Gedächtnis (Bernoulli, Philippi u. a.), fasst neuere zusammen und legt z. B. eine sehr erhellende Interpretation der Monbijou-Konferenz von 1856 samt aller ihrer Gutachten vor. In dieser umfassenden Zusammenschau der Geschichte dieses Amtes seit biblischen Zeiten verweist sie immer wieder auf Forschungslücken, insbesondere für die Geschichte des Diakonenamtes nicht nur in den Kirchenordnungen zwischen 16. und 19. Jh. samt Abgleich mit ihren jeweiligen Wirklichkeiten. Leider wertet sie einige neuere Forschungen zur Geschichte des Diakonats nicht aus, wie z. B. die Forschungen von G. Wenzel zu den Hugenotten, aber auch die von G. Heufert zu Johann Daniel Falk als Vorläufer der Rettungshausbewegung und Th. K. Kuhn zur Aufklärungszeit.
Stärker als dort füllt die Darstellung der aktuellen Ausbildungslandschaft in diesem Feld mit ihren 56 Ausbildungsstätten und ca. 1000 Absolventen und Absolventinnen pro Jahr (Kapitel 3.2, Kurzfassung in EKD-Texte 118, Kapitel 2.4.1) Lücken ebenso wie die Zusammenfassung ihrer empirischen Forschungsbeiträge zum Württembergischen Diakonats-Projekt (Kapitel 3.3) samt Ausbli-cken in die ökumenische und aktuelle deutsche Ämterdiskussion (Kapitel 5). Hier reflektiert N. im besten Sinne des Wortes Empirie und Theorie dieses anderen Amtes neben dem Pfarramt und zeigt, wie Diakone heute in intermediären und vernetzten Strukturen zwischen Kirchengemeinden, Kommunen, Diakonie und anderen Akteuren der Zivilgesellschaft arbeiten, sich selbst verstehen und darin einen sehr spezifischen Beitrag zum Leben von Kirche an »pluralen Orten« leisten (205 ff.; mit Bezug auf Huber, Hauschildt und Pohl-Patalong).
Am Ende führt N. dieses ganze Bündel an empirischen, historischen, ekklesiologischen und amtstheologischen Frageperspektiven zusammen und stellt den Diakonat dar als Beitrag zur diakonischen Gestaltung des Auftrags der Kirche an pluralen Orten (Kapitel 6.1). Ekklesiologisch begründet sie Diakonie so: »Die Ge­meinde dient Christus im Diakonat verborgen unter der Not des Nächsten, in Teilhabe-, Seelsorge- und Unterstützungsprozessen, in der Gemeinde, im Gemeinwesen, in Beratungssituationen, in Vesperkirchen und Tafelläden, in der Jugendarbeit und an Schulen und in ihren vielen diakonischen Diensten und Einrichtungen. Dieser Dienst ist allen Gläubigen aufgetragen. In der Berufung in das Amt des Diakons und der Diakonin werden Professionelle in besonderer Weise zu diesem Dienst beauftragt« (424 f.). In Auseinandersetzung mit aktuellen Entwürfen von zwei-, drei- oder viergliedrigen Amtsverständnissen und im Blick auf deren Diffusität bestimmt sie den Auftrag des DiakonInnenamtes folgendermaßen: »Der biblisch begründete Auftrag, der für alle Berufsgruppen im Diakonat gleichermaßen gilt, kann beschrieben werden als eine kirchliche Beauftragung zum Zeugnis der Liebe und Menschenfreundlichkeit Gottes in der Welt, die soziale Teilhabe ermöglicht und Wege der Reflexion und Kommunikation über Sinn und Transzendenz in sozialen und existenziellen Krisen eröffnet«, die in guten Werken bezeugt wird (420; vgl. 411.427 u. ö.). Das erforderte schon seit Jahrhunderten mehr als nur theologische Fachkompetenz – insofern sind heutige doppelte Qualifikationen (sozialberuf lich, gesundheitlich, pädagogisch) diesem Auftrag sachdienlich und inhärent; und das immer schon über die Organisation der Kirche hinaus – in den spätmittelalterlichen Armenordnungen ebenso wie in Wicherns drei Gestalten der Diakonie.
N.s Werk erweist sich als ein Beitrag, der in der württembergischen Kirche (aber nicht nur dort) »konstatierten Sprachlosigkeit« der Amtsinhaber »in der Darlegung ihres eigenen Amtes« (422) abzuhelfen. Durch ihre Verschränkung von Empirie, Kirchentheorie, Praktischer Theologie und Diakoniewissenschaft kann sie die »vernetzten Dienstaufträge« an unterschiedlichen pluralen Orten mit je unterschiedlicher Rationalität formulieren. Das führt zu einer modifizierten Differenzierung des kirchlichen Auftrags, zu der sie einen eigenen Vorschlag in Anlehnung an Fermor, Bubmann und Zippert entwickelt, um die Vielfalt der kirchlichen Funktionen und Aufträge – der sich verblüffend Calvins Ideen zum Amt annähert – mit der aktuellen, eher lutherisch dominierten Amts- und Ordinationsdiskussion nach CA V zu vermitteln (412–417). In der praktischen Umsetzung braucht das des Weiteren eine Rückbindung dieses schon seit Jahrhunderten an pluralen Orten intermediär tätigen Amtes sui generis (426–429.442 ff.) in die Strukturen der Organisation Kirche, wozu für N. nicht nur eine öffentliche Berufung und Repräsentanz, z. B. im Abendmahl als »Heimstatt der Diakonie« (31 mit Bezug auf Apg 6 und Lienhard; vgl. 434), gehört, sondern auch eine kirchliche »Ein- und Anbindung« in »multiprofessionellen Teams« (431). Diese tragen zu einem neuen Miteinander von Ortsgemeinden und anderen Gemeindeformen und Präsenzen in Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit bei und könnten die Konkurrenz der Berufsgruppen und Ämter durch deren »kompetenzorientierte Differenzierung« überwinden (433).
Auch wenn einige Fragen offen bleiben, wie z. B. nach dem Verhältnis zu gemeindepädagogisch orientierten Reformmodellen, zu der Funktion diakonischer Gemeinschaften und zur Stellung von Diakonen in diakonischen und nichtkirchlichen Organisationen, ist N. ein großer Wurf gelungen, der den notorisch unterschätzten und zu Unrecht übersehenen Diakonat mit aktuellen Fragen der Kirchenreform verknüpft und aufzeigt, was von diesem immer schon multirationalen, weil doppelt qualifizierten Amt in den hybriden Strukturen von Kirche erwartet werden kann.