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Ausgabe:

April/2018

Spalte:

409–411

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Albrecht, Christian, Hauschildt, Eberhard, u. Ursula Roth[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Pfarrhausbilder. Literarische Reflexe auf eine evangelische Lebensform.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2017.VIII, 283 S. = Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart, 22. Kart. EUR 59,00. ISBN 978-3-16-154766-9.

Rezensent:

Gunther Schendel

Wenn gegenwärtig vom evangelischen Pfarrhaus gesprochen wird, dann dominieren zwei Fragerichtungen und Perspektiven: Aus binnenkirchlicher Perspektive geht es um Fragen wie die Dienstwohnungspflicht für Pastorinnen und Pastoren oder um den Er­halt bzw. den Verkauf von Pfarrhäusern. Aus einer eher kulturwissenschaftlichen Perspektive steht die historische und symbolische Bedeutung des Pfarrhauses im Mittelpunkt; ein Beispiel dafür ist die Wanderausstellung »Leben nach Luther«, die in den vergangenen vier Jahren quer durch Deutschland unterwegs war.
Der vorliegende Band orientiert sich bewusst an der kulturwissenschaftlich-historischen Perspektive. Er versammelt Beiträge von Praktischen und Systematischen Theologinnen und Theologen, aber auch von Diakoniewissenschaftlern sowie einem Alttes­tamentler und einem Literaturwissenschaftler. Sie fordern, so die programmatische Eingangsformulierung des Münchener Praktischen Theologen Christian Albrecht, in der aktuellen »Pfarrhausdebatte« einen »theologisch konstruktiven Umgang mit den vielfäl-tigen kulturellen Aufladungen des Pfarrhauses« und halten die Orientierung an den »rein« pastoraltheologischen, bewohnerzentrierten Problemen »des Lebens in diesem exponierten Haus« für unzureichend (6). Steter Bezugspunkt der Beiträge ist das Pfarrhauskonzept des emeritierten Münchener Praktischen Theologen Wolfgang Steck, der im ersten Band seiner Praktischen Theologie das Pfarrhaus als »symbolische Lebenswelt« ausgeleuchtet hat (Steck, Praktische Theologie, 2000, 577). Der Sammelband geht auf Vorträge zurück, die Stecks »Freunde, Schüler, Kollegen und Weggefährten« im Jahr 2010 (!) bei einer Tagung aus Anlass seines 70. Geburtstags hielten (Pfarrhausbilder, V).
Nach der Einleitung von Christian Albrecht zeigt der Band ein buntes Kaleidoskop vielfältiger Pfarrhausbilder: Sie beginnen bei Luther und der lutherischen Perspektive auf das Pfarrhaus und die »bürgerliche Existenz des Pfarrers« (Reiner Preul, 11) und reichen über biographische und institutionsgeschichtliche Beiträge zur Wirkungsgeschichte des Pfarrhauses (zu Lessing sowie zur Diakonie) bis zur Schilderung des Pfarrhauses in Romanen des 19. und 20. Jh.s (Keller, Fontane, Raabe, Thomas Mann, Feuchtwanger, Johnson sowie drei ausgewählte Gegenwartsromane). Der Band schließt mit vier praktisch-theologischen Beiträgen, die sich den aktuellen Pfarrhausbildern aus ganz verschiedenen Perspektiven nähern: Bezugspunkt sind drei aktuelle Romane zu Pfarrpersonen (Ursula Roth), die landeskirchlichen Bauvorschriften der letzten Jahrzehnte (Jan Hermelink), die neuere praktisch-theologische Literatur (Uta Pohl-Patalong), insbesondere das Werk von Wolfgang Steck (Eberhard Hauschildt).
Das Thema, das sich durch alle Beiträge zieht, sind die zahlreichen Spannungen, die im Pfarrhaus gleichsam institutionalisiert sind. Christian Albrecht umreißt sie in seiner Einleitung: die Spannungsfelder von Glaube und Leben, von privat und öffentlich, »von Kunstsinn und Sinn für die Religion« (5). Nach Albrechts Worten ist das Besondere am Pfarrhaus jedoch, dass es das »Sinnbild« für die »Möglichkeit gelingender Vermittlung« dieser Pole darstellt (6); das gelte gerade aus Sicht der nicht-binnenkirchlichen Öffentlichkeit. Mit dieser These bewegt sich Albrecht erkennbar auf den Spuren von Wolfgang Steck. Steck hat in seiner Praktischen Theologie vom »Ende des Pfarrhauses« und vom Verlust seiner »produktiven Va­lenzen« gesprochen (Steck, 588), weil sich im faktisch gelebten Alltag die im Pfarrhaus zusammengehaltenen Pole auflösen. Nach Steck lebt die Idee des Pfarrhauses einerseits in den »Projektionen« und »Sinnbildern« weiter (589), wandert andererseits auch als Aufgabe zu den Pfarrpersonen, die dieses Spannungsfeld nun in persona repräsentieren (sollen). Hauschildt bringt diesen Prozess mit dem Begriff von der »Deinstitutionalisierung« auf den Punkt (262).
An diese These knüpfen zahlreiche der hier versammelten Beiträge an und setzen sich mit ihr auseinander. Wo dies passiert, gehen die Beiträge dann auch über das kultur- und theologiegeschichtlich Interessante hinaus und gewinnen Relevanz für die aktuelle Diskussion um die Zukunft des Pfarrhauses und des Pfarrberufs. Reiner Preul und Christian Bendrath rekurrieren auf die von Steck vorgenommene Verortung des Pfarrhauses zwischen Familie, Gesellschaft und Kirche und erinnern in ihren historischen Skizzen an die Potentiale, die sich daraus ergeben haben und auch heute noch ergeben können. Für Preul ist das Pfarrhaus »sichtbarer Ausdruck der Bürgerlichkeit von Pfarrern und Pfarrerinnen« (23); schon für Schleiermacher war die Pfarrfamilie ja ein Zeichen für ihre Gleichheit mit der Gemeinde und ein »Ansporn für gesellschaftliche und politische Interessen« (21). Wenn das Pfarrhaus heute seine Rolle als Begegnungsort mehr und mehr verliert, hält Preul es als Konzept dennoch für bedeutsam, und zwar so, dass seine Elemente »ganz in die Person des Pfarrers oder der Pfarrerin hineingenommen werden als einer Person mit weltoffener Bildung« (28). Einen anderen Akzent setzt Bendrath, wenn er die Bedeutung des Pfarrhauses für die Gründung der Diakonieunternehmen im 19. Jh. rekonstruiert und den Freiraum betont, den die Verortung »diesseits der kirchlichen Organisation«, nämlich in den »privaten Lebenswelten häuslicher Wohnkultur«, für die Etablierung einer eigenständigen Diakonie eröffnete (52). Hier klingt Stecks Unterscheidung zwischen »spezifisch kirchlichem Christentum« und einer gesellschaftlichen, auch im Privaten wurzelnden »Religionskultur« nach (nach Hauschildt, 260 f.).
Hier, in dieser Differenz zum kirchlichen Christentum bzw. zur Organisation Kirche, sehen dann auch einige Autoren ein weiterhin relevantes Potential des Pfarrhauses. Hauschildt und Hermelink verweisen auf die Widerständigkeit, die das Pfarrhaus schon allein als »Symbol« allen Versuchen entgegensetzt, die auf eine stärkere Bindung des Pfarrberufs an die Kirche bzw. auf seine Standardisierung abzielen (264, vgl. 243); hier klingt der Diskurs infolge des EKD-Reformpapiers »Kirche der Freiheit« nach.
Wie sieht es mit Ideen für die Weiterentwicklung des Pfarrhauses aus? Uta Pohl-Patalong markiert in ihrem Durchgang durch die (abgesehen von Stecks Beiträgen) erstaunlich schmale praktisch-theologische Literatur zum Pfarrhausthema zwei Pole der Diskussion: In der älteren Diskussion um 1980 (Manfred Josuttis, Dietrich Stollberg) spielte die Frage nach »Möglichkeiten eines alternativen Lebensstils im Pfarrhaus« und damit eine bestimmte, nur andere Vorbildhaftigkeit des Lebens im Pfarrhaus eine Rolle (248). Dagegen entlassen Nikolaus Schneider und Volker A. Lehnert in einem neueren Beitrag zur Pfarrbilddiskussion die Pfarrpersonen und damit auch das Pfarrhaus aus der Verpflichtung zur Vorbildlichkeit, weil ja die gesamte Gemeinde »Leib Christi« ist (255).
Interessant für die aktuelle Entwicklung des Pfarrhauses sind die drei Außenperspektiven, die Ursula Roth aus drei Romanen von Hanne Ørstavik, Dieter Wellershoff und Phil Rickman herausarbeitet: Der Umgang mit dem Pfarrhaus als Gebäude und Symbol reicht hier von »Fluchten aus dem Pfarrhaus« (219) über seine langsame Entde-ckung als »privater Rückzugsraum« bis zur Etablierung einer »patchworkartigen Wohngemeinschaft«, mit der das alte Familienideal kreativ verändert wird (224). Aufschlussreich ist allerdings Roths Hinweis, dass alle diese Romane ein »Pfarrhaus offline« (222) zeigen und damit trotz allem dem »bürgerlichen Pfarrhausideal« verbunden sind (224). Realität ist natürlich längst das Pfarrhaus online.
Insgesamt bieten die Beiträge dieses Sammelbands aufschlussreiche Perspektiven, gerade da, wo sie den Blick von außen einbeziehen. Sie zeigen Bilder des Pfarrhauses, die sich zwischen »De-institutionalisierung« und »Rekonzeptionierungen« (224) bewegen. Dass dieser Band erst sieben Jahre nach der Tagung erscheint, ändert nichts an der Bedeutung seines Ansatzes. Auch neuere empirische Untersuchungen haben die Bedeutung des Pfarrhauses als »Symbol« bestätigt (Katrin Hildenbrand, Leben in Pfarrhäusern, 2016); sie zeigen ein gegenwärtig wohl nicht auflösbares Nebeneinander einer an das Pfarrhaus gekoppelten Persistenz bestimmter heterotopischer Vorstellungen und der Verlagerung symbolischer Bedeutungen auf die Pfarrperson (siehe die Pfarrhausbefragungen aus dem Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD).