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Ausgabe:

April/2018

Spalte:

404–405

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Pally, Marcia

Titel/Untertitel:

Commonwealth and Covenant. Economics, Politics, and Theologies of Relationality.

Verlag:

Grand Rapids u. a.: Wm. B. Eerdmans 2016. 427 S. Kart. US$ 50,00. ISBN 978-0-8028-7104-6.

Rezensent:

Ulrich Schmiedel

Marcia Pally lehrt Multilingual Multicultural Studies an der New York University, ist in Deutschland aber auch als Gastprofessorin an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin bekannt. Mit Commonwealth and Covenant setzt sie ihre einschlägigen Studien zur Rolle der Religion(en) für die Gestaltung postsäkularer Gegenwartsgesellschaften fort.
Die Alternative zwischen »separability« und »situatedness«, vor der amerikanische und europäische Gegenwartsgesellschaften stehen, ist laut P. eine falsche Alternative, gegen die sie den Begriff der Relationalität ins Feld führt: »separability-amid-situatedness« (7). Menschen sind relational – Einzelne nur in der Gemeinschaft (Separiertheit) und nur in der Gemeinschaft Einzelne (Situiertheit). Aus dem Begriff der Relationalität, der Separiertheit und Situiertheit miteinander verknüpft, lassen sich laut P. aber nur dann Konsequenzen für die politische und ökonomische Gestaltung von Ge­genwartsgesellschaften ziehen, wenn er durch eine Ontologie der Relationalität beschrieben und bestimmt wird. Ohne Theologie ist das nicht zu machen: »I am proposing theologies of relationality as one such ontology – theologies that see us as distinct creatures sus­tained by relation« (8).
Im ersten Teil der Studie erläutert P., warum eine Ontologie der Relationalität wichtig ist. Sie analysiert Philosophien, die entweder für die Separiertheit des Menschen oder für die Situiertheit des Menschen plädieren, um zu zeigen, dass sich diese Einteilung nicht durchhalten lässt. Im Œuvre klassischer Individualisten wie etwa Thomas Hobbes, Adam Smith, Immanuel Kant oder John Rawls entdeckt sie Spuren der Situiertheit. Im Œuvre klassischer Kommunitaristen wie etwa Edmund Burke, Friedrich Schelling, Alexis de Tocqueville oder Alasdair MacIntyre entdeckt sie Spuren der Separiertheit. Dabei weisen P.s philosophiegeschichtliche Analysen auch auf epistemologische und ethische Probleme hin, die aus der ontologischen Übergewichtung von Separiertheit einerseits oder Situiertheit andererseits folgen. Ontologie ist also auf Relationalität angewiesen, um Individualismus und Kommunitarismus gleichermaßen zu entkommen.
Im zweiten Teil der Studie geht P. deshalb auf Theologie(n) ein, die eine Ontologie der Relationalität erhärten können. Ohne An­spruch auf Vollständigkeit zu erheben – ein Anspruch, der sich angesichts des enormen Spektrums, das ihre Studie abdeckt, auch nicht einlösen ließe – zeigt P., wie sich der Gedanke der Relationalität durch jüdisches und christliches Denken in Geschichte und Gegenwart zieht. Grundlegend ist der Begriff der Gottebenbildlichkeit, den P. über Thomas von Aquins analogia entis bestimmt. Mit diesem Begriff lässt sich Relationalität von der Theologie auf die Anthropologie und von der Anthropologie auf die Theologie übertragen: Geschöpfe sind relational, weil Gott relational ist und Gott ist relational, weil Geschöpfe relational sind. Auf dieser Be­griffsbestimmung von Gottebenbildlichkeit aufbauend, analysiert P. die Bedeutung der Relationalität für Theologie, Soteriologie, Christologie, Eschatologie und Ekklesiologie. Gesprächspartner, die bei der Lektüre wieder und wieder begegnen, sind Dietrich Bonhoeffer, Jürgen Moltmann, Glen Stassen, Miroslav Volf, Robin Lovin, Stanley Hauerwas, John Milbank, Richard Kearney und Catherine Keller.
Was sich durch die Gespräche zieht, ist der Gedanke des Bundes, den P. aus jüdischem und christlichem Blickwinkel als »The Möbius Strip« (192.250) beschreibt. Wie eine Möbiusschleife, bei der man nicht zwischen oben und unten unterscheiden kann, lässt sich die Relation des Menschen zu Gott nicht von der Relation zu Gottes Geschöpfen und die Relation des Menschen zu Gottes Geschöpfen nicht von der Relation zu Gott trennen – kein oben und kein unten. Dass die Relationen des Menschen zu Gott und Geschöpf ineinander verschränkt sind, provoziert laut P. die Verbindung von Ethik und Dogmatik. Dabei fasst sie Ethik nicht als Konsequenz der Dogmatik (und Dogmatik nicht als Konsequenz der Ethik) auf, sondern ordnet beide zirkulär an: Dogmatik formt Ethik und Ethik formt Dogmatik. Diese Anordnung läuft auf ein Plädoyer für »communities of trust« hinaus (306) – Gemeinschaften des Vertrauens, in denen »standards of reciprocal consideration-worthiness substantially conducive to human flourishing« theoretisch entwickelt und praktisch eingeübt werden können (336).
Im dritten Teil der Studie fasst P. Ontologie und Theologie schließlich zusammen, bevor sie auf politische und ökonomische Maßnahmen zu sprechen kommt, die sich daraus ableiten lassen. Es geht ihr um mehr als eine Ontologie unter anderen. Dass der Gedanke der Relationalität in Philosophie und in Theologie so verbreitet ist, spricht laut P. dafür, dass Menschen relational sind. Relationalität ist conditio humana. Aber das wird in der politischen und ökonomischen Organisation von Gegenwartsgesellschaften nicht berücksichtigt. P. diskutiert deshalb eine Reihe konkreter Maßnahmen, die Relationalität in den Mittelpunkt gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenlebens stellen. Diese Maßnahmen zielen auf eine Ausrichtung der Marktwirtschaft auf das Gemeinwohl, die nicht den Einzelnen über die Gemeinschaft oder die Gemeinschaft über den Einzelnen stellt, sondern beide einander zuordnet. »This approach would not change market relations [...] but would change relations within the market, prioritizing them« (345). Dass diese Maßnahmen nicht umgesetzt werden, ist vor dem Hintergrund der Bedeutung von Relationalität für das Zusammenleben von Menschen erstaunlich: »we need a way back to the evolutionary, ontological, and theological principle of di­s­tinction-amid-relation – to an ontology where the proposals above do not look naïve [...] but rather reasonable for short- and long-term development« (351).
Insgesamt deckt P.s Studie ein atemberaubendes Spektrum philosophischer und theologischer Quellen ab, die für Ontologien und Theologien der Relationalität in Anspruch genommen werden können. P.s Argumentation ist in der Analyse und in der Synthese von gegensätzlichen Positionen gleichermaßen überzeugend, ge­rade dort wo sie über konfessionelle und kulturelle Grenzen hinausgeht. Kritik, die sich an den Details von P.s Interpretationen der Klassiker der Philosophie- und Theologiegeschichte vielleicht ab und an äußern ließe, würde die Absicht ihrer Studie verkennen. P. geht es um mehr als um Ideengeschichte. Ihre Studie ist ein systematisch-theologischer Entwurf, der dogmatisch und ethisch Position bezieht. Fragen ließe sich aber durchaus nach der Auswahl der Klassiker, die sie als Gesprächspartner für diese Position ins Feld führt.
Dass die Theologien der Erfahrung, die im Gefolge von Friedrich Schleiermachers Reden Über die Religion erarbeitet wurden, kaum zu Wort kommen, ist schade. Schließlich hätten diese Theologien dabei helfen können, den Zusammenhang zwischen der Relation des Menschen zu Gott und der Relation des Menschen zum Ge­schöpf erfahrungstheoretisch zu erklären. Aber auch ohne diese Erklärung hat P. ein ambitioniertes und ausgezeichnetes Plädoyer für Relationalität in Ontologie und Theologie vorgelegt. Wer sich in Zukunft mit der Beziehungshaftigkeit des Menschen be­schäftigen möchte, kommt an diesem Plädoyer nicht vorbei.