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Ausgabe:

April/2018

Spalte:

401–402

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Markschies, Christoph

Titel/Untertitel:

Aufbruch oder Katerstimmung? Zur Lage nach dem Reformationsjubiläum.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Kreuz Verlag 2017. 160 S. Geb. EUR 16,00. ISBN 978-3-946905-09-7.

Rezensent:

Ulrich H. J. Körtner

Halbleeres oder halbvolles Glas? Auf diese Formel bringt Christoph Markschies die unterschiedlichen und durchaus gegensätzlichen Sichtweisen zu Verlauf und Ertrag des Reformationsjubiläums 2017. Manche Bilanz wurde ja schon gezogen, während die Jubiläumsaktivitäten noch im vollen Gange waren, von Journalisten ebenso wie von renommierten Theologen, Kirchen- und Profan-historikern. Der öffentliche Streit zwischen dem Theologischen Vizepräsidenten der EKD Thies Gundlach und einigen von ihm namentlich kritisierten Theologen gehört ebenso ins Bild wie die kaum überraschenden Erfolgsmeldungen kirchlicher Pressestellen. Für eine umfassende Auswertung des Jubiläums ist es gewiss noch zu früh, dennoch wagt auch M., selbst einer der wichtigen kirchlichen und wissenschaftlichen Akteure und auch öffentlich in der Schusslinie mancher Fachkollegen, eine erste Bilanz.
Für ihn ist, um im Bild zu bleiben, das Glas mehr als halbvoll, zieht er doch eine positive Gesamtbilanz. Alles Geld und alles Engagement, das man in die Feierlichkeiten investiert habe, sei »gut angelegt« (89) gewesen. Kritiker des Jubiläumsbetriebs kommen unter dem Strich zu einem völlig gegenteiligen Ergebnis, auch was den theologischen Ertrag betrifft. Manche werfen die bohrende Frage auf, ob das Jubiläum nicht ein Indiz für eine Grundlagenkrise reformatorischer Theologie und Kirche sei, vielleicht sogar für das Ende des Luthertums (so z. B. Benjamin Hasselhorn). So weit möchte M. nicht gehen, wenngleich er am Ende seines lesenswerten Büchleins, das interessante Einblicke in die Vorbereitung und den Verlauf der verschiedenen Jubiläumskonzeptionen, in die Zu­sammenarbeit der unterschiedlichen Akteure wie auch zur Deutung der teilweise entstandenen Spannungen und Konflikte gibt, doch selbst in acht Thesen sehr grundsätzliche Fragen zur Zukunft des Protestantismus und seinen theologischen Grundlagen formuliert.
Zu Recht verteidigt M. das Anliegen, die Erträge der Reformation – durchaus nicht unkritisch – für die Gegenwart fruchtbar zu machen, statt durch einseitige Historisierung immer nur einen garstig breiten Graben zwischen den Reformatoren und uns Heutigen aufzureißen. Mit guten Gründen rechtfertigt M. die Kooperation mit staatlichen Stellen wie auch die Entscheidung der EKD, das Freiheitsthema in den Mittelpunkt des Gedenkens zu rücken (24 f.). Wie M. von der Kirche her Theologie zu treiben, muss allerdings nicht bedeuten, vorbehaltslos zum Apologeten der EKD zu werden. Im Unterschied zu M. lässt sich beispielsweise der Hildesheimer Versöhnungsgottesdienst (vgl. 76 ff.) auf reformatorischer Grundlage kritisieren, ohne deshalb der Ökumene den Rücken zu kehren. Ob man wirklich von substantiellen ökumenischen Fortschritten sprechen darf, darüber sind die Meinungen schließlich auch unter katholischen Kirchenvertretern und Theologen geteilt. M. neigt zu einer eher wohltemperierten Sicht der Dinge.
Der wissenschaftliche Streit um die angemessene Deutung der Reformation und ihre Potentiale für die Gegenwart spiegelt die in den letzten 20 Jahren entstandene theologische Debattenlage wider, die M. richtigerweise als Neuauflage der Konfliktkonstellation zwischen liberaler Theologie und Wort-Gottes-Theologie am Beginn des 20. Jh.s beschreibt (48). M. steht erkennbar in der Tradition von Barth und Barmen und verhehlt nicht sein Befremden darüber, wie man sich für die Forderung nach einer fundamentalen Umformung des Protestantismus immer noch oder wieder auf Leute wie »den zutiefst nationalsozialistisch kontaminierten Göttinger Theologen Emanuel Hirsch« (49) berufen kann.
M. erinnert an den nach Luther bestehenden kategorialen Un­terschied zwischen Reform der Kirche und Reformation, die allein das Werk Gottes und nicht des Menschen ist, sowie an Barths kongeniale Interpretation der von ihm selbst geprägten Formel von der ecclesia semper reformanda (123 ff.). Soll das Reformationsjubiläum nicht verpuffen, müssen Theologie und Kirche nach M.s Überzeugung »bei der Bibel und ihrer lebensorientierenden Kraft beginnen« (129) und es wagen, im biblischen Sinne von Gott zu reden. Ein zentrales Problem von Theologie und Kirche sieht M. freilich in einem Mangel an Sprachfähigkeit und in einer Krise der Glaubenssprache. Er erinnert an die bekannten Sätze Bonhoeffers, der die Kirche seiner Zeit wieder ganz auf die Anfänge des Verstehens zurückgeworfen sah (132 f.).
Wer diese Einschätzung der Lage ernsthaft teilt, lässt sich wohl nicht so leicht von der Aufbruchsstimmung in den kirchlichen Echokammern anstecken, sondern wird die Aufgabe für Theologie und Kirchen darin sehen, auf Gottes Zeit und Einbruch zu warten, wie es doch dem von M. in Erinnerung gerufenen theologischen Sinn des Wortes Reformation entspricht. Inständiges und tätiges Warten ist freilich auch ganz etwas anderes als Katerstimmung, weil es – ermutigt vom Erbe der Reformation und seinen Prägekräften – von Hoffnung und Zuversicht getragen ist.