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Ausgabe:

April/2018

Spalte:

396–399

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Thurner, Martin [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Freiheit. Begründung und Entfaltung in Philosophie, Religion und Kultur.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017. 230 S. m. 1 Abb. = Eugen-Biser-Lectures, 3. Geb. EUR 40,00. ISBN 978-3-525-56026-6.

Rezensent:

Matthias Heesch

Spätestens die teilweise inflationäre Verwendung des Begriffs Freiheit im Zusammenhang der Reformationsfeierlichkeiten des Jahres 2017 war geeignet, die Frage danach, was jenseits solcher Verlautbarungen unter dem Wort Freiheit zu verstehen sein könnte, verstärkt auf die Tagesordnung zu bringen. Neben der Tendenz zu terminologischen Unklarheiten, die sich mit dem Grad angestrebter Öffentlichkeitswirksamkeit offenbart verstärkt, ist eines der grundlegenden Probleme, dass das Wort Freiheit in unterschiedlichen Kontexten Unterschiedliches bedeutet. Dem entspricht die Tatsache, dass in unterschiedlichen Wissenschaften mit dem Begriff Freiheit offensichtlich ebenfalls Unterschiedliches, jedenfalls Aspektverschiedenes, gemeint ist. Deswegen macht es Sinn, einen Klärungsversuch zum Thema Freiheit als interdisziplinäre Sammlung verschiedenartiger Herangehensweisen anzulegen, wie es der nachfolgend zu besprechende Band unternimmt.
Eine Gruppe der in dem Band versammelten Aufsätze behandelt unter verschiedenen Gesichtspunkten das Problem von Freiheit und Determiniertheit des Handelns: Die ersten beiden Beiträge (J. Nida-Rümelin: 9–29; K. Gloy: 31–47) stecken in gewisser Weise den Rahmen ab, in dem die Auseinandersetzung mit dem Gesamtthema des Bandes, insbesondere aber eben mit der Determinismus-Problematik, zu führen ist, wobei zentral natürlich die Gegenwartsbedeutung des Begriffs bzw. Phänomens Freiheit ist. Andererseits ist aber auch der ständige Seitenblick auf die Geschichte des Nachdenkens über Freiheit bzw. auf die Geschichte von deren Be­hauptung, Begrenzung und Bestreitung wichtig.
Der erste Beitrag von J. Nida-Rümelin plädiert für einen ontologiefreien und deswegen unaufgeregten Realismus in Sachen Freiheit (24). Möglich ist dieser Realismus, weil man von einer naturalistischen Unterbestimmtheit unserer Deliberationen ausgehen kann, d. h. man kann zwar alle möglichen physiologischen, psychologischen oder sozialen Bedingungen konkreten Freiheitsgebrauchs benennen, aber diese Benennungen führen an das komplexe seelische und weltbezogene Geschehen, zumal des Freiheitsgebrauchs im Einzelnen, nur bedingt heran (24). Daraus ergibt sich auch die Verantwortung für Handlungen (26). Angesichts der Tatsache des Beanspruchtwerdens von Freiheit und der Zuweisung von Verantwortung erweisen sich die Diskussionen über deren Wesen und Begründetheit als relativ abstrakt.
Die wechselvolle Geschichte des philosophischen Freiheitsbegriffs wird, wie der Beitrag von K. Gloy ausführt, in gewisser Weise theologisch überboten und überwölbt durch die jüdisch-christliche Begründung der Freiheit aus der einzigartigen Gottesbeziehung des Menschen (40 f. u. ö.). Deren modernes Fraglichwerden führt zu neuen Diskussionen: Finalistische Annahmen lassen sich allenfalls als problematische Hypothesen in einem naturwissenschaftlich grundgelegten Weltbild unterbringen (45 f. u. ö.), unter naturalistischen Prämissen ist aber eine durchgängige Bestimmtheit (und damit Unfreiheit) des Psychischen plausibler (46 f.). Die Frage ist allerdings, ob es sich hierbei wirklich um einen strengen Determinismus handeln muss, oder ob man nicht die kaum zu bestreitenden natürlichen Wirkungszusammenhänge des willentlichen Handelns eher als eine Art Potential zum Handeln zu verstehen hat (47).
Im Sinne eines begrenzten Zulassens bzw. Für-unabweisbar-Haltens von Freiheit lässt sich auch der Beitrag von K. H. Witte (91–113) verstehen, der eine psychotherapeutische Perspektive in die Diskussion einbringt: Freiheit ist ein offener und unverfügbarer Prozess, aufgrund dessen man mit seinem Selbst übereinstimmen darf (110). Sie hat also Widerfahrnischarakter (103 u. ö.) und ist deswegen mit mystischer Erfahrung vergleichbar (99–102 u. ö.). Allerdings kann die Therapie sozusagen auf Kristallisationspunkte hinweisen, an denen sich freiheitsermöglichende Erfahrungen und Selbstentwürfe bilden können (105). Der den Aufsatz methodisch tragende ständige Vergleich solcher Erlebnisse mit der Mystik Meister Eckharts ist zwar einerseits erhellend, andererseits aber wegen der pragmatischen Perspektive auch etwas gesucht: Das Zusammenspiel von Kontingenz und Methode in einer gelingenden Therapie und verdankte Freiheit als deren Ergebnis hätten sich gegebenenfalls auch ohne Verweis auf die Mystik Eckharts darstellen und analysieren lassen. Immerhin deutet der Beitrag im Sinne eines Nebenergebnisses an, dass Eckharts Gedanken, vor allem die aus ihnen abzuleitende Begrenzung von Freiheit bei deren gleichzeitiger Behauptung, gegebenenfalls eine ihren Epochenzusammenhang überschreitende Bedeutung haben könnten. Dies im Einzelnen darzutun, wäre freilich Aufgabe weiterer Überlegungen.
Zu vergleichbaren Ergebnissen – bei ganz anderer Argumentationsweise – kommt W. Singer (125–138): Singer geht davon aus, dass die moderne Hirnforschung grundsätzlich die wesentliche Bestimmtheit psychischer Zustände durch Hirnprozesse dargelegt hat (127 f.). Diese Prozesse sind aber komplizierte konstruktive Leistungen, die sich nicht auf einfache materialistische Deutungen reduzieren lassen (129–131), und die durch immer neue und außenweltangepasste Vernetzungen eine Ebene zustande bringen, auf der Wirklichkeit nicht nur handhabbar wird, sondern auch reflektiert werden kann (131–133). Schließlich ergibt sich auch die Emergenz der sozialen Realität von Freiheit (137): Es kommt zur Steuerung psychischer Prozesse und Interaktion durch Phänomenzusammenhänge der Lebenswelt, die sich nicht unmittelbar aus materiellen Prozessen ableiten lassen, so wenig sie ohne diese materiellen Prozesse denkbar sind (136 u. ö.). Die Hirnforschung führt also auf den Gedanken einer relativen Freiheit, die sich aus einem Schichtenaufbau des Psychischen ergibt, dessen Grundlage hirnorganische Prozesse sind, dessen oberste Schicht aber reflektierte Teilhabe an der komplexen Lebenswelt ist.
Die Thematik von Eigenwesen und Begrenzung von Freiheit wird aus ju-ris­tischer Sicht von dem früheren Verfassungsrichter P. Kirchhof behandelt (173–180): Das Recht im demokratischen Rechtsstaat ist Ausdruck und Mög­lichkeitsgrund von Freiheit, kann dies aber nur sein, wenn es sich im Sinne dieser Zielsetzung auch begrenzt. Der ehemalige Finanzminister Th. Waigel widmet sich in seinem Beitrag dem Zusammenwirken von wirtschaftlicher Freiheit und ordnungspolitischer Rahmensetzung als Voraussetzung sozialer Marktwirtschaft (115–124).
Weitere Aufsätze im Band behandeln die Problematik der interkulturellen Gültigkeit und auch des geschichtlichen Wandels von Freiheitsnormen, so der Aufsatz von P. Antes (139–152): Freiheit ist demzufolge ein, wenn auch mit erheblichen Modifizierungen, interkulturell begegnendes ethisches Gut. In einigen Kulturen hat sie allerdings die Implikation, Freiheit vom Selbst zu sein, so insbesondere im Buddhismus (149–152), während es in anderen Religionen, etwa im Islam, entweder um persönliche Verantwortung (143) oder um die, innerweltliche Differenzen (auch ethische Differenzen) relativierende, Freiheit des mystisch erfahrenen Gottes geht (144 f.). Der Aufsatz deutet also die sach-liche Spannweite des Freiheitsbegriffs bzw. seiner Äquivalente in anderen Kulturen an.
In mehr geschichtlicher Hinsicht versucht dies der Aufsatz von W. Speyer über das Freiheitsverständnis der Antike (49–81). Nach Überlegungen zum Freiheitsverständnis im griechischen Mythos (54–56), in altorientalischen und altgriechischen Staaten (56–62) und in der römischen Politik (62–72) werden Freiheitsdeutungen in der Philosophie der Antike dargestellt. Dabei geht es etwa um die Beziehung zwischen dem Handeln des Schicksals bzw. der Götter und dem der darauf angewiesenen Menschen: Diese wählen aus dem, was sich bietet. Die Götter sind schuldlos an allem, was daraus (insbesondere an Üblem) erwächst. Der Mensch ist in einen Verantwortungshorizont gestellt, dem er nicht entrinnen kann und der nur sehr bedingt durch seine Freiheit beeinflussbar ist (78). Wegen dieser Thematik ist der Aufsatz zwar einerseits kulturgeschichtlich orientiert, andererseits aber auch mit dem Thema des Eigenwesens und der Begrenzung von Freiheit befasst, das in der zuerst besprochenen Gruppe von Aufsätzen leitend ist.
Eine dritte Gruppe von Beiträgen versucht eine Systematik des Freiheitsgedankens: Das jüdische Freiheitsdenken beruht, wie der Beitrag von W. Homolka (193–201) darstellt, auf dem Gedanken einer von Gott erschlossenen ursprünglichen Handlungsfreiheit, die faktisch – nicht normativ – auch potentiell destruktive Aspekte haben kann, die aber eben konstruktiv umzulenken sind (197 f.). Daher ist der Mensch mit seiner bedingten Freiheit zugleich in die ethische Verantwortung gestellt. Die moderne jüdische Religionsphilosophie arbeitet diese Grundeinsicht im Sinne einer allgemeinmenschlichen Gegebenheit bzw. Grundnormativität aus (198–201).
Noch deutlicher in Richtung einer systematischen Ausarbeitung des Freiheitsgedankens gehen die Beiträge von G. Dischner (153–171) und H. Häring (203–224). Beiden im Einzelnen sehr unterschiedlich argumentierenden Aufsätzen gemeinsam ist das Betonen der Unverrechenbarkeit von Freiheit. Dies geschieht im Sinne der Unverrechenbarkeit und des utopischen Überschusses der Freiheit im ästhetischen Handeln (166–170 u. ö., Dischner). Für H. Häring liegt dieses unverrechenbare Moment dagegen in emanzipatorischen Prozessen (212–214), die die Beschädigung christlichen Freiheitsdenkens durch den Autoritarismus eines Augustin oder Luther (die andererseits wieder für christliches Freiheitsdenken Grundlegendes geleistet haben) einer Heilung zuführen können (219–222, vgl. auch die Schlussbilanz, 222–224). Beide Aufsätze betonen in gewisser Weise die Offenheit, ja Irrationalität von Freiheit. Und beide Beiträge richten sich in gewisser Weise gegen feste, oder jedenfalls (nach Meinung der Autoren): allzu feste, Ordnungen. Damit deutet sich ein zentrales Problem an, dessen systematische Erfassung sich im Wesentlichen auf die, freilich mit eingeschränkten Materien wie der Rechts- bzw. Wirtschaftsordnung befassten, Aufsätze von Kirchhof und Waigel beschränkt: dass nämlich Freiheit nur durch stabile Rahmensetzung möglich wird, und dass Freiheit als Inbegriff menschlicher Möglichkeiten eben nur sehr eingeschränkt kreativ ist. Rahmensetzungen – auch gelingende Rahmensetzungen – haben also immer etwas Repressives und zugleich Konstruktives. Freiheit gerät damit in den Bereich des tendenziell Widersprüchlichen. Das Deutungspotential, das gerade die Theologie in diesem Zusammenhang haben könnte, wird in den Beiträgen des Bandes wenig genutzt, am ehesten noch in den religionsphilosophischen Überlegungen von W. Homolka.
Das wirkt sich dann etwa aus, wenn ein in dem Band vorhandener Beitrag zur ärztlichen Suizidassistenz (191–192, G. Marckmann, übrigens der einzige Beitrag, der sich mit einem begrenzten und konkreten Problem auseinandersetzt) die bedingte Zulassung ärztlicher Suizidassistenz im Rahmen einer Wohltunsverpflichtung (191) in Erwägung zieht. Aber die grundlegende Frage nach der Verfügung des Menschen über sich selbst wird kaum thematisiert. Diese Frage würde einen – im weitesten Sinne – metaphysischen Rahmen verlangen. Jedenfalls soweit Theologie und Philosophie einen solchen argumentativen Rahmen zur Verfügung stellen könnten, unterbleibt dies weitgehend (nicht nur in dem vorliegenden Band). Somit können sich auch konkretere Perspek-tiven auf Einzelprobleme nicht auf solche Vorleistungen beziehen.
Alles in allem handelt es sich um einen Band, der die gegenwärtige Diskussion um das Thema Freiheit vielschichtig und nachvollziehbar abbildet. Abgebildet werden aber auch die Defizite, die diese Diskussion aufweist: Sie tendiert zu einem Pragmatismus, der ignoriert, dass, wie das Rechtsleben auf die Rechtsordnung und das Wirtschaftsleben auf die Wirtschaftsordnung, so das Leben überhaupt auf die Ordnung der Wirklichkeit angewiesen ist. Die Wissenschaft von dieser Ordnung ist, so überholt das klingen mag, die Metaphysik – die, wenn auch in unterschiedlicher Hinsicht, in der gemeinsamen Verantwortung von Theologie und Philosophie steht. Auf diesem Feld ist die Weiterarbeit zu leisten. Hierzu könnte der – in dem was er bietet – durchaus instruktive und lesenswerte Aufsatzband anregen.