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Ausgabe:

April/2018

Spalte:

392–394

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Espinet, David, Keiling, Tobias, u. Nikola Mirkovi [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Raum erfahren. Epistemologische, ethische und ästhetische Zugänge.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2017. VIII, 250 S. Kart. EUR 59,00. ISBN 978-3-16-154931-1.

Rezensent:

Otmar Meuffels

Ein Raum möchte ausgemessen werden, um in verschiedenen Perspektiven Objekte in Distanz und Nähe zu betrachten. Dazu bieten sich in der vorliegenden Veröffentlichung fünfzehn Beiträge im Rahmen eines Sonderforschungsbereiches »Muße. Konzepte, Räume, Figuren« der Universität Freiburg. Hintergrund aller Reflexionen ist der neue Ansatz von Günter Figal (Unscheinbarkeit. Der Raum der Phänomenologie, Tübingen 2015), um zugleich die Voraussetzungen dieser Überlegungen bei Husserl, Heidegger, Lévinas und Richir zu analysieren, woraus sich neue Denklinien ergeben können. Die Artikel befinden sich auf einem hohen Niveau, zudem werden politisch-geschichtliche und musikalische Reflexionen als Räume eigens interpretiert. Allerdings ist eine formale Leerstelle zu notieren, da die jeweiligen Autoren bzw. Autorinnen in keiner Weise biographisch und in ihrem Fachbereich vorgestellt werden. Ebenso fehlt ein Stichwortregister. Abgesehen von dieser Kritik eröffnen diese Artikel Diskussionen, die die Voraussetzungen von Reflexionen im erfahrenen Spannungsraum von Subjekt, Objekt und Kontext mit räumlichen und zeitlichen Distanzen und Nähen thematisieren, was auch alle theologisch-interessierten Leser ansprechen dürfte. Nach formaler Beschreibung dieses Publikationsraumes ist nunmehr der Inhaltsraum mit Hilfe von acht Artikeln vorzustellen, und dies in verschiedenen Perspektiven zu sichten.
John Sallis bedenkt die Einbindung eines wahrnehmenden Subjektes in einem Zwischenraum, worin etwas erscheint, aber – im Blick auf Figal und Platon – wird ein unsichtbarer Raum vor dem Raum (Chora) benannt, der sich niemals selbst, sondern nur durch Gegebenheiten zeigt.
Markus Gabriel misst aus das Verhältnis von Raum und Feld: Zunächst wird das Primat des Raumes mit Heidegger begründet, indem im Raum die differenzierten Tatsachen existieren können, worin sich logische Formen in differenzierter Verkettung zeigen (vgl. 17 f.). »Das Primat des Raumes besteht in einer begrifflichen Ordnung: ohne Verortung von Gegenständen in ihrem logischen Raum könnten wir nicht annehmen, dass unsere Aussagen auf sie zutreffen können.« (19) Weiterhin können in kontextuellen Feldern (mit Kant) durch Sinnpotenzen bestimmte Objekte in einem Pluralismusgebiet bestimmt werden, wodurch sich zugleich eine eigene Perspektive ausbildet. Dabei wird »überhaupt nicht ersichtlich, wie ein metaphysischer Reduktionsschluss sui generis aussehen könnte« (23): Es ist vielmehr entgegen erfahrungstranszendentalen Anwendungsbedingungen und entgegen einer Vereinheitlichung der Sinnfelder (hier die theologische Letztbegründungsfrage) eine perspektivische Lebenspraxis im Zusammenhang differenzierter Sinnfelder auszuloten (vgl. 25, Anm. 31; vgl. 29).
Alexander Schnell interpretiert die Phänomenologie und Raumkonstitution von Marc Richir (1943–2015, Brüssel u. Paris), indem der »Abstand des Selbst zu sich selbst« (34) eine Alterität eröffnet: zu Diskursebenen mit Artikulierungen und Aneignungen. Bei der Differenzierung von Leib und Leibkörper zum Zweck des Sinnaustausches zeigt sich ein Raum-»Milieu« des Übergangs von Leib/ Körper zur Chora (primordialer Ur-Raum) in Nähe und Nicht-Übereinstimmung: Die Konstitution des Raumes liegt darin, »dass die ursprüngliche Räumlichkeit keine objektive, subjektunabhängige und leib-ungebundene Dimension ausmacht, sondern in eine Ebene hineingenommen werden muss, die von ihm als ›Ur-Räumlichkeit‹, transzendentaler ›Schoß‹ oder ›Urleib‹ bezeichnet wird« (45), um in der Konstitution des Raumes zugleich im Übergang von Chora und Leib/Körper (Distanz-Nähe) eine fixierende Funktion in der Äußerlichkeit zu realisieren. Bei diesen gleichsam transzendentalphilosophisch-mystischen Überlegungen würden Theologen diese Reflexionen anders gründen, nämlich im »Raum der trinitarischen Agape-Beziehungen« von Nähe und Distanz als Communio, was die Heilsökonomie und zugleich einen theologischen Denk-Raum betrifft.
Auch Diego D’Angelo beschäftigt im Blick auf Husserl die notwendige Distanz und das Zwischen im Erfahren, indem das Subjekt im freiheitlichen Interpretieren einen Kontext (aus-)bildet.
Tobias Keiling interpretiert logische und andere Räume in Unbestimmtheit nach den Ansätzen von Wittgenstein und Blumenberg. Während sich Wittgenstein an logischen Räumen und an anderen Raummetaphern orientiert, reflektiert auch Blumenberg absolute Metaphern, die geschichtlich-transzendentale Denkräume strukturieren. Besonders die Funktionen von Raummetaphern erlauben es, »die Unendlichkeit des Wirklichen mit der spezifischen Endlichkeit menschlicher Erkenntnis zusammenzudenken« (85). Solche Raummetaphern machen im Verhältnis von Vernunft und Grenzsetzung die »Pluralität der Räume verständlich […], die zum einen, unendlichen Raum der Vernunft gehören« (86). Wittgenstein assistiert mit der Aussage, dass das Endliche nur innerhalb des Raumes denkbar ist, aber zugleich mit Verweis auf die Unbegrenztheit des Raumes, indem Denkbares und Räumliches in Grenzen zu betonen ist: ein »logischer Raum [kann] nicht der Raum überhaupt sein« (89). Nur im Zusammenspiel verschiedener Räume in Verknüpfung logischer Elemente innerhalb eines unbestimmten Raumes ist durch einen logischen Raum, ein Ort qua Ort im Raum zu bestimmen (vgl. 92). Jenseits einer »letztbegründende[n] Sicherung« (97) ermöglicht eine universale Vernunft eine Bewegung »in einem bestimmten lo-gischen Raum und in der Unbestimmtheit des Raumes« (98). Dies erfordert Übungen und Erweiterung der eigenen Freiheit als Philosophen und Theologen im fruchtbaren Dialog, weshalb diese Veröffentlichung als Einladung zu verstehen ist.
Inga Römer beschreibt zunächst bei Husserl die Raumkonstitution primär in der Leiblichkeit im universalen Verhältnis Anderen gegenüber (spatium), um anschließend bei Heidegger den topos als begrenzten, spezifischen und bedeutsamen Ort zu beschreiben, worin sich ein Sorgen für das Dasein entfalten kann. Darauffolgend wird mit Lévinas ein atopos als Ort und Nicht-Ort im Durchschneiden erarbeitet, indem die Lokalität des absoluten Hier im Subjekt zu Hause ist. Ethisch interpretiert bedeutet dies: Der Anspruch des Anderen impliziert den universal Dritten zur Auf-forderung einer Ausmessung der Gerechtigkeit als geometrischer Raum (vgl. 182). Die Figur eines ethischen Nicht-Ortes denkt einen universalen Raum zu suchen, der alle Orte überschreitet (vgl. 184). So eröffnen sich wiederum ethisch-philosophische Räume zu weiteren theologischen Feldern.
Höchst interessant interpretiert Ole Meinefeld die Enthauptung Ludwig XVI.: Während der ehemalige Körper-Ort des Königs gesellschaftlicher Ausdruck der Autorität war, ist hingegen durch die Hinrichtung eine »Leerstelle« (187) gegeben – ein neuer Nicht-Ort mit anders begründeter, demokratischer Autorität als (un-) körperlicher Gesellschaft (vgl. 197), was zugleich ein Auseinanderdriften von Staatsmacht und autonomer Zivilgesellschaft bedingt (vgl. 198). Meinefeld konstatiert: »Was dabei über die Gedankenfigur des leeren Ortes der Macht zum Ausdruck kommen soll, ist eine Gesellschaft, die Geschichte als offenen Prozess erfährt, die sich von der ›Leerstelle‹ her konstituiert.« (202)
Während Volker Gerhardt zunächst durch Heideggers »Schwarze Hefte« diesen ehemals großen Philosoph als »Karikatur eines Menschen« mit Starrsinn (238) entlarvt, wird weiterhin der Ansatz von Figal einerseits anerkannt, aber andererseits deutlich kritisiert: Nach Gerhardt wird der Raum auch immer in Erscheinung eintreten (vgl. 241), indem der Raum gegenwärtig in jeder Phänomenologie anwesend ist – ohne Distanznahme; zudem ist ein Raumgreifen nur in der Zeit zu erfahren – in Lebensvollzügen mit vielen Möglichkeiten (Hinweis auf Plessner). In Kritik der Raum-Akzentuierung von Figal lautet dagegen die These: »Kein Raum ohne Zeit« (247).