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Ausgabe:

April/2018

Spalte:

390–392

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Dürnberger, Martin

Titel/Untertitel:

Die Dynamik religiöser Überzeugungen. Postanalytische Epistemologie und Hermeneutik im Gespräch mit Robert B. Brandom.

Verlag:

Paderborn: Ferdinand Schöningh 2017. 423 S. m. 3 Abb. Kart. EUR 69,00. ISBN 978-3-506-78493-3.

Rezensent:

Hartmut von Sass

Es sind vor allem zwei Entwicklungen, die die Architektur zeitgenössischer Bedeutungstheorien geprägt haben: zum einen der Abschied repräsentationalistischer Ansätze, die die Bedeutung von X durch den Bezug von X auf etwas mental oder gegenständlich Gegebenes bestimmen, zugunsten einer Bedeutung, die sich dem Gebrauch von X in konkreten Kontexten verdankt; zum anderen die Ausweitung dieses X, das zunächst für Einzelworte oder Terme stand, zugunsten größerer semantischer Einheiten. Beide Transformationen können auf den späten Wittgenstein zurückgeführt werden, der nach wie vor als einer der wichtigsten Impulsgeber neuerer Semantiken fungiert, auch für das Werk des Neopragma-tisten Robert Brandom. In dessen Hauptwerk von 1994, Making it Explicit, geht es um den Versuch, Bedeutung aus dem Netzwerk menschlicher (Sprach-)Praktiken heraus zu bestimmen; nicht mehr der externe Bezug von X auf Intentionen oder Entitäten sichert dann dessen Bedeutung, sondern die Gesamtheit möglicher und korrekter Folgerungen (inferences) und Verpflichtungen (commitments), die mit X einhergehen, bilden nun die semantisch normative Quelle.
Brandoms Inferentialismus weist dabei Familienähnlichkeiten mit dem auf, was Jürgen Habermas als die rationalen Implikate unserer Diskurspraktiken freizulegen versucht hat. Auch hier ging es um ein »Explizit-Machen« meist latent vorausgesetzter Regeln wie: alles dürfe behauptet werden; dafür sollten für alles Gründe erwartet werden; es gelte der »zwanglose Zwang des besseren Arguments«, usw. Ging es Habermas jedoch um eine Diskursethik, die Normen prozedural entwickelt, widmet sich Brandom dezidiert semantischen Normen. Auch er erkennt diese im Geben und Verlangen von Gründen, d. h. in einer intrinsisch normativen Pragmatik oft nur impliziter Regeln. In Übereinstimmung mit den eingangs skizzierten Entwicklungen der Semantik werden Sprecherabsichten sowie Repräsentationen als kleinste semantische Module abgelöst und von Brandom durch die Folgebeziehungen zwischen Aussagen und den logischen (aber auch praktischen) Implikationen ersetzt. Der Fokus auf Behauptungen geht mit der These einher, diese seien nicht einfach ein Sprachspiel neben anderen, sondern die zentrale Handlung im Austausch mit Gesprächspartnern. Bedeutungen jenseits assertorischer Sprechakte müssten demnach stets auf Behaup tungen rückführbar sein. Beide Thesen – die Konzentration auf behauptende Rede sowie die Reduzierung aller anderen Formen der Artikulation auf behauptende Propositionen – hat allerdings für Kritik an Brandoms einflussreichem Ansatz ge­sorgt.
Martin Dürnberger, katholischer Theologe und Assistenzprofessor an der Universität Salzburg, hat nun als (soweit ich sehe) Erster versucht, Brandoms Inferentialismus religionsphilosophisch zu nutzen. Dabei wird jener Fokus auf behauptende Rede beibehalten, wie bereits der Titel dieser Dissertation verrät: Die Dynamik religiöser Überzeugungen. Damit ist zugleich D.s eigene Schwerpunktsetzung angedeutet, geht es ihm doch insbesondere darum, der der religiösen Rede eigentümlichen Verschränkung von Gewissheit und Fragilität nachzudenken (86.383). Der Pragmatismus Brandoms eigne sich dazu, so D., auf ausgezeichnete Weise, so dass weite Teile der Arbeit jenes Programm und dessen Vorläufer zunächst umsichtig darstellen (Teil 3 und 4).
Anschließend widmet sich D. der Eigenart religiöser Überzeugungen, indem im Gefolge von Wittgensteins Über Gewißheit (insbesondere §§ 90–95) deren regulativer Charakter herausgearbeitet wird (26). Ebendiese Rezeption stand häufig in der Gefahr, für die fideistische Immunisierung religiöser Sprache zu sorgen, so dass die damit verknüpfte Rede von abgrenzbaren Begriffsschemata abgewiesen und die Vorstellung fluiderer Übergänge zwischen unterschiedlichen Sprachregionen verteidigt wird (34.119). Zudem legt D. besonderen Wert auf die religiöse Verarbeitung zweier gegenläufiger Grunderfahrungen: die des nicht wieder gut zu machenden Übels und des nicht schlecht zu machenden Guten – wobei »jedes Übel […] ein dunkles messianisches Leuchten [besitzt], das invers auf seine Überwindung verweist« (341; vgl. 65.390). Einmal abgesehen von dieser Harmonisierung des malum bleibt zu fragen, ob die Skizze religiöser Überzeugungen – Regulation, Fragilität und Gewissheit sowie Verarbeitung von Trauer und Glück – befriedigen kann.
Vor diesem Hintergrund gilt D.s Interesse, den Offenbarungsbegriff mit Brandom einer neuen Lesart zuzuführen. Dann aber sind auch religiöse Überzeugungen Bündel von Festlegungs- und Folgerungsnormen (196.206), so dass die Bedingtheit normativer Praktiken mit der geoffenbarten Unbedingtheit Gottes zusammengebracht werden müsste. Und dazu werden vier Prämissen miteinander verbunden: erstens, »nur die Offenbarung selbst kann sagen, was sie ist« (Romano Guardini; 245); zweitens, allein der »Mensch in seiner geschichtlichen Freiheit ist der herausgehobene Ort einer möglichen Gottespräsenz auf Erden« (284); drittens gelte, dass »Gottes Wort in der freien Antwort des Menschen« da sei (295) bzw. – christologisch gewendet –: »Gottes heilvolle Selbstmitteilung in Jesus Christus ist ohne das menschliche Ja nicht denkbar« (285); und viertens, Gottes Zuwendung ist die Beherrschung der in der religiösen Praxis eingelassenen Normen (298.389). Diese letzte These ist die theologisch interessanteste; daher noch einmal im Original und näher am Vokabular Brandoms: »Das blinde, material be­stimmte Gewusst-Wie, das in sprachphilosophischen Kontexten eine Rolle spielt (und sich mit Mitteln Brandoms modellieren lässt), ist das pragmatische Substitut jener Unbedingtheit, ohne die das offenbarungstheologisch behauptete capax infiniti nicht ge­dacht werden kann […].« (322; vgl. auch 305.389)
Der Bezug zu Brandoms Semantik ist erkennbar, bleibt aber ein dünner Faden: Die religiösen Kontexte seien demnach von sprachlichen und praktischen Normen samt explizierbaren Folgerungen und zu übernehmenden Verpflichtungen durchzogen; die erfolgreiche Aneignung und Befolgung dieser No(r)menklatur sei die Weise, in der Gott präsent sei und sich Menschen zuwende (wobei D. auch dies abschwächt, indem Gottes Zuwendung letztlich in der Zuwendung eines Menschen erkannt werde; 305). Gottes Wort sei nicht anders präsent als in seiner Aneignung durch den Menschen (siehe schon Barth, KD I/1, § 5, 186). Und dies stelle eine »perlokutionäre Denkfigur« dar (321).
Diese Terminologie entstammt der bereits revidierten Sprech-akttheorie von John Austin, der womöglich ein geeigneterer sparring partner für D.s Anliegen hätte sein können. Denn die Wirklichkeit von speech acts in ihrer kommunikativen und praktischen Wirkung ist dort viel weniger umständlich herausgearbeitet worden als in Brandoms Inferentialismus. Es ist aber auch zu fragen, wie D. mit dem umgehen möchte, was Austin Illokutionen (»doing something in saying something«: also Empfehlungen, Fragen, Bitten, Drohungen u. a.) genannt hat; und weiter bleibt offen, wie D. den regulativen Charakter religiöser Sprache verbinden möchte mit der starken, inferentialistisch verständlichen Konzentration auf religiöse Überzeugungen, d. h. auf Lokutionen.
Theologisch brisant ist, dass D. Gottes Zuwendung derart direkt an deren menschliche Aneignung bindet und damit in die Gefahr gerät, die göttliche Wirklichkeit vom Menschlich, Allzumenschlichen abhängen zu lassen. Doch darin besteht eher ein Vorzug dieses Ansatzes, mithin Gottes Wirklichkeit als Wirkung seines Wortes verständlich zu machen. Und was wäre Gottes unverfügbar bleibendes Wort, wenn es von niemandem gehört würde? D. wendet sich gegen Ende seines Buches den »Zeichen der Zeit« zu; und zu diesen mag ebenjene Gehörlosigkeit zählen – als ein weiteres Zeichen unserer Zeit und der ihr eigenen »Dynamik religiöser Überzeugungen«.