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Ausgabe:

April/2018

Spalte:

388–389

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Schmidt-Biggemann, Wilhelm, u. Friedrich Vollhardt [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Ideengeschichte um 1600. Konstellationen zwischen Schulmetaphysik, Konfessionalisierung und hermetischer Spekulation.

Verlag:

Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog 2017. 338 S. m. 4 Abb. = problemata, 158. Kart. EUR 68,00. ISBN 978-3-7728-2713-6.

Rezensent:

Stefan Michel

Die wissenschaftliche Welt, in der Gedanken und Ideen, Weltvorstellungen und Traumgebäude vorherrschen, war um 1600 sehr bunt. Wie farbig man sich diese Welt vorstellen muss, vermittelt der vorliegende Band, der Ergebnisse einer interdisziplinären Tagung vom November 2014 zum Abdruck bringt. Jedoch liefert der Band mit elf Aufsätzen keine zusammenhängende Darstellung, sondern nur ein Kaleidoskop von mehr oder weniger zufälligen Eindrücken und Beobachtungen. Trotzdem kann vorbehaltlos zur Lektüre der durchweg anregenden Beiträge geraten werden, weil sie den Blick über den Rand der eigenen Disziplin hinaus weiten. Nicht nur der evangelische oder katholische Theologe wird darin Anregung finden, sondern auch der Literaturwissenschaftler, die Germanistin, die Philosophin oder der Philosophiehistoriker. Das etwas unvermittelte Nebeneinander der verschiedenen Perspektiven auf die Zeit um 1600 mag der tatsächlichen historischen Situation Rechnung tragen.
Der Band wird von einer kurzen Einleitung der Herausgeber (7–9) eröffnet, in der sie darauf hinweisen, dass die »geistesgeschichtliche Szene« um 1600 nur scheinbar konfessionell gefestigt war. Stärker wirkten die verschiedenen »Zentrifugalkräfte«. Ihr Ziel sei es, das Profil der Zeit um 1600 zu schärfen.
Claudia Olk geht in ihrem Eröffnungsbeitrag der Eschatologie oder eschatologischen Motiven bei William Shakespeare, besonders seinem kurz nach 1600 entstandenen Hamlet, nach (11–32). Dafür analysiert sie das Stück und ordnet die Motive in die englische Literaturgeschichte ein.
Friedrich Vollhardt unterzieht unter der Überschrift »Zweite Reformation? Die Mystik des späten Mittelalters und der Spiritualismus um 1600« das Werk Valentin Weigels einer genaueren Prüfung, indem er den Einfluss der »Theologia deutsch« herausarbeitet (33–60). Vor allem der unio-Gedanke steht seiner Meinung nach einer Anerkennung durch orthodoxe Kreise entgegen.
Zur Blüte der römisch-katholischen Theologie um 1600 trug wesentlich der Jesuit Robert Bellarmin (1542–1621) bei, in dessen Leben, Werk und dogmatische wie ethische Grundgedanken Norbert Brieskorn instruktiv einführt (61–82).
Äußerst anregend im Hinblick auf die politische Diskussion um 1600 ist der Aufsatz von Gideon Stiening über »Francisco Suárez’ De legibus ac Deo legislatore als Krisenphänomen und Befreiungsangebot« (83–111). Der Jesuit (1548–1617) entwickelte eine politische Theologie, die das Recht aus der Theologie mit dem Ziel jenseitiger Glückseligkeit gegen Konfessionalisierung und Säkularisierung behaupten wollte.
Cecilia Muratori zeichnet die Rezeption zweier Schriften – Monarchia di Spagna und La Città del Sol – des Dominikaners Tommaso Campanella (1568–1639) in Deutschland nach (113–141). Sie kann dabei feststellen, dass die Übersetzung der für deutsche philosophische Diskurse relevanten Teile den re­ligionspolitischen Kontext beachtete. Die Gewinnung von Lutheranern für die andere Konfession sollte ermöglicht werden. Zudem entwarf Campanella ein Konzept eines idealen Staates.
Dass die Sicht auf die natürliche Welt äußerst unterschiedlich sein konnte, belegt Wilhelm Schmidt-Biggemann am Beispiel des zwischen 1617 und 1623 ausgetragenen Streits zwischen Robert Fludd (1574–1637) und Johannes Kepler (1571–1630). Während der eine von der »pythagoreischen Arithmetik« herkam und eine spiritualistische Naturphilosophie vertrat, versuchte der andere eine »geometrische Rekonstruktion des Kosmos«, die sich auf astronomische Beobachtungen und Berechnungen stützte (143–171).
Überzeugend arbeitet Volkhard Wels heraus, dass die Anfänge der Rosenkreuzer nicht in einem paracelsischen Geheimbund liegen, sondern die Ro-senkreuzer-Manifeste, insbesondere die Fama, eine Spielart lutherischer Frömmigkeit vertreten (173–207). Die Texte gerieten schnell durch den Kontext ihrer Veröffentlichung in Verruf, obwohl sie von dem der Häresie unverdächtigen Autor Johann Valentin Andreae (1586–1654) verfasst wurden.
Günther Bonheim geht der Frage nach, ob man Jakob Böhme (1575–1624) als Naturmystiker bezeichnen kann (209–230). Er verneint diese Frage, weil Böhme zwar Bilder aus der Natur benutzte, aber nicht, um Erlebnisse in der Natur zu beschreiben, sondern seine Gotteserfahrung.
Durch das verstärkte Eindringen philosophischer Denkansätze kam es nach 1600 zu einer Veränderung in der Theologie. Sascha Salatowsky stellt philosophische Denkmuster in Bezug auf die Gotteslehre am Beispiel von Fausto Sozzini (1539–1604) und Conrad Vorstius (1569–1622) dar (231–265), die einige Gegenschriften hervorriefen.
Über naturphilosophische Gedanken, die auf Paracelsus zurückgehen und von Johann Arndt modifiziert weitergetragen wurden, unterrichtet ausführlich Wilhelm Kühlmann (267–310).
In der lutherischen Diskussion über die Bedeutung von Bildern lieferte Johann Arndt (1555–1621) 1597 mit seiner Ikonographia einen eigenständigen Beitrag. Johann Anselm Steiger, der diesen Text 2014 edierte, arbeitet die Quellen Arndts – vor allem Martin Chemnitz und Paracelsus – heraus und stellt das Bildkonzept der Ikonographia, das gegen den anhaltinischen Ikonoklasmus entwickelt wurde, dar (311–332).
Der Münchner Tagungsband liefert Anregungen zur näheren Be­stimmung des sogenannten konfessionellen Zeitalters, indem zum Teil alternative Ideen zu den von den drei Konfessionen benannten Konzepten vorgestellt werden. Dies lässt die Frage aufkommen, was um 1600 eigentlich orthodox war. Setzte (irgend)eine orthodoxe Lehre den gelehrten Ideen eine Grenze? Um einen besseren Vergleich der Konzepte zu ermöglichen, wäre es hilfreich gewesen, wenn ein gemeinsames Themenfeld gewählt worden wäre, wie sich dies beispielsweise mit der Anthropologie anbietet. Man hätte auch durch einen methodischen Rückgriff auf bewährte Forschungsansätze von Friedrich Meinecke bis Luise Schorn-Schütte die Anschlussfähigkeit an bestehende Diskussionen erleichtern können. Der vorliegende Band eröffnet den Blick auf reiches – nicht ganz unbekanntes – Material für eine genauere Erforschung der Zeit um 1600. Weitere Diskurse oder Medien des Ideenaustauschs – wie die wissenschaftliche Disputation – könnten erforscht werden.