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Ausgabe:

April/2018

Spalte:

384–386

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Kristensson Uggla, Bengt

Titel/Untertitel:

Becoming Human Again. The Theological Life of Gustaf Wingren. Transl. by D. M. Olson.

Verlag:

Cambridge: James Clarke & Co. (Lutterworth) 2017. 392 S. Kart. £ 29,50. ISBN 978-0-227-17603-0.

Rezensent:

Risto Saarinen

Gustaf Wingren (1910–2000) prägte die skandinavische Theologie durch die gesamte zweite Hälfte des 20. Jh.s. Zusammen mit An-ders Nygren und Gustav Aulén wird er häufig als Hauptvertreter der sogenannten Lundensischen Theologie angesehen. Aber er war auch ein scharfer Kritiker des Nygrenschen Ansatzes. Schon in seiner Antrittsvorlesung in Lund (1951) kritisierte Wingren die von Nygren und Aulén geprägte sogenannte Motivforschung und versuchte, sie durch eine Variante der dialektischen Theologie zu ersetzen. Noch in seinen späten Artikeln zu Nygren und Lundensischer Theologie in der Theologischen Realenzyklopädie hebt er die problematische Seite der früheren schwedischen Motivforschung hervor.
Bengt Kristensson Ugglas Biographie von Wingren erschien auf Schwedisch 2010. Die englische Ausgabe dieser Biographie bietet für den internationalen Leserkreis eine ausführliche und kompetente Schilderung von Wingrens persönlichem Leben und theologischem Werk. Das Erscheinen dieses Buches ist erstens deswegen wichtig, weil das Spätwerk von Wingren zum großen Teil nur auf Schwedisch erhältlich ist. Zweitens bietet das Buch vielleicht die beste Einleitung zur Geschichte der schwedischen systematischen Theologie zwischen 1950 und 2000. Diese Geschichte ist mit zahlreichen Brüchen und Konflikten gekennzeichnet, die häufig mit der eckigen Persönlichkeit Wingrens eng zusammengehören.
Drittens bietet das Buch eine tiefe Analyse des theologischen Lebenswerks von Wingren. Der Vf., ein schwedischer Philosophieprofessor in Åbo Akademi (Turku), ist auch ein ausgezeichneter Kenner der modernen Theologie. Er war mit Wingren persönlich verbunden und kann in der Biographie sowohl seine tiefe Sympathie als auch seine sachlichen Bedenken ausführlich und balanciert formulieren.
Durch seine unerbittliche Kritik an den Zeitgenossen hat Wingren die schwedische Theologie zweimal zur schweren Krise geführt. Die erste Krise (etwa 1951–1960) ist auch in der deutschsprachigen Theologie relativ gut bekannt. Nach seiner Kritik an Nygren hat Wingren die in Schweden und Dänemark übliche starke Theologie der Schöpfung fortgesetzt, hat sie aber zugleich mit einer starken offenbarungsorientierten biblischen Theologie er­gänzt. Die Impulse dazu hat Wingren schon als Stellvertreter Karl Barths in Basel (1947) erhalten, aber der Vf. argumentiert überzeugend, dass der Einfluss Rudolf Bultmanns an dieser Stelle entscheidend war.
Die scheinbar wertneutrale Motivforschung hatte für die systematische Theologie ein Heimatrecht in den positivistischen schwedischen Staatsuniversitäten gesichert. Nach der dialektischen und bibeltheologischen Wende Wingrens war es aber nicht klar, wie die systematische Theologie in Lund und Uppsala fortgesetzt werden sollte. Wingren hat selber eine Antwort vorgeschlagen mit seiner zweibändigen Dogmatik (Skapelsen och lagen, 1958; Evangeliet och kyrkan, 1961). Die erste Krise hat aber in Schweden dazu geführt, dass Ethik und Religionsphilosophie als unantastbare akademische Disziplinen gelten konnten, während die Stellung der Dogmatik in der Staatsuniversität weitgehend problematisiert wurde.
Die zweite Krise (etwa 1981–1985) wurde nur innerhalb von Schweden und auf Schwedisch erörtert. Der Vf. bietet eine faire Schilderung dieser schwierigen und international unbekannten Phase der nordischen Theologie. Vier Jahre nach seiner Emeritierung veröffentlichte Wingren ein polemisches Buch Tolken som tiger (1981, »Der schweigende Dolmetscher«, nur auf Schwedisch erhältlich). Das Buch ist eine Frontalattacke gegen die schwedische Theologie, die Wingren zufolge ihre gegenwartsbezogene Inter-pretationsaufgabe völlig vernachlässigt hat. Durch die Konzen-trierung auf positivistische Exegese und neutral-historische Religionsphilosophie habe die schwedische Universitätstheologie, so Wingren, ihre internationale und wissenschaftliche Bedeutung gänzlich verloren.
Das Buch hat verständlicherweise eine Reihe von kritischen Antworten und weiteren Streitschriften provoziert. Vielen nordischen Theologen erschien die Position Wingrens unklar und übertrieben. Wingren hatte ja selber zuerst die weltberühmte Lundensische Theologie durch seine Kritik an der Motivforschung zerstört. Nun wollte er aber auch die neuen Ansätze vernichten, die die schwedische Universitätstheologie nach der ersten Krise mühsam aufgebaut hatte.
Wingren wollte offenbar, dass die theologischen Fakultäten in­nerhalb der staatlichen Universität ihre Lehre und Forschung fortsetzen können, aber er hatte in gewissem Sinne mit seinem Buch von 1981 alle existierenden Vermittlungsversuche zwischen Glauben und Wissen blockiert. Wahrscheinlich hatte Wingren einige deutsche und dänische evangelische Fakultäten (vor allem Aarhus) als sein akademisches Vorbild, aber es war in Schweden nicht möglich, eine liberal-konfessionelle systematische Theologie als Universitätsdisziplin zu etablieren.
Der Vf. verbindet diese Krisen mit dem provokativen und streitsuchenden Charakter Wingrens. In seinen späten Jahren hat Wingren auch mit der schwedischen Staatskirche unterschiedliche Konflikte gehabt, die schließlich dazu führten, dass er sein Pfarramt niedergelegt hat. Natürlich kann man die schwierigen intellektuellen Konflikte nicht nur mit Wingrens Charakterzügen er­klären, aber der Vf. zeigt geschickt und unparteiisch, wie Wingrens Persönlichkeit zu den Konflikten beigetragen hat.
Für den internationalen Leserkreis ist im Weiteren aufschlussreich, wie Wingren in seiner zweiten Ehe mit der Gewerkschaftsleiterin Greta Hofsten ein linksorientierter politischer Aktivist wurde. Frau Hofsten war zugleich eine überzeugte Sozialistin und eine christliche Mystikerin, und ihre seltsame Spiritualität hat auch die letzten Jahrzehnte der theologischen Arbeit Wingrens geprägt.
Weil Wingrens langes Leben durch unterschiedliche Strömungen und Konflikte gekennzeichnet war, ist es ausgesprochen schwierig, einen systematischen Gesamtduktus in seinem Leben und Werk zu finden. Der Vf. will jede Harmonisierung eines komplexen Charakters vermeiden, aber er konstatiert, dass eine gewisse theologische Humanität oder Menschwerdung des Menschen einen solchen Gesamtduktus bei Wingren ausmacht. Als dialek-tischer Theologe ist Wingren stets auf andere Menschen und den biblischen Text bezogen; als sündiger Mensch braucht er Metanoia und Erneuerung; als Akademiker will er die Freiheit des Denkens verteidigen. So entsteht eine komplexe Humanität, die der Vf. mit dem Titel des Buches »Becoming Human Again« treffend zusammenfasst.
Diese klar geschriebene und theologisch reiche Biographie ist sehr zu empfehlen. Sie öffnet die Innenseite der modernen skandinavischen systematischen Theologie einem internationalen Leserkreis.