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Ausgabe:

April/2018

Spalte:

383–384

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Harbsmeier, Eberhard, u. Christian Senkel[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Innerlichkeit – Existenz – Subjekt. Kierkegaard im Kontext. Dokumentation zweier Internationaler Arbeitsgespräche an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin und an den Franckeschen Stiftungen zu Halle an der Saale.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2017. 200 S. Kart. EUR 48,00. ISBN 978-3-374-04532-7.

Rezensent:

Claudia Welz

Der Band dokumentiert zwei im Kierkegaard-Jubiläumsjahr 2013 abgehaltene deutsch-dänische Arbeitsgespräche an der Humboldt-Universität zu Berlin und den Franckeschen Stiftungen in Halle an der Saale. In ihrem Geleitwort stellen die Herausgeber das Unverwechselbare der sich jeder Klassifikation entziehenden Schreibweise Kierkegaards heraus, die wie der Schriftsteller selbst – »als spätromantischer ›Brandmajor‹, als zeitanalytischer Zylinderträger oder als geradezu separatistischer ›Spion Gottes‹« – verschiedenen Fakultäten angehöre, und da er experimentierfreudig Kontexte gewechselt hat, sei »[h]istorisch-philologische Wühlarbeit« vonnöten, um seinen Spuren zu folgen (5).
Das Buch enthält zwei Hauptteile: Im ersten Teil erkunden sechs Autoren die Beziehungen des jungen Kierkegaard zur Berliner Philosophie, im zweiten wird in sechs Essays Kierkegaards Verhältnis zum Pietismus untersucht. Gerahmt sind die (mehr oder weniger) wissenschaftlichen Texte durch die Arbeit des Künstlers Michael Geyersbach (geb. 1954), der unter dem Titel »Tagebuch eines Verführten« sein in Form von Lesekonzerten mit Videosequenzen vorgeführtes Ständchen zum 200. Geburtstag Kierkegaards beschreibt und im Anhang Fotos seiner Sprach-Bild-Installationen, Begegnungen und Performances präsentiert.
I. Traugott Vogel situiert Kierkegaard werk-biographisch und unter Angabe seiner damaligen Adressen »im biedermeierlichen Berlin« (18) – leider ohne Belege für seine Zitate und ohne die vermeintliche »Stufenfolge« (24) der ästhetischen, ethischen und religiösen Stadien auf dem Lebensweg in Auseinandersetzung mit aktueller Forschungsliteratur zu hinterfragen. Per Øhrgaard widmet sich den Lebenserinnerungen von Henrich Steffens (1773–1845), den Kierkegaard las und während seines Berlin-Aufenthalts auch hörte, und knüpft zum Schluss auf witzige Weise ein anekdotisches Band zwischen den beiden (38 f.). Markus Pohlmeyer unternimmt es, anhand eines Diskurses über die Freiheit Kierkegaards Verhältnis zu Schelling und Kant zu beleuchten. Kierkegaards anfängliche Begeisterung über Schellings Berufung nach Berlin verwandelte sich bald in Enttäuschung, und so schrieb er am 27.2.1842: »Ich bin zu alt, um Vorlesungen zu hören, ebenso wie Schelling zu alt ist, um sie zu halten.« Kierkegaard wird hier über M. Franks Schelling-Ausgabe zitiert (41), und nur recherchier-freudigen und des Dänischen kundigen Lesern erschließt es sich, dass das Zitat aus einem Brief an seinen Bruder Peter Christian entnommen ist (s. SKS 28, 17 f.). Ob Kierkegaard zugestimmt hätte, dass der Gottes- wie auch der Freiheitsbegriff transzendental zu denken seien (45.48), steht zu bezweifeln. Joachim Ringleben versucht, »von Hegel her auf Kierkegaard zu blicken«, und diagnostiziert scharfsinnig, »dass ihm Wesentliches an seinem vermeintlichen Gegner entgeht – zumal Kierkegaard u. a. […] die dänischen Hegelianer mit im Blick hatte« (52). So wird z. B. aufgezeigt, weshalb Hegels spekulative Logik, die wie die Sprache »innerhalb ihrer auch außerhalb ihrer selbst« ist (53) und sowohl den Sprung wie auch den Widerspruch in sich enthält, stärker ist als Kierkegaards Karikatur derselben – nicht zuletzt weil sie das Werden in der »Figur des Übergehens als Übergegangensein« (55) zu denken vermag. Eberhard Harbsmeier porträtiert Kierkegaard »als Kritiker und Schüler der Romantik« (62), indem er ihn gekonnt sowohl zu Schlegel als auch zu Schleiermachers Musikphilosophie in Bezug setzt und dabei seine Vorliebe für Mozart hervorkehrt (68–74). Svend Andersen befasst sich mit Knud E. Løgstrups 1950 an der Freien Universität Berlin gehaltenen Vorlesungsreihe über Kierkegaard und Heidegger, die nuancierter ist als die polemische Auseinandersetzung mit Kierkegaard (1968). Andersen argu-mentiert, dass Løgstrup seinen in Die ethische Forderung (1956) ausgeführten Hauptgedanken »weitgehend von Kierkegaard übernimmt« (79) und seine Kier­kegaard-Kritik theologisch motiviert ist, sofern die »Übereinstimmung zwischen christlicher Nächstenliebe und natürlichem Gesetz« (87) auf dem Spiel steht.
II. Anders Kingo zeichnet eine historische Skizze des dänischen Pietismus und des biographischen Hintergrunds Kierkegaards, der sich zwar pietistischer Terminologie und Bildsprache bediene, selbst aber kein Pietist gewesen sei (100 f.). Tim Hagemann diskutiert Kierkegaards Ringen um seine Berufung (Dorfpastor, Dichter, Märtyrer?), das sich vor allem in den 1849 begonnenen Notizbüchern NB 10–16 abspielt, religiös begründet ist und mit der Entscheidung endet, als Schriftsteller im Dienste des Christentums wirken zu sollen (109 f.). Albrecht Haizmann plausibilisiert in einem »typologisch-theologischen Vergleich« die These, dass sich einiges von dem, was für den Pietismus bezeichnend ist, bei Kierkegaard wiederfindet, »und zwar philosophisch aufgearbeitet und literarisch entfaltet« (111): Kirchenkritik, Heilserfahrung als Wiedergeburt, Christentum ohne konfessionelle Verengungen, Erfahrungsorientierung und Jesus-Nachfolge. Philipp David beschreibt Kierkegaards Existenzdenken als »Einübung in religiöse Ent-Täuschung« (135) im Sinne des Endes einer Täuschung »über das unmögliche Gottesverhältnis und die Grausamkeit des so verstandenen Christentums« (149). Wären Kierkegaards erbauliche nichtpseudonyme Schriften, insbesondere Die Taten der Liebe nicht ignoriert worden, wäre das Ergebnis ein ganz anderes. Eberhard Harbsmeier charakterisiert Kierkegaard als zwischen pietistischem Erbe und philosophischer Subjektivitätstheorie stehenden »Denker der Innerlichkeit« (155) – psychologisch in einer Dialektik von innen und außen, ethisch im Blick auf Selbstbildung/-findung sowie religiös in der Aneignung des Glaubens. Christian Senkel zeigt, inwiefern Kierkegaard im »Erproben von Lebensmöglichkeiten« (177) und seinem nonkonformistischen Kampf gegen die Staatskirche als Grenzgänger zwischen Ästhetik, Ethik und Religion mit der Figur des Dandy verwandt ist, zumindest in seiner Schreibweise.
Was aus dieser Kurzzusammenfassung deutlich wird, ist das breite Spektrum der Themen, die in diesem Band unter den ebenfalls breiten Leitbegriffen Innerlichkeit – Existenz – Subjekt verhandelt werden. Die Qualität der dort vereinigten Aufsätze schwingt zwischen mittelmäßig bis hervorragend. Geboten wird eine kunterbunte Mischung, in der für jeden etwas dabei sein dürfte, und in diesem Sinne sei das Potpourri der Leserschaft empfohlen.