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Ausgabe:

April/2018

Spalte:

380–383

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Schilling, Heinz

Titel/Untertitel:

1517. Weltgeschichte eines Jahres. 3. Aufl.

Verlag:

München: C. H. Beck Verlag 2017. 364 S. m. 40 Abb. u. 1 Kt. Geb. EUR 24,95. ISBN 978-3-406-70069-9.

Rezensent:

Lutz E. von Padberg

Endlich – so ist man geneigt zu sagen – ist das Lutherjahr mit all seinen Gedenkveranstaltungen, Ausstellungen, Vorträgen, Publikationen und Events vorüber. Normalität kehrt ein. Anstelle glanzvoller Jubiläumsfeiern muss sich die EKD wieder mit dem Problem ihrer zunehmenden Bedeutungslosigkeit in der säkularen Gesellschaft beschäftigen. Ob von den Feiern zum 500. Jahrestag des Thesenanschlages (denn das war ja das Erinnerungsdatum, von Reformation konnte da noch nicht die Rede sein) mehr bleibt als die wunderbar restaurierten Erinnerungsorte, wird sich zeigen. Die Fachleute werden sich mit Planung, Durchführung und Ertrag der Feierlichkeiten beschäftigen und wahrscheinlich zu ganz unterschiedlichen Einschätzungen kommen. Auf einen viel zu wenig beachteten Aspekt hat kürzlich Hartmut Lehmann zu Recht hingewiesen, nämlich auf die Fokussierung von Lutherdekade und Jubiläumsjahr 2017 allein auf die Person Martin Luthers. Das ist verständlich, denn Luther war es nun einmal, der die Reformation in Gang gebracht und das Evangelium wieder in den Mittelpunkt gestellt hat. Freilich bestand dadurch die Gefahr der Trivialisierung, weshalb ja auch der theologische Ertrag der Feiern überschaubar blieb. Vor allem aber sind durch diese Konzentration die vielen Reformatoren des 16. Jh.s vergessen worden (Zwingli, Bugenhagen, Bucer, Calvin, Menno Simons, John Knox, die Täufer und viele andere mehr), der Reichtum der Epoche geriet aus dem Blick.
Deshalb ist Heinz Schillings ganz anders konzipiertes Buch zum Jubiläum umso mehr zu begrüßen. Sein Werk 1517 – Weltgeschichte eines Jahres weitet den Blick und ordnet den Beginn der Reformation in den weltgeschichtlichen Horizont ein. Dementsprechend spielt Luther keineswegs die Hauptrolle, ihm ist nur eines von sieben Kapiteln gewidmet. Das ist auch gar nicht nötig, hat S., emeritierter Professor für Europäische Geschichte der frühen Neuzeit an der Humboldt-Universität zu Berlin, doch 2013 eine viel beachtete umfangreiche Lutherbiographie vorgelegt (Martin Lu­ther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs). Jetzt fragt er, wie die Welt, durchaus nicht nur Europa, zur Zeit Luthers aussah. Den Reformator selbst hat das kaum beschäftigt, er war »auf sein theologisches Problem konzentriert«, die Frage nach dem gnädigen Gott. Jenseits der »eschatologischen und missionsgeschichtlichen Perspektive fand Luther kein Interesse am Ausgreifen Europas auf die anderen Kontinente« (266). Das aber vermittelt S., indem er die Leser mitnimmt auf eine Reise durch Europa und darüber hinaus unter anderem in das Reich der Azteken und an den chinesischen Kaiserhof. Er tut das überaus kundig und in lesbarer Wissenschaftsprosa auf der Basis der Quellen und im Gespräch mit der Forschung. Das ist umso beachtlicher, als er tatsächlich die ganze damalige Welt in den Blick nimmt. Die Anmerkungen (313–332) und das ausführliche Quellen- und Literaturverzeichnis (333–349) zeugen davon. Personen- und Ortsregister runden den sorgfältig edierten Band ab (352–364), dessen Text durch vierzig passend ausgesuchte Abbildungen aufgelockert wird.
Das erste und zugleich längste Kapitel »Zwei Weltreiche und ein Drittes Rom kündigen sich an, aber auch ein Sturm gegen Unterdrückung und Willkür« (26–83) blickt zuerst auf Spanien und den Wechsel der Herrschaft auf Karl V. (wobei die Lektüre der dy-nastischen Verwicklungen (32 ff.) etwas anstrengend ist und vom Leser, wie manche andere Abschnitte auch, Durchhaltevermögen verlangt), eingeordnet in den strukturgeschichtlichen Umbruch zum frühmodernen Fürstenstaat, dessen Ordnungsprinzipien die Menschen vor ganz neue Herausforderungen stellten. Zu den Veränderungen der Zeit gehörte, dass die Osmanen 1517 »die politische und militärische Hegemonie in der muslimischen Welt errungen hatten«, mit dramatischen Folgen: »Jetzt hatte sich die Christenheit selbst gegenüber einer offensiven muslimischen Weltmacht zu verteidigen, deren Glaubenseifer für den Islam durch die Schutzfunktion über die Heiligen Stätten neu angefacht worden war« (61 f.). In eine wiederum andere Welt führt der Abschnitt über die Gesandtenreise Siegmunds von Herberstein 1517 nach Moskau, eine reizvolle Miniatur.
Das zweite Kapitel, »Um Frieden und Stabilität des Geldes« (84–111), erörtert die einschlägigen Friedensschriften von Machiavelli, Thomas Morus und Erasmus von Rotterdam und stellt die kopernikanische Geldwerttheorie vor. Danach entführt S. seine Leser auf den Spuren der Entdeckernationen Portugal und Spanien in alte und neue Welten (Kapitel III: »Europa und die weite Welt«, 112–140), die den Zeitgenossen durchaus bekannt waren. »Die Durchdringung der Welt war fortgeschritten und hatte ein Kommunikationsnetz über den Globus gespannt, das zwar noch sehr locker und eher situativ aufgebaut war, sich aber kontinuierlich verdichtete« (113). Besonders gelungen ist Kapitel IV »Die Renaissance und ein neues Weltwissen« (141–183). »Die europäische Wahrnehmung außereuropäischer Kulturen und Gesellschaften brachte kraftvolle Impulse für den innereuropäischen Wandel und den Aufbruch in die Neuzeit« (141). Das wird zunächst verdeutlicht an dem berühmten asiatischen Rhinozerus Odysseus, einem Geschenk des Indien-Gouverneurs Albuquerque an den portugiesischen König Manuel. Dürers berühmter Holzschnitt des Tieres als »Ikone europäischer Renaissance-Kunst« (147) zeigt, wie schnell sich Bilder der neuen Welten in Europa verbreiteten. In dieses Kapitel gehören ferner die interessanten Miniaturen zur Dichterkrönung 1517 in Augsburg (165–172, Ulrich von Huttens »Phalarismus – Die Schule des Tyrannen«) und zu Margarete von Österreich (176–183). Daneben stehen »Kollektive Ängste und Sehnsucht nach Sicherheit« (Kapitel V, 184–214) über den nach wie vor lebendigen Glauben an Wunder, Magie, Hexen und Dämonen. Denn die Menschen suchten Orientierung nicht nur in rationalen Erklärungen, sondern auch in deren Gegenteil. Sie schauten »auf Himmelserscheinungen, Unwetter, Teuerungen, Hungersnöte, Seuchenzüge oder Kriege, um in ihnen Zeichen einer übernatürlichen Wirklichkeit zu erkennen. Sie sahen darin den Ausdruck einer tiefen Störung im Verhältnis zwischen Mensch und Gott, oder, schlimmer noch, die Warnung vor dem bevorstehenden Strafgericht« (184). Ausführlich wird die »tief in der christlichen Gesellschaft verwurzelte Judenphobie« beschrieben, für die prägend waren »magische Vorstellungen von religiöser und ethnischer ›Reinheit‹ und deren Gefährdung durch die ›Unreinheit‹ von Juden und Muslimen« (197), was sich etwa auf der Iberischen Halbinsel in geradezu »antisemitischem Jagdfieber« äußerte (205).
Die letzten beiden Kapitel wenden sich dem kirchlichen Bereich zu. Kapitel VI, »Der Papst in Rom – italienischer Souverän und universeller Pontifex« (215–257), beschreibt Rom im Bann des Medici-Papstes Leo X. »Frömmigkeit oder besonderes theologisches Interesse entwickelte« der schon als Vierzehnjähriger zum Kardinal erhobene Giovanni de’Medici nicht, »umso ausgeprägter waren sein Kunstsinn und seine Neigung zu höfischer Pracht« (216). S. ist bemüht, dem Renaissancepapst trotz seines Aufwandes für Kunst und Luxus gerecht zu werden, und arbeitet zwei Formen christlicher Religiosität am Beginn der Neuzeit heraus: »Auf der einen Seite die hoch ästhetisch-sinnliche, aber auch philosophisch-gedanklich sorgfältig durchdeklinierte Religion der Renaissance« und auf der anderen Seite »die existentielle Religiosität […] als ursprüngliche, evangelische Form des Christentums« (256). Von dieser ging im kirchlichen wie im politischen Bereich eine »tiefgreifende Veränderungsdynamik« (258) aus, die in Kapitel VII, »Der Mönch in Wittenberg – Ex oriente lux oder die Morgenröte des Protestantismus an den Grenzen der Zivilisation« (258–289), beschrieben wird. Eindrucksvoll wird deutlich, wie »Wittenberg innerhalb weniger Jahre neben Rom zum zweiten Zentrum der christlichen Welt aufstieg«, die Reformation »ihren Ursprung in der Universität« hatte (262 f.) und die »Frage nach dem ewigen Seelenheil« den Kern von Luthers Theologie bildete (266). Mit den eingehend vorgestellten 95 Ablassthesen, »dem ersten großen Medienereignis der Weltgeschichte« (283), radikalisierte sich der Protest zur »Fundamental-kritik am römischen System«, das »spätmittelalterliche Verlangen nach Reform mutierte zur protestantischen Reformation« (288). Entscheidend dabei aber war die Lehre von der Rechtfertigung, sie gab den Menschen Zuversicht auf den Erlösergott.
Der Epilog »1517 – Ein Wunderjahr als Auftakt der Neuzeit?« schließt den ertragreichen Band ab (290–309). Deutlich geworden sind die Grundstruktur des internationalen Mächtesystems der Neuzeit, die Konkurrenz zwischen dem christlichen Weltreich der Habsburger und dem islamischen der Osmanen und die konfessionelle Differenzierung der lateinischen Christenheit. S. breitet ein umfassendes Panorama aus, wobei es ihm gelingt, die ganz verschiedenen politischen und religiösen Bereiche zu einem eindrucksvollen Gesamtbild des frühen 16. Jh.s zu verbinden. Gerade diese Weite macht das Buch zu einem wertvollen Beitrag zum Re­formationsjubiläum.