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Ausgabe:

April/2018

Spalte:

379–380

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Nieden, Marcel [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Ketzer, Held und Prediger. Martin Luther im Gedächtnis der Deutschen.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft (Lambert Schneider) 2017. 248 S. m. 177 Abb. Geb. EUR 49,95. ISBN 978-3-650-40171-7.

Rezensent:

A. B.

Aus dem Stapel der Prachtbände, die anlässlich des 2017 gefeierten Reformationsjubiläums erschienen sind, ragt die Ausgabe, die der in Duisburg und Essen lehrende Kirchenhistoriker Marcel Nieden besorgt hat, auf ansprechende Weise hervor. Dass dabei die Ge­schichte der im deutschen Gedächtnisraum vollzogenen Luther-Memoria nach Jahrhunderten gegliedert wird, erinnert unaufdringlich an die centuriale Methode altprotestantischer Historiographie, erweist sich mit diesem äußerlichen, von den Autoren durchweg elastisch angewandten Ordnungsmuster aber zugleich als insgesamt sachgemäß. Auch der Obertitel ist mit Bedacht ge­wählt: Während die Begriffe »Ketzer« und »Held« die Extrempositionen des breiten Spektrums markieren, in das sich die auf Luther bezogenen Deutungen und Rezeptionen des letzten halben Jahrtausends auffächerten, soll der Begriff »Prediger« demgegenüber das integrative »Selbstkonzept« (8) des Reformators bezeichnen.
Das den Band konstituierende Präsentationsprinzip verpflichtet die beiden Darstellungsmedien zu einem ausgeglichenen Wech­selverhältnis, demzufolge die Textbeiträge durch die zahlreichen, in findiger Vielgestalt ausgewählten Abbildungen weder bloß illustriert werden noch diesen lediglich gelehrte Erläuterungen hinzufügen sollen. Dergestalt ist ein bemerkenswertes Textbilderbuch entstanden, das die in fünf Jahrhunderten geleistete Vergegenwärtigung oder Vereinnahmung Luthers gleichermaßen lehrreich und anschaulich vorführt. Die Autoren der einzelnen Kapitel greifen allesamt kundig auf den aktuellen Stand der Forschung zurück, verharren dabei aber nicht im Gestus bloßer Rekapitulation, sondern warten immer wieder auch mit eigenen, anregenden Akzentsetzungen auf.
»Die Anfänge der Luthermemoria« im 16. Jh. bündelt kenntnisreich der Herausgeber. Sein einstiger akademischer Lehrer Wolfgang Sommer (Neuendettelsau), ein ausgewiesener Kenner des Konfessionellen Zeitalters, führt den »Reformator in der Selbstinszenierung des Luthertums« im 17. Jh. vor Augen. Albrecht Geck (Osnabrück) setzt die Darstellung mit der »Luthererinnerung im Zeichen von Aufklärung und Emanzipation« fort, woraufhin Tim Lorentzen (Kiel) die »nationale[n], konfessionelle[n] und touristische[n] Erinnerungskulturen« des langen 19. Jh.s umsichtig rekonstruiert. Wenn schließlich Klaus Fitschen (Leipzig) das bis in die Gegenwart verlängerte 20. Jh. unter dem sprechenden Titel »Vom Sockel ins Bodenlose?« inspiziert, so deutet das seiner Überschrift zugefügte Fragezeichen zumindest die Möglichkeit an, dass für eine im 21. Jh. zurückzugewinnende historische Bodenhaftung der Lutherrezeption noch nicht alle Hoffnung verloren ist.
Die gebrauchserschwerende Verbannung der Anmerkungen in den Anhang mag der Gattung des allgemeinverständlichen Bildbandes geschuldet sein. Literaturverzeichnis, Bildnachweise und Personenregister runden die Publikation ab. Dass der die Beiträger porträtierende Klappentext nur bei einem der fünf Autoren den Geburtsort hinzufügt, symbolisiert höchst diskret die Unausgewogenheit der neuzeitlichen Anverwandlungen des Reformators, die der vorliegende Band in exzellenter Weise zur Darstellung bringt.