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Ausgabe:

April/2018

Spalte:

377–379

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Myconius, Oswald

Titel/Untertitel:

Briefwechsel 1515–1552. Regesten, bearb. v. R. Henrich. Vorwort v. U. Gäbler, M. Wallraff. 2 Teilbde.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2017. 1284 S. m. Abb. u. CD-ROM. Geb. EUR 108,00. ISBN 978-3-290-17890-1.

Rezensent:

Stefan Michel

Nach wie vor sind die Kenntnisse über die Reformatoren des 16. Jh.s, die nicht wie Luther, Melanchthon, Zwingli oder Calvin den ersten Rang innerhalb der protestantischen Erinnerungskultur einnehmen, gering. Ihre Werke sind kaum in wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Editionen zugänglich und ihre Biographien nur unzureichend erforscht. Dass nun eine Ausgabe der Briefe des Basler Reformators Oswald Myconius (1488–1552; fortan: M.) in Regestenform erschienen ist, stellt angesichts des skizzierten Befundes einen großen Glücksfall dar.
Der Myconius-Briefwechsel wurde seit 2007 von Rainer Henrich, langjährigem und erfahrenem Mitarbeiter des Heinrich-Bullinger-Briefwechsels sowie Kenner der Schweizer Reformationsgeschichte, bearbeitet. Teilweise konnte er für das stattliche Reges­tenwerk mit 1338 Schriftstücken auf Recherchen von Ekkehart Fabian (1926–2007) zurückgreifen. In einer umfangreichen Einleitung (9–108) stellt Henrich den aus Luzern stammenden Schulmann und Theologen zunächst vor (9–71). Zudem bietet die Einleitung ein »Verzeichnis der Werke von Oswald Myconius« (73–77), Bemerkungen zur »Überlieferung des Briefwechsels« (79–86), eine Darstellung des methodischen Vorgehens (87–90) sowie ein Abkürzungs- und Literaturverzeichnis (91–108).
Als M. 1531 als Nachfolger des Johannes Oekolampad nach Basel kam, kannte er die Stadt schon ein wenig von seinem Studium an der dortigen Universität in den Jahren 1510 bis 1514 sowie seiner Lehrtätigkeit an der Lateinschule zu St. Theodor und St. Peter bis 1516. 1515 heiratete er hier seine Frau Margret, über deren Biographie nichts Näheres bekannt ist. Ab 1516 folgten Schulmeisterstellen in Zürich, Luzern und Einsiedeln sowie wieder Zürich. Hier konnte er seine humanistischen Interessen vertreten, die bald durch reformatorische Einflüsse modifiziert wurden, wie seine Randnotizen zu Erasmus’ »Lob der Torheit« belegen. Bis 1531 bietet die vorliegende Ausgabe nur 127 Stücke, wobei immer wieder zum Teil große Lücken in der Korrespondenz auffallen. So gibt es keinen Brief für das Jahr 1530. Zwischen 1523 und 1529 können nur 16 Briefe geboten werden. Erst mit dem Wechsel nach Basel steigt die Dichte und Anzahl der Briefe an. Ab diesem Zeitpunkt stellt der M.-Briefwechsel nicht nur eine Quelle für das Leben und das Werk des Reformators dar, sondern er belegt zugleich die theologische Stellung Basels zwischen Zürich und Straßburg – oder anders gesagt: Der Leser der Briefe kann das Lavieren M.s zwischen den theologischen Positionen Bullingers und Bucers verfolgen.
Die 1338 Nummern des Briefwechsels setzen sich aus 630 ausgegangenen und 708 eingegangenen Briefen zusammen. Dass eine so stattliche Anzahl von Briefen erhalten blieb, ist sicher auch dem Umstand zu verdanken, dass sich der Zürcher Antistes Bullinger, als wichtigster Korrespondenzpartner M.s, seine Briefe nach M.s Tod zurückgeben ließ. Sie gelangten wieder nach Zürich und wurden mit Bullingers Nachlass auf verschiedene Bestände aufgeteilt. Auf diese Weise blieben 339 Briefe M.s an Bullinger und 193 Bullingers an M. erhalten. Zu M.s weiteren Korrespondenzpartnern zählte seit 1517 Joachim Vadian, dessen Briefe an M. leider nicht überliefert wurden, sondern nur die 41 Briefe M.s an den St. Galler Gelehrten und Bürgermeister. Eng blieb vor allem M.s Austausch mit Zürich, wie man an den vier Briefen an Theodor Bibliander, denen 71 Briefe Biblianders an M. seit 1527 gegenüberstehen, sieht. Wichtig für zukünftige Forschungen ist auch der Briefaustausch mit Rudolf Gwalther seit 1538 (45 Briefe an M. und 4 Briefe von M.). Mit Martin Bucer wurde ebenfalls regelmäßig korrespondiert (54 Briefe an M. und 13 Briefe von M.). Der Briefaustausch mit den einzelnen Korrespondenzpartnern zeigt, dass sich eingehende und ausgehende Briefe nicht die Waage halten, so dass mit deutlichen Verlusten zu rechnen ist.
Die Lektüre des Briefwechsels zeigt einen charakterlich nicht einfachen Korrespondenten. M. kann argwöhnisch und impulsiv sein. Man sieht aber auch einen Reformator, der mit verschiedenen reformatorischen Klärungsprozessen zu kämpfen hat. Immer wieder werden Ehefragen an ihn herangetragen (Nr. 160, 189, 206 u. ö.). Wie soll man mit eingeführten Bräuchen und Traditionen umgehen? Dazu gehören ebenso das Krankenabendmahl (Nr. 191, 194) oder das Amtsverständnis (Nr. 760). Persönlich ist er von der Frage betroffen, wie die Reform der Universität Basel zu vollziehen ist. Viele dieser Auseinandersetzungen resultierten aus der Konfrontation mit Vorstellungen des Rates, der den Basler Theologen nicht die Spielräume einräumen wollte, wie dies beispielsweise der Zürcher Rat gegenüber seinen Theologen tat. So kam es auch zu Konflikten bei der Entstehung neuer Ordnungen, die den Bann und die S ynode betrafen. Das Verhältnis zu Andreas Bodenstein, genannt Karlstadt, der seit 1534 in Basel wirkte, war äußert angespannt. M. berichtete nach Karlstadts Tod sogar, dass dieser von einem Dä­mon besessen gewesen sei (Nr. 699). Schließlich beschäftigte M. die Abendmahlstheologie sein Leben lang. Als es zwischen Genf und Zürich im Consensus Tigurinus 1549 zu einer Einigung kam, wurde M. einfach übergangen (vgl. Nr. 1219).
Diese vielen Auseinandersetzungen hinderten M. nicht daran, das Erbe Zwinglis und Oekolampads zu pflegen. Engagiert verfasste er 1532 eine Lebensbeschreibung Zwinglis und förderte den Druck der Schriften Oekolampads (z. B. Nr. 364).
Gegen die vorliegende Ausgabe könnte vielleicht eingewendet werden, dass eine kritische Edition besser als ein Regestenwerk gewesen wäre. Doch wer hätte eine solche Edition im Falle M.s finanziert? Angesichts der zahlreichen Briefe Bullingers, die Henrich im Regest abbildet, wäre eine nochmalige Edition nicht zu rechtfertigen gewesen. Zudem wurden viele Briefe auf Latein verfasst, dessen Verständlichkeit heute in breiten Leserkreisen nicht mehr vorausgesetzt werden kann. Eine kritische Edition hätte also vor allem nur den wenigen Spezialisten etwas genützt. Insofern ist das methodische Vorgehen des Bearbeiters, ein reines Regestenwerk vorzulegen, sehr zu begrüßen. Die vielen ungedruckten oder nur schwer zugänglichen Quellen sind somit auf vorbildliche Weise für einen großen Kreis Interessierter erschlossen. Vergleicht man a ußerdem die Regesten des Bullinger-Briefwechsels, mit denen des M.-Briefwechsels wird man feststellen, dass Henrich sehr gründlich gearbeitet hat. Seine Regesten sind gerade für die Briefe der 1530er Jahre deutlich ausführlicher. Sie folgen sehr eng der je­weiligen Quelle und bilden diese ausgezeichnet ab.
Zwei umfangreiche Register über Orte und Personen (1205–1277) sowie Bibelstellen (1279–1284) erschließen den Band. Im Orts- und Personenregister wurden außerdem in den Regesten erwähnte Publikationen des 16. Jh.s ihren Autoren zugeordnet. So kann man sich beispielsweise schnell informieren, über welche Schriften des Erasmus in den Briefen diskutiert wurde. Doch damit nicht genug! Der Verlag hat der Ausgabe eine CD-ROM beigegeben, auf der sich das komplette Buch als PDF-Datei befindet. Damit sind die Texte vollständig durchsuchbar und ein Sachregister erübrigt sich.
Wer bisher etwas über die Basler Reformation wissen wollte, musste auf die sechsbändige Aktensammlung (erschienen zwischen 1921 und 1950) von Emil Dürr (1883–1934) und Paul Roth (1896–1961) zurückgreifen, die den Zeitraum von 1519 bis 1534 dokumentiert. Dieses Quellenwerk wird in gewisser Weise durch diese Ausgabe der Briefe M.s fortgeführt. Das Regestenwerk kann zudem als vorbildhaft für weitere Reformatorenbriefausgaben bezeichnet werden. Wie hilfreich wäre es, für weitere Reformatoren so eine zuverlässige Ausgabe zu haben, die dann auch als Vorlage für eine (digitale) kritische Edition dienen könnte.