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Ausgabe:

April/2018

Spalte:

371–372

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Senger, Hans Gerhard

Titel/Untertitel:

Nikolaus von Kues. Leben – Lehre – Wirkungsgeschichte.

Verlag:

Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2017. 347 S. = Cusanus-Studien, XII. Lw. EUR 48,00. ISBN 978-3-8253-6561-5.

Rezensent:

Harald Schwaetzer

Trotz oder gerade wegen des Respekts, den er vor dem Autor hegt: Der Rezensent muss gestehen, dass er den vorliegenden Band in mancher Hinsicht enttäuscht aus der Hand gelegt hat. Hans Gerhard Senger, unstrittig einer der profiliertesten Kenner von Leben und Wirkungsgeschichte des Nikolaus von Kues, bietet mit dem Buch leider nicht das, was der Titel verheißt. Das »Leben« ist auf den Seiten 17–22 abgehandelt. Bei einem Buch von 350 Seiten dürfte dieses Prädikat dann schwerlich Anspruch auf den Titel erheben. Die »Lehre« wird auf den Seiten 151–183 vorgestellt. Des Cusanus ganze Lehre auf gut 30 von 350 Seiten? Zur Wirkungsgeschichte bietet das Buch immerhin reichhaltiges Material. Dieser Abschnitt (ab 219–291) ist etwas umfangreicher. Den wesentlichen Teil des Bandes nimmt eine umfassende, an die jeweiligen inhaltlichen Abschnitte angegliederte Bibliographie ein. In ihr liegt wohl der eigentliche Wert des Bandes. Als Einstieg oder auch nur zur Vertiefung sind die kurzen Textabschnitte kaum geeignet. Da bieten andere Darstellungen zu »Leben und Lehre« Substantielleres – beispielsweise die so unterschiedlichen Einführungen von Flasch, Winkler oder Leinkauf. Der in der Cusanus-Forschung Beheimatete findet in der Bibliographie ungefähr diejenigen Titel, die er auch online auf dem Cusanus-Portal hat. Dabei hat das Cusanus-Portal den Vorzug, Suchfunktionen zu bieten. Bei S. wird der Leser im Wust hunderter Titel, die weder chronologisch noch alphabetisch angeführt werden und die auch kein Register, sondern ausschließlich der Text erschließt, leider allein gelassen. Eine Online-Publikation wäre durchaus eine Option für dieses Buch gewesen. Dabei sind trotz der Fülle der Literatur, die verzeichnet wird, signifikante Lücken vorhanden. Die gewichtige Habilitationsschrift von Kirstin Zeyer zum Komplex »Cusanus in Marburg« beispielsweise fehlt schlicht; auch innerhalb der Arbeit zur Ästhetik und Kunst vermisst man u. a. einige Arbeiten von Elena Filippi; in der Diskussion um Mystik und Wissenschaft fehlt die Dissertation von Christiane Bacher, bei der Diskussion um die »coniectura« (156) gibt es keinen Verweis auf Inigo Bocken und seine in drei Sprachen erschienene »Kunst des Sammelns«, um nur einige Beispiele zu geben, die auf wesentliche (Qualifikations-)Arbeiten neueren Datums zielen. In der Darstellung, welche einer Übersicht der cusanischen Werke gewidmet ist, wird wenig Literatur angeführt – hier sind die Kriterien für das, was aufgeführt wird, unklar.
Aber das Buch hat auch eine andere Seite: Will man es positiv würdigen, so scheint eine große Lebensleistung eines Forschers auf, der die historischen Kontexte und Entwicklungen, die Quellen, das Umfeld und die Nachwirkungen in ausgezeichneter Weise kennt und in übersichtlichen Zusammenfassungen im Stile einer kommentierten Bibliographie knapp und übersichtlich zusammenfasst. Als Hilfsmittel zur Erschließung des Forschungsstandes leis­tet der Band fraglos einen gewissen Dienst. Vielleicht wird es mancher Doktorand als eine Hilfe empfinden, mancher Fachkollege zum Blättern und Nachschlagen nutzen. Trotz gewohnt deutlicher Urteile bietet der Band im eigentlichen Sinne nichts Eigenes oder Neues – und er will es auch gar nicht. Er will keine neue Interpretation vorlegen, er gibt einfach nur wieder, was im Forschungsstand der Fall ist. Dabei bleibt S., ebenfalls wie gewohnt, stets konservativ vorsichtig. Interpretatorischer oder spekulativer Mut ist nicht das Kennzeichen seines Denkens, und eben dadurch hat es auch ein ganz eigenes Verdienst. Es stellt sich nicht selbst mit kühner Geste in den Vordergrund. Und doch gilt: Niemand hätte dieses Buch so schreiben können. Die Vertrautheit mit Cusanus und mit der Sekundärliteratur, mit der Wirkungsgeschichte, die aus einem langen, intensiver Forschung gewidmeten Editorenleben stammt, kondensiert sich hier in einer Form, die als Zwitter zwischen Darstellung und Bibliographie mit im Gestus abundanter Fülle daherkommt; und man kann den inzwischen altmodischen, hier in eine bestimmte Vollendung getriebenen Stil einer kommentierten Bibliographie ausgesprochen sympathisch finden; es wird wohl kaum jemand in der Lage sein oder es auch nur wollen, diesem Buch einen Nachfolger zur Seite zu stellen.
So bleibt ein zwiespältiger Eindruck. Dankbarkeit und Anerkennung für jemanden, dessen Gelehrsamkeit ebenso wenig in Frage steht wie seine Ecken und Kanten in der Urteilsbildung und Stoffdarstellung, Bedauern über die Art, wie sich der Band darbietet, verbunden mit Fragen an manche Präsentation von Inhalten. Jedenfalls wäre mit einem Untertitel wie »Zum Forschungsstand von Leben, Lehre und Wirkungsgeschichte« dem Leser wie dem Autor geholfen gewesen.