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Ausgabe:

April/2018

Spalte:

368–370

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schneider, Bernhard

Titel/Untertitel:

Christliche Armenfürsorge. Von den Anfängen bis zum Ende des Mittelalters. Eine Geschichte des Helfens und seiner Grenzen.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2017. 480 S. Geb. EUR 29,99. ISBN 978-3-451-30518-4.

Rezensent:

Jörg Ulrich

Das Buch ist eine späte Frucht des im Jahre 2012 planmäßig ausgelaufenen Trierer Sonderforschungsbereiches »Fremdheit und Armut«. Sein Verfasser Bernhard Schneider ist Professor für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität Trier und war Leiter des SFB-Teilprojekts »Armut und katholische Identität in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts«. Die nun veröffentlichte Monographie ist allerdings weniger ein Forschungsbeitrag im engeren Sinne, sondern eine ambitionierte Längsschnittdarstellung der Geschichte der christlichen Armenfürsorge. Sie behandelt die Zeit von den Anfängen bis zum Ausgang des Mittelalters. Ein zweiter Band, der die (frühe) Neuzeit und damit auch die reformatorischen Veränderungen in den Blick nehmen soll, ist in Aussicht gestellt (16). Mit dessen Erscheinen hätten wir dann seit Langem wieder eine kohärente Überblicksdarstellung der Thematik vorliegen, die die gesamte Geschichte des Christentums um­fasst. Eine solche Darstellung fehlt im deutschen Sprachraum seit rund 100 Jahren (19).
Die Perspektive des Buches ist eine dezidiert kirchengeschichtliche, was die Rezeption von Einsichten aus der Sozialgeschichte selbstverständlich einschließt. Ins Zentrum gestellt wird Armut als Zustand wahrgenommener Not, wobei auch die Diskurse erörtert werden, in denen sich die Gesellschaften der jeweiligen Zeit(en) über diesen Zustand verständigten (16). Dabei geht es nicht nur um die eher inkludierende Frage der Abhilfe, sondern auch um die exkludierende der Verweigerung von Hilfsleistungen. Die Ge­schichte der christlichen Armenfürsorge ist immer eine Geschichte sowohl des Helfens als auch der Grenzen des Helfens, wie der zweite Untertitel des Buches (3) von vornherein klarmacht. Der Vf. erliegt somit nicht der Versuchung, die einige der traditionellen Gesamtdarstellungen gleich welcher Konfession (Ratzinger, Uhlhorn) durchaus bestimmte, nämlich den Gegenstand allzu einlinig als Erfolgsgeschichte des Christentums zu präsentieren; vielmehr wird über die gesamte Darstellung hinweg in vorbildlicher Weise differenziert.
Ein bisschen seltsam mutet an, dass der Vf. der Darstellung ein kurzes Kapitel über die »biblische Basis« (25–44) voranstellt, denn es wird nicht ganz klar, worin die Sonderstellung dieses (sich historisch ja später anzusiedelnden Kanonisierungsprozessen verdankenden) Sets von Texten im Blick auf das frühe Christentum bestehen soll. Wie dem auch sei: Die alttestamentlichen und neutestamentlichen Befunde werden konzise dargestellt. Es folgt ein großer Hauptteil über die Entfaltung der christlichen Armenfürsorge in Theorie und Praxis der frühen Kirche (45–80). Sehr gut ist, dass der Vf. nun nicht einfach chronologisch vorgehend die Phänomene vorstellt, sondern das Material nach übergeordneten Fragestellungen anordnet: Diskurse um Arm und Reich, um Kranke und Krankheit und über mögliche Grenzen der Hilfe kommen so zur Darstellung, ehe die konkreten Praktiken der Armen- und Krankenfürsorge einschließlich ihrer fortschreitenden Institutionalisierung in den Blick genommen werden.
Methodisch analog geht der große Teil über das Frühmittelalter des Westens vor (81–137). Nach einer Klärung einschlägiger Begriffe aus den relevanten theologischen Diskursen der Zeit stellt der Vf. die Normen und Praktiken der Armenfürsorge und ihre Institutionen dar: Armenmatrikeln kommen so ebenso in den Blick wie die Xenodochien (Hospitäler), die monastische Armen- und Krankenfürsorge, die (sowohl in Konstantinopel wie auch in Rom anzutreffenden) Diakonien und die (schon in der Antike und dann in der Merowingerzeit nachweisbaren) Leprosien. Man staunt bei der Lektüre darüber, wie reich und vielfältig die frühmittelalterliche Armenpflege war; freilich auch darüber, welch enormen Bedarf an derartiger karitativer Tätigkeit es ganz offensichtlich gab.
Für das Hochmittelalter (138–307) zeigt der Vf. auf, wie sich den alten Trägern der Armen- und Krankenfürsorge allmählich neue hinzugesellen. In den Bischofsviten nimmt die Betonung des karitativen Engagements der hohen kirchlichen Amtsträger einen signifikant größeren Raum ein. Die herrscherlichen karitativen Werke spielen eine immer bedeutendere Rolle bis hin zu Kaiser Heinrich IV., der in der Stilisierung seiner Vita regelrecht als »Ar­menkaiser« begegnet. Die Orden (Benediktiner in der Tradition Clunys, Zisterzienser) profilieren sich noch einmal ganz neu im Bereich der Armenfürsorge, wobei freilich bei den dezidiert arm lebenden eremitisch geprägten Gemeinschaften (Kartäuser) die eng begrenzten eigenen Ressourcen eine limitierende Wirkung hatten. Unmittelbar zugunsten der Armen und Bedürftigen wirkten die neuen Hospitalorden, während die Leistung der (selbst der Armut verpflichteten) Bettelorden (Franziskaner, Dominikaner) weniger in besonderem karitativem Engagement bestand, sondern vielmehr in einer Rehabilitierung der Armen in der Gesellschaft (246). Praktizierte Werke der Barmherzigkeit gegenüber Armen und Kranken finden wir dann bei den ab dem 12. Jh. allmählich entstehenden semireligiösen Gemeinschaften, allen voran den Be­ginen (258–260), die sich häufig gezielt in der Nähe von Spitälern ansiedelten und dort eine bedeutende diakonische Wirkung entfalt eten. Insgesamt kann man sagen: Es gelingt dem Vf. in diesem Kapitel, die bisher mitunter etwas plakativ gebrauchte Rede von der »Armutsbewegung« des Hochmittelalters durch detailgenaue Darstellung der Phänomene einer erheblichen Differenzierung zu­zuführen.
Das letzte große Kapitel behandelt das Spätmittelalter (308–373). Dieses erscheint als ausgesprochene Umbruchzeit, die sich da­durch auszeichnet, dass nun zwischen »guten Armen« und »schlechten Armen« stärker unterschieden wird: Zu den traditionellen Bemühungen um Hilfe und um Linderung von Armut treten nun das Lob der Arbeit und die Polemik gegen das Betteln hinzu. Die Bedeutung der kommunalen Instanzen für die Armen-fürsorge nimmt zu (346–358). Am Ende des Kapitels erfolgt ein Ausblick auf das Problem von Armut und Armenfürsorge in humanistischem Kontext (367–373) von Sebastian Brant bis zu Erasmus von Rotterdam; freilich macht der Vf. darauf aufmerksam, dass er zu diesem noch recht wenig erforschten Feld nur eine Annäherung vollziehen, weniger Ergebnisse präsentieren kann.
Der Vf. hat ein sachlich gehaltvolles, methodisch überzeugendes Buch vorgelegt, dessen Vielfalt und Reichtum hier nicht von ferne darzustellen war. Das Werk hat ein erkennbares Achtergewicht auf dem Mittelalter (gegenüber den Befunden aus Antike und Spätantike), und es beschränkt sich unter Absehung von den östlichen/byzantinischen Entwicklungen weitgehend auf das Abendland; hier wiederum setzt es einen geographischen Schwerpunkt beim Raum des später so genannten Heiligen Römischen Reiches. Eine solche Schwerpunktsetzung ist natürlich sehr traditionell; andererseits trägt sie den Entwicklungslinien Rechnung, die den christlichen Umgang mit Armut in ebenjenen Regionen Deutschlands und Europas geprägt haben, in denen die avisierte Leserschaft des Buches angesiedelt ist.
Es handelt sich um eine in doppeltem Sinne lesenswerte Darstellung: einmal, weil sie ihren Gegenstand auf wissenschaftlich hervorragendem Niveau zuverlässig präsentiert, und zweitens, weil sie einfach gut geschrieben ist, was die Lektüre angenehm und mitunter regelrecht spannend macht. Die gelegentlich eingestreuten Abbildungen aus der christlichen Kunst und Ikonographie sind ein optisches Vergnügen. Dem Vf. ist für dieses Werk zu danken und für die Arbeit am zweiten Band möchte man ihm gutes Gelingen wünschen.