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Ausgabe:

April/2018

Spalte:

361–363

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Weidner, Eric

Titel/Untertitel:

Strategien zur Leidbewältigung im 2. Korintherbrief.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2017. 320 S. m. 4 Tab. = Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament, 212. Kart. EUR 69,00. ISBN 978-3-17-032198-4.

Rezensent:

Thomas Schmeller

Eric Weidners Buch, das auf eine zunächst von Friedrich Avemarie, nach dessen frühem Tod von Angela Standhartinger betreute Doktorarbeit zurückgeht, beginnt mit einem schönen Zitat von Georg Büchner: Das Leiden sei »der Fels des Atheismus« (19). Wie kann man, fragt W., heute angesichts des Leidens am christlichen Gottesglauben festhalten und wie konnte Paulus das zu seiner Zeit? Um das Ergebnis vorwegzunehmen: W. zeigt überzeugend, welche Strategien der Leidbewältigung Paulus entwickelt, aber er stellt selbst am Schluss zu Recht fest, dass Paulus nicht am Woher, sondern am Wozu des Leidens interessiert sei. Auf die Theodizee-Problematik findet sich in den Briefen keine Antwort. Insofern passt das Eingangszitat nur bedingt.
Die Wahl des 2. Korintherbriefs für die Anwendung von W.s Fragestellung liegt nahe, denn in keinem anderen Brief spielt das Leiden eine vergleichbar große Rolle. Die bisherigen Forschungsbeiträge ordnet W. zu fünf Gruppen (Leiden als 1. »mystisch verstandene Analogie zu den Leiden Christi«, 2. »Epiphanie des leidenden Christus«, 3. Geschick des »leidenden Gerechten«, 4. »mystische Be­gründung für die Parallele der Leidenden zu Christi Leiden« und 5. ἀσθένεια in ihrem paradoxen Verhältnis zur δύναμις [alle Zitate: 21]). Seine Auswertung dieses Forschungsüberblicks macht einige Desiderata deutlich: Methodisch wird oft nicht geklärt, was unter »Leiden« eigentlich verstanden werden soll, wie die relevanten Stellen ausgewählt werden und welche Referenz die erste Person Plural hat. Inhaltlich wird oft zu wenig nach dem Verhältnis zwischen Paulus und der Gemeinde gefragt: Wird Paulus durch sein Leiden zum Heilsmittler für die Gemeinde?
Solche Desiderata will W. befriedigen. Dazu entwirft er – nach einer überzeugenden Klärung des Leidensbegriffs – ein Raster, bei dem nach den Betroffenen, der Ebene der Leiderfahrung (sozial-psychisch oder somatisch-physisch), den Leidursachen (Ereignisse oder Handlungen) und den Verantwortlichen gefragt wird. Von den möglichen Umgangsweisen mit dem Leiden interessiert ihn vor allem die Leidbewältigung durch bestimmte Strategien, die das Leiden in einen neuen Sinnhorizont stellen. Mit diesen Fragen sollen Texte des 2Kor untersucht werden, in denen von θλῖψις die Rede ist – ein Auswahlkriterium, das ausführlich begründet wird.
In einer kurzen Behandlung der Einleitungsfragen zum 2Kor lässt W. die Einheitlichkeit offen, trifft aber eine wichtige Entscheidung bezüglich der ersten Person Plural: Hier will er »von einem echten Plural und einer Paulus-Gruppe ausgehen, ohne diese mit einer Verfassergruppe gleichzusetzen« (104). Diese Entscheidung hält er durch und schreibt deshalb alle in der 1. Person Plural formulierten Leiderfahrungen einer sogenannten Paulus-Gruppe zu, die nicht näher umschrieben wird. Angesichts der Bedeutung für die Auslegung wäre hier m. E. eine ausführlichere Begründung und Erläuterung unbedingt nötig gewesen.
Nach der Klärung der Voraussetzungen für seine Arbeit behandelt W. in Teil II (105–234), dem Hauptteil seiner Arbeit, die Leidbewältigung in 2Kor 1–8, immer konzentriert auf den θλῖψις-Begriff (Kapitel 9 wird nicht berücksichtigt, weil dort θλῖψις nicht vorkommt). An konkreten Texten untersucht er 1,3–11; 1,23–2,11; 4,7–15; 4,16–18; 6,3–13; 7,2–4; 7,5–16; 8,1–15. Dabei folgt W. jeweils dem im ersten Teil entwickelten und begründeten Schema. Diese gleichbleibende Vorgehensweise erleichtert den Mitvollzug. Hilfreich ist auch das jeweils ans Ende einer Textbesprechung gestellte »Zwischenfazit«. Natürlich kann ich hier nur wenige Aspekte der Auslegung hervorheben, die mir aufgefallen sind:
Bei der Besprechung von 1,3–11 bietet W. einen Exkurs zur Bedrängnis des Paulus in der Asia (109–111). Er entscheidet sich gegen die Identifikation mit einer Krankheit und für ein Leiden, das Paulus von anderen Menschen zugefügt wurde, ohne dieses genauer festlegen zu wollen. – Mehrfach kommt W. auf die Frage zu sprechen, ob Paulus sich als Heilsmittler für die Gemeinde verstehe (117 f.122.165 f.205). Sein Resultat ist immer negativ. Das Heil oder der Trost, den Paulus für die Gemeinde bewirkt, beruhe lediglich auf seiner kontinuierlichen Verkündigungstätigkeit. Ich bin nicht sicher, ob das nicht zu kurz greift. – Es gibt zwar nicht nur Strategien zur Leidbewältigung, sondern auch solche zur Leidvermeidung oder -beendung (z. B. 2,1–4.6–8.10 f.). Meistens bleiben allerdings die Leidursachen bestehen und erhalten durch die paulinische Deutung einen positiven Sinn. – In 7,3 will W. zu »Mitsterben und Mitleben« ergänzen: »mit Christus«. Das ist nicht unmöglich, auch wenn der Kontext keine christologische Aussage enthält. Diesen Aspekt aber als die entscheidende Aussage des Verses zu lesen (so 209), ist m. E. kaum zu begründen.
Teil III (235–255) bietet einen kurzen Ausblick auf 2Kor 10–13 – kurz deshalb, weil hier W.s Leitbegriff θλῖψις nicht mehr begegnet, im Unterschied zu Kapitel 9 aber immerhin von Leiderfahrungen die Rede ist. Statt an der θλῖψις orientiert sich W. jetzt an der ἀσθένεια, die für Kapitel 10–13 wichtig ist. Das Frageraster bleibt gleich und wird auf 11,23b–33; 12,1–10; 13,1–10 angewendet. Die erhobenen Strategien sind W. zufolge mit denen in den Kapiteln 1–8 durchaus vereinbar. Paulus vertritt im ganzen Brief »gegenüber der korinthischen Gemeinde in Bezug auf die mögliche Bewältigung von Leiden eine kohärente Position« (255).
Der Schlussteil IV (257–290) bietet eine Auswertung. Im Rückblick zeigt sich: Vom Leid betroffen ist überwiegend eine 1. Person Plural (die W. auf »eine Mitarbeitenden-Gruppe mit nicht näher präzisierten Mitgliedern« [264] deutet), weit seltener das Ich des Paulus oder die Gemeinde. Das Leiden liegt für die korinthische Gemeinde ausschließlich auf der sozial-psychischen, für die Paulus-Gruppe auch auf der somatisch-physischen Ebene. Verursacht ist es in den Kapiteln 1–8 immer durch Handlungen (Gegner, Verfolger, Gemeinde bzw. Paulus selbst), in 10–13 auch durch Ereignisse (z. B. der »Stachel im Fleisch«). Es sind vier Leidbewältigungsstrategien zu erkennen: 1. Die »Parallelisierung zu Leiden und Auferweckung Christi« (268), eine wichtige, aber keineswegs die ein-zige oder für die gesamte Leiddeutung grundlegende Strategie. 2. »Positive Wirkung des Leidens«, z. B. Gottvertrauen (270). 3. »In Gott begründete Standhaftigkeit und Bewahrung im Leiden« (273). 4. »Beendung des Leidens durch Gottes Trost« (274), wobei die Paulus-Gruppe das Ende von Leiderfahrungen »dem tröstenden Handeln Gottes zu[schreibt], unabhängig davon, wie das Leiden konkret beendet worden ist« (275).
Es gibt für W. zwar kein Grundmodell, auf das alle vier Strategien zurückgeführt werden könnten, aber gemeinsam ist ihnen, dass »der für Paulus vorausgesetzte Bezug Gottes zur Wirklichkeit auch im Leiden nicht aufgegeben wird, sondern gerade auch dort gilt« (281).
W. hat ein wunderbar klares und konsequentes Buch geschrieben. Er argumentiert und differenziert sehr genau. Das macht die Lektüre zu einer Freude. Dass ich nicht mit allen Aussagen einverstanden bin (besonders im Hinblick auf die Deutung der 1. Person Plural und auf die Bedeutung der paulinischen Leiden für die Gemeinde), dürfte erkennbar geworden sein. Dass dieses Buch aber viele Leser verdient hat, möchte ich zum Abschluss betonen.