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Ausgabe:

April/2018

Spalte:

358–361

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schröter, Jens, u. Christine Jacobi [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Jesus Handbuch. Hrsg. unter Mitarbeit v. L. Nogossek.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2017. XIII, 685 S. = Handbücher Theologie. Kart. EUR 49,00. ISBN 978-3-16-153853-7.

Rezensent:

Karl-Wilhelm Niebuhr

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Schröter, Jens: Jesus von Nazaret. Jude aus Galiläa – Retter der Welt. 6., vollständig überarb. u. aktualisierte Aufl. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2017. 420 S. m. zahlr. Abb. = Biblische Gestalten, 15. Kart. EUR 20,00. ISBN 978-3-374-05043-7.


Die inzwischen gut eingeführte Reihe von Handbüchern aus dem Verlag Mohr Siebeck zu zentralen Gestalten der Christentumsgeschichte, bisher u. a. zu Luther, Augustinus, Paulus, Thomas von Aquin, Schleiermacher, wird mit einem Band zu Jesus fortgesetzt. Dass diesem eine Sonderstellung zukommt, ergibt sich schon aus der Aufzählung der eben genannten Namen und wird von den Herausgebern auch sogleich in ihrer Einleitung angesprochen: Jesus kann eben nicht in gleicher Weise als Gestalt der Christentumsgeschichte betrachtet werden wie Luther, Barth oder Bultmann, obwohl er nach dem gegenwärtigen Stand historischer Forschung und hermeneutischer Reflexion auch nicht einfach aus ihr herausgenommen werden kann. Die damit verbundenen hermeneutischen und methodischen Probleme werden in dem vorliegenden Handbuch immer wieder thematisiert. Darin liegt eine seiner Stärken.
Das zeigt sich schon am Aufbau. Die bei den Mohr Siebeck-Handbüchern übliche Aufteilung in »Orientierung – Person – Werk – Wirkung« wird im vorliegenden Band nicht einfach übernommen oder verworfen, sondern intelligent modifiziert: Der Orientierung dienen ein forschungsgeschichtlicher Teil (»Geschichte der historisch-kritischen Jesusforschung«, 15–124) und die Vorstellung der Quellen (»Das historische Material«, 125–181). Person und Werk werden, wie bei Jesus gar nicht anders möglich, zusammenhängend dargestellt und bilden den Kern des Werkes (»Leben und Wirken Jesu«, 183–486). Am Ende stehen exemplarische Ausblicke zur weiterwirkenden Bedeutung Jesu, angefangen bei der frühesten nachösterlichen Bekenntnisbildung bis hin zu bildlichen Darstellungen Jesu im 5. Jh. (»Frühe Spuren von Wirkungen und Rezeptionen Jesu«, 487–561). Von besonderem Gewicht sind die Einführungen der Herausgeber zu jedem der Hauptteile (soweit ich sehe ein Novum in der Handbuch-Reihe), die jeweils nicht bloß eine Hinf ührung zu den folgenden Einzelbeiträgen bieten, sondern vor allem auch methodische und hermeneutische Grundsatzfragen thematisieren, die in der Fülle der historischen Details bisweilen unterzugehen drohen. So sprechen sie z. B. in der Einführung zu den Quellen das Verhältnis von »historischem Material« und »Glaubenszeugnissen« an (127), in derjenigen zum Kernteil »Leben und Wirken Jesu« die Frage, ob eine »Biographie Jesu« geschrieben werden kann (184), und in der Einführung zum letzten Teil das Verhältnis und den Unterschied von »Wirkungen« und »Rezeptionen« (488), alles immer auf ganz wenigen Seiten. Sicher könnte man bei manchen dieser Fragen auch andere Akzente setzen, und zweifellos verdienen die angesprochenen Themen ausführlichere Erörterungen, aber allein dass sie hier benannt und damit die Leser bei der Durcharbeitung des gebotenen Stoffs zu eigenen Überlegungen ge­zwungen werden, verdient hohe Anerkennung.
Dass auch ein Handbuch, obwohl ein Sammelwerk mit Beiträgen von fast einem halben Hundert verschiedener Autorinnen und Autoren, Position beziehen kann, zeigt die etwas ausführlichere Einleitung der Herausgeber zum Gesamtwerk (2–14), die mit ihrer Einführung zum forschungsgeschichtlichen Teil (16–20) und dem Beitrag von Jens Schröter darin zur letzten bzw. aktuellen Phase der Jesusforschung (»Der ›erinnerte Jesus‹: Erinnerung als geschichtshermeneutisches Paradigma der Jesusforschung«, 112–124) zusammen gelesen werden kann. Das in der zitierten Überschrift begegnende Stichwort »erinnerter Jesus« signalisiert schon in der Einleitung die Frage nach den geschichtshermeneutischen Prämissen der Jesusforschung, die der Leser auch in den folgenden forschungsgeschichtlichen und sachlich-thematischen Einzelbeiträgen immer im Blick behalten soll, um sich am Ende auf der Grundlage des im Handbuch zusammengetragenen Forschungsertrags historisch informiert, theologisch orientiert und hermeneutisch reflektiert eine Meinung bilden zu können. Mit dieser Konzeption des »erinnerten Jesus« (zu deren Herausarbeitung Schröter selbst wesentlich beigetragen hat) gehen die Herausgeber deutlich hinaus über die in der klassischen Frage nach dem »historischen Jesus« immer noch verbreitete Vorstellung von einem historisch rekonstruierbaren »irdischen Jesus« im Unterschied zu einem allein theologisch zu erfassenden »österlichen« (bzw. schlimmer noch: »nachösterlichen«) Christus des Glaubens. Dieser schon von Martin Kähler grundsätzlich kritisierte Ansatz basiert auf der falschen und oft unreflektierten Annahme, man könne im Blick auf Jesus wie im Blick auf sonstige historische Gestalten zwischen einem historischen Kern und einer sekundären, von ihm ›abzuschälenden‹ theologischen Deutung strikt unterscheiden. Eine solche Scheidung dürfte auch im Blick auf sonstige historische Gegenstände unzureichend sein. Mit Blick auf Jesus würde sie schlichtweg alles vernichten, was an ihm für uns heute bedeutungsvoll sein könnte. Demgegenüber »(bedarf) es eines besonderen Erkenntnisprozesses […], um in dem irdischen Jesus den auferweckten und erhöhten Christus zu erkennen« (5). Dabei nutzt die neutestamentliche Wissenschaft in der Jesusforschung ein Verfahren, »das die biblischen Texte gemeinsam mit dem übrigen historischen Material auf der Grundlage der historischen Kritik interpretiert und ihre Gegenwartsbedeutung auf dieser Basis durch hermeneutische und wirkungsgeschichtliche Reflexionen zur Geltung bringt« (4). Dazu gehört aber heute eben auch die (selbst-)kritische Reflexion der »historisch-kritischen Jesusforschung«. Das geschichtshermeneutische Konzept der »Erinnerung an Jesus« lässt somit die historisch ermittelten Umrisse des Wirkens und des Geschicks Jesu selbst als »eine spezifische Weise der Jesuserinnerung und kein Weg zur Ver gangenheit ›hinter‹ den Texten« (124) erkennen. Dieser methodisch-hermeneutische Ansatz stellt tatsächlich eine »geschichtshermeneutische Vertiefung der historisch-kritischen Jesusforschung« (9) dar, die m. E. in den gegenwärtigen akademischen Kon­texten ›westlicher‹ Theologie (über Alternativen dazu ist an dieser Stelle nicht zu reden) unumgänglich ist.
Die Einzelbeiträge zu den Hauptteilen des Werkes können hier nur aufgezählt und summarisch gewürdigt werden. Der forschungsgeschichtliche Teil setzt ein mit einem knappen Beitrag zur sogenannten »vorkritischen« Periode (M. Ohst zu Antike, Mittelalter, Reformationszeit) und behandelt dann in neun Einzelbeiträgen Aspekte der Jesusforschung vom 18. Jh. (A. Beutel) über das 19. Jh. (E. D. Schmidt zum Historismus, J. S. Kloppenborg zum Mythosbegriff und zur Zweiquellentheorie) und das 20. Jh. (J. Carleton Paget zur »konsequenten Eschatologie«, R. von Bendemann zur Kerygma-Theologie, C. Breytenbach zur literaturwissenschaftlichen Evangelienforschung, C. Keith zu Kriterien der Jesusforschung, D. du Toit zum »Third Quest«) bis zur Gegenwart (J. Schröter zum »erinnerten Jesus«). Die Beiträge zu den Quellen stammen von J. S. Kloppenborg (synoptische Evangelien), J. Frey (Johannesevangelium), C. Jacobi (übrige NT-Schriften), S. Gathercole (außerkanonische Schriften), S. Mason (pagane und jüdische Quellen) und J. K. Zangenberg (nichtliterarische Quellen). Der Hauptteil zu Leben und Wirken Jesu umfasst die Kapitel »Politische Verhältnisse und religiöser Kontext« (Beiträge von D. R. Schwartz und L. Doering), »Biographische Aspekte« (S. Hultgren, L. Doering und J. K. Zangenberg) und »Öffentliches Wirken« (K. Backhaus und J. G. Crossley zum sozialen Kontext, J. Verheyden, H. Löhr, A. Weissenrieder, B. Kollmann, C. Zimmermann, D. L. Bock/J. Schröter, Y. Fürstenberg und M. Böhm zum Handeln Jesu, C. Gerber, C. Evans/J. J. Johnston, R. Zimmermann, M. Wolter, K.-H. Ostmeyer, T. Kazen und M. Ebner zu den Reden bzw. zum Lehren Jesu, F. W. Horn und M. Labahn zum Ethos Jesu, M. Tiwald, H. Löhr und S.-O. Back zu den Passionsereignissen). Im wirkungsgeschichtlichen Schlussteil stehen Beiträge zur Auferstehung (C. Jacobi), zu frühen Glaubensbekenntnissen (S. Vollenweider), christologischen Hoheitstiteln (D. du Toit), frühen Gemeinde- und Leitungsstrukturen (M. Öhler), zu Jesus in außerkanonischen Texten (T. Nicklas), zu ikonographischen Quellen (K. Heyden/R. Schär) und zur Ethik (U. Volp). Die Liste der Namen zeigt, dass für die Einzelkapitel durchweg einschlägig ausgewiesene Fachleute gewonnen wurden, darunter nicht wenige aus der internationalen Gilde.
Das fachliche Niveau bei der Darstellung der Forschungslage und der Diskussion der Quellenbefunde ist durchweg hoch, oft detailliert und nicht selten komplex. Als einführendes Lehrbuch für Studierende der Theologie ist das Handbuch daher nach meinem Eindruck weniger geeignet (hier bleibt das gut eingeführte Lehrbuch von Theißen und Merz mit seiner hervorragenden methodisch-didaktischen Erschließung unersetzt). Aber für die vertiefende Beschäftigung mit Einzelfragen der Jesusforschung bietet es ausgezeichnete Hinführungen. Die einzelnen Beiträge sind natürlich (zum Glück!) öfter bestimmt von den jeweiligen Forschungsschwerpunkten und gelegentlich auch von bestimmten Thesen ihrer Autoren, aber im Ganzen ist der Band alles andere als einseitig, und es kommen auch Positionen zur Geltung, die nicht im mainstream liegen. Die Literaturauswahl zu den Einzelbeiträgen (meist ca. fünf, selten bis zu zehn Titel) ist zwangsläufig subjektiv, wird aber durch das umfangreiche Literaturverzeichnis am Schluss des Bandes sowie eine Liste zur grundlegenden Orientierung in der Einleitung (13) ergänzt. Auch hier wird offenbar kein Lehrbuchstandard angestrebt, denn zu den angeführten Titeln gehören oft auch Spezialuntersuchungen oder detailliert argumentierende Fachaufsätze. Vor allem aber überzeugt die konzeptionell angelegte Verbindung zwischen den überaus facettenreichen Einzelaspekten der Jesusforschung und übergreifenden Fragen der historischen und theologischen Interpretation.
Neben insgesamt 46 Autorinnen und Autoren (einschließlich der Herausgeber) haben zahlreiche weitere Mitarbeiter am Berliner Lehrstuhl von Jens Schröter zum Zustandekommen des Handbuchs und seiner hohen Qualität, auch im Blick auf die Benutzbarkeit, beigetragen (Literaturverzeichnis: 565–617, umfangreiche Re­gister: 619–685). Eigens auf dem Titelblatt und im Vorwort ge­nannt wird Lena Nogossek. Hier soll aber die hervorragende Qualität der Übersetzungen aus dem Englischen von Matthias Müller einmal besonders gewürdigt werden. Ihm gelingt eine präzise und klare, detaillierte und gleichzeitig flüssige und eingängige Fachsprache, die bisweilen den deutschen Originalbeiträgen überlegen ist.
Fast gleichzeitig mit dem »Jesus Handbuch« hat Jens Schröter auch sein eigenes Jesus-Buch in 6. Auflage neu herausgebracht (vgl. zur 2. Aufl. der deutschen und zur englischen Fassung A. Puig i Tàrrech, ThLZ 140 [2015], 648–651). Über die auch in früheren Auflagen schon jeweils erfolgte Korrektur von Versehen und gelegentliche Aktualisierungen hinaus wurde für die Neuauflage jetzt durchgängig neuere Sekundärliteratur eingearbeitet. Außerdem wurden folgende Teile auch inhaltlich überarbeitet und ergänzt: A. 2. Forschungsgeschichte (41–44, nähere Erläuterungen zum geschichtshermeneutischen Konzept des »erinnerten Jesus«); A. 3. Das historische Material (47 f., ein kurzer Abschnitt zum Kaiaphas-Ossuar); in den Exkurs zu Synagogen und Wohnhäusern in Galiläa (B. 1.2) wurden neuere Grabungsbefunde zu Synagogen aus dem 1. Jh. n. Chr. in Galiläa (Magdala, Tel Rekhesh) eingearbeitet (94–97); der Ab­schnitt zu den Heilungen und Exorzismen (B. 2.2.2) wurde deutlich erweitert (168–172); in B. 2.3.2 wurde ein eigener Abschnitt zu den Gleichnissen Jesu hinzugefügt (231–243). Einige Abbildungen werden jetzt im Bildteil am Schluss des Bandes in deutlich besserer Qualität dargeboten. Das Literaturverzeichnis ist nun noch um­fangreicher (wenn auch auf weniger Seiten). Leider fehlen – den Vorgaben der Reihe geschuldet – Register, was bei einem Band von über 400 Seiten doch etwas hinderlich ist. Gleichwohl liegt hier eine bestens informierte und informierende Gesamtdarstellung auf aktuellem Forschungsstand in gut verständlicher Darstellung vor.