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Ausgabe:

April/2018

Spalte:

353–355

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Longenecker, Richard N.

Titel/Untertitel:

The Epistle to the Romans. A Commentary on the Greek Text.

Verlag:

Grand Rapids u. a.: Wm. B. Eerdmans 2016. LXVII, 1140 S. = The New International Greek Testament Commentary. Geb. US$ 80,00. ISBN 978-0-8028-2448-6.

Rezensent:

Walter Klaiber

Die Arbeit am Römerbrief geht weiter – auch im englischsprachigen Bereich. Nach dem voluminösen Kommentar von R. Jewett, der 2007 in der Reihe Hermeneia mit einem Umfang von 1140 S. erschienen ist, hat jetzt Richard N. Longenecker (Jahrgang 1930) nach vielen Vorarbeiten eine Auslegung mit exakt der gleichen Seitenzahl (allerdings nur einspaltig) publiziert. In vielerlei Hinsicht bietet er eine klare Alternative zu der Kommentierung Jewetts, aber auch zu anderen neueren Auslegungen des Briefs.
Er beginnt nach Abkürzungs- und Literaturverzeichnis mit einer relativ kurzen Einleitung zu wichtigen Auslegungsfragen, zum Profil des Kommentars und zur handschriftlichen Überlieferung (1–39). Die Kommentierung jeder Perikope erfolgt in fünf Schritten: Übersetzung, textkritische Anmerkungen, Überblicksanalyse unter der Überschrift Form/Structure/Setting, Einzelauslegung, Zusammenfassung mit dem bezeichnenden Titel Biblical Theology und hermeneutische Überlegungen (Contextualization for Today). Der textliche Befund wird sehr ausführlich dargelegt. Das führt gelegentlich zu Entscheidungen, die vom Mainstream abweichen (z. B. ἔχωμεν in 5,1 oder Zugehörigkeit von 16,25–27 zum ursprünglichen Brief). In der Strukturanalyse werden rhetorische und epistolographische Fragestellungen behandelt, es wird aber auch die relativ häufige Verwendung judenchristlicher Traditionen aufgezeigt.
Die Einzelauslegung ist meist sehr ausführlich; exegetische Alternativen werden vorgestellt und eingehend besprochen, auslegungsgeschichtliche Hinweise gegeben, grammatikalische und stilistische Fragen geklärt und wichtige theologische Weichenstellungen benannt und entschieden. Sympathisch ist, dass L. dort, wo er den Eindruck hat, dass seine Vorgänger Dinge schon genügend klar formuliert haben, sie auch ausführlich zu Wort kommen lässt. Auffallend ist freilich auch eine gewisse Ungleichmäßigkeit in der Behandlung der Perikopen. Während an vielen Stellen sehr genau exegetisch gearbeitet wird, werden andere, wichtige Abschnitte recht summarisch behandelt. Das betrifft besonders die späteren Kapitel. Die Auslegung von 1,1–4,25 nimmt fast die Hälfte des Kommentars ein (1–537).
Eine Besonderheit sind die beiden zusammenfassenden Ab­schnitte: In Biblical Theology wird der theologische Ertrag der Auslegung benannt und dem Gesamtzeugnis der Schrift zugeordnet – wobei der Kontinuität mit dem Alten Testament und der Jesusüberlieferung besondere Aufmerksamkeit gilt. Die Überschrift Contextualization for Today verspricht jedoch mehr, als die knappen Bemerkungen halten können. Sie bleiben meist im biblischen Kontext, zeigen aber mögliche Ansätze und Perspektiven für heu-tige Theologie und Verkündigung auf, ohne schon selbst eine »Kontextualisierung« zu versuchen.
Der Brief wird klar gegliedert: 1,1–12 sind die Opening Sections, die Body Sections finden sich in 1,13–15,32, und zwar nach einem knappen Body Opening (1,13–15) die vier Teile des eigentlichen Briefkorpus: 1,16–4,25; 5,1–8,39; 9,1–11,36; 12,1–15,13 und ein Body Closing (15,14–32). 15,33–16,27 bilden die Closing Sections des Briefes. Sein besonderes Profil erhält der Kommentar durch die Zuordnung von Teil I und II. Die grundlegende These, die immer wieder wiederholt wird, lautet: Der Schwerpunkt dessen, was Paulus weitergeben möchte, findet sich nicht in 1,16–4,25. Dort entfaltet Paulus, was er den Juden in der Synagoge verkündet und was ihn mit den Christen in Rom verbindet (16 f.), wobei die Argumentation in Form und Inhalt völlig jüdisch bzw. judenchristlich ist (146 ff.). »The essence of what the apostle believed to be uniquely his, and that he wanted his Christian addressees at Rome to understand and appreciate, is what he presents in Section II, in Rom 5:1–8:39« (573). »In 5:1–8:39 Paul sets out the basic features of the Christian gospel as he had contextualized that message in his Gentile mission to those who had no Jewish heritage and no biblical instruction« (547).
L. begründet diese These damit, dass in 5–8 Begriffe wie Versöhnung oder Adoption aufgegriffen werden, die im jüdischen Bereich keine Rolle spielen, dass ausführliche Schriftzitate fehlen, dass anstelle der juridischen Aspekte der Rechtfertigungsbotschaft Themen wie Friede, Gnade und Liebe Gottes in den Vordergrund treten und durch die Wendungen in Christus und im Geist Kategorien der persönlichen Beziehung und partizipatorische Aspekte betont werden (709.760).
Diese Beobachtungen sind grundsätzlich richtig, aber die Folgerung, die L. daraus zieht, ist nicht überzeugend. Schon die unterschiedliche Gewichtung, die Teil I und II in L.s Auslegung erhalten, lassen Zweifel an seiner These aufkommen. Dass Paulus in 1,16–4,25 gewissermaßen als captatio benevolentiae entfaltet, was er für Allgemeingut (juden-)christlicher Verkündigung hält, widerspricht dem rhetorischen Profil dieses Textes. L. vernachlässigt auch die Verklammerung der Ausführungen in Teil II mit der Gesetzesproblematik und den Rechtfertigungsaussagen aus Teil I (vgl. 5,18–21; 6,12–23; 7; 8,1–11.33 f.). Umgekehrt: Es wird selten deutlich, inwiefern in 5–8 Vorstellungen aufgenommen werden, die gerade für Nichtjuden aussagekräftig sind (so wird die Frage, ob hinter den Taufaussagen in 6,3–11 Motive aus den Mysterien stehen könnten, überhaupt nicht diskutiert). In 7,14–25 geht es nach L. weder um den Menschen unter dem Gesetz noch um einen inneren Konflikt von Christen, sondern um »the tragic plight of people who attempt to live their own lives apart from God, that is, by means of their own resources and abilities«. Er kann aber zu dieser an und für sich sehr sympathischen Lösung nur kommen, weil er den Abschnitt ganz von 7,7–13 und der dort aufgeworfenen Gesetzesproblematik trennt. Dass L. dann auch versucht, das, was er als spezifisch für die Verkündigung des Paulus unter Nichtjuden identifiziert hat, mit dem zu harmonisieren, was die Apostelgeschichte von der Predigt des Paulus vor Heiden berichtet, stärkt seine Argumentation nicht (762).
L. setzt sich auch ausführlich mit der sogenannten »New Perspective« und ihrer Interpretation der »Werke des Gesetzes« auseinander. Er würdigt ihr Verdienst, wichtige Korrekturen an der traditionellen Interpretation der jüdischen Voraussetzungen der Rechtfertigungslehre vorgenommen zu haben, hält aber in der Ge­setzesfrage an der klassischen Auslegung fest (362–370). Bei der Interpretation von πίστις Χριστοῦ plädiert er für ein Ineinander von faithfulness of Christ und human faith als menschliche Antwort auf Gottes Liebe (408–415).
Im dritten Teil, 9–11, knüpft Paulus nach L. an den Begriff der ἐκλεκτοὶ θεοῦ in 8,33 an und will deutlich machen, in welcher Beziehung die beiden »communities« der Auserwählten Gottes aus Juden und Heiden zueinander stehen (769). Hier greift er wieder auf gemeinsame jüdische und judenchristliche Überzeugung zurück. Grundlage seiner Argumentation ist die »Jewish and/or Jewish Christian Remnant Theology«. Auch das ist schwierig. Zwar spielt der Restgedanke für Paulus eine Rolle (11,1–10). Aber ich sehe nicht, wie die Dialektik des Abschnitts mit seinen Spitzenaussagen vom Hinzukommen der »vollen Zahl der Heiden« (11,25), der Rettung von »ganz Israel« (11,26) und der Absicht Gottes »sich aller zu erbarmen« (11,28) gerade vom Restgedanken abgeleitet werden kann.
L. beteiligt sich übrigens auch an den neuerdings wieder aufgekommenen Vermutungen, dass es verschiedene Fassungen des Briefs gegeben haben könnte. Er hält es für denkbar, dass Paulus in der Gefangenschaft in Cäsarea oder in Rom sich noch einmal den Brief vorgenommen und eine Fassung für den allgemeinen Ge­brauch herausgegeben hat, in der in 1,7.15 der Name Rom ausgelassen wurde und die mit 14,23 und der Doxologie endete. Das würde die Existenz der kürzeren Fassung in der Textüberlieferung erklären! Aber das bleibt auch für L. Vermutung (1046 f.). Ausführliche Personen- und Stellenregister beschließen das Werk.
Trotz der genannten Rückfragen ist der Kommentar aufgrund seiner sorgfältigen und an vielen Stellen überzeugenden Einzelargumentation sehr zu empfehlen. Eine Rezension kann den Reichtum an wichtigen Beobachtungen zum Text nicht angemessen wiedergeben. Dass die Kommentierung an einigen Stellen merkwürdig knapp ausfällt (z. B. zu 5,18 f.; 6,19–23) oder dass die neuere deutschsprachige Literatur kaum berücksichtig ist, fällt dem gegenüber weniger ins Gewicht. Die Paulusexegese aber wird von L. vor die Herausforderung gestellt zu prüfen, ob Paulus in 1,16–4,25 wirklich »nur« entfaltet, was im Urchristentum Konsens war, oder ob er – bei aller Kontinuität mit jüdischem Denken und ur­christlicher Tradition – hier nicht doch den Durchbruch zu einer neuen, sehr viel umfassenderen theologischen Perspektive wagt, deren Konsequenzen er dann in den folgenden Abschnitten aufzeigt.