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Ausgabe:

April/2018

Spalte:

351–353

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Jaroš, Karl

Titel/Untertitel:

Das Evangelium nach Markus. Einleitung und Kommentar.

Verlag:

Aachen: Patrimonium-Verlag 2016. 411 S. Kart. EUR 34,80. ISBN 978-3-86417-073-7.

Rezensent:

Walter Klaiber

Karl Jaroš ist von Haus aus Alttestamentler, hat aber in den letzten Jahren viel über Fragen des Neuen Testaments, seine textliche Überlieferung und die synoptischen Evangelien veröffentlicht. Die Ergebnisse dieser Arbeiten werden im Kommentar vorausgesetzt. Dennoch umfasst die Einleitung ziemlich genau die Hälfte des Buches. Ein erster Teil listet die Abweichungen der ältesten Handschriften zum Text von Nestle-Aland28 auf. Ziel ist zu demonstrieren, dass die textliche Überlieferung die Annahme eines Ur- oder Deuteromarkus ausschließt. Das ist J. wichtig, weil er darin ein entscheidendes Argument gegen die Zwei-Quellen-Theorie sieht (minor agreements wären nur erklärbar, wenn Matthäus und Lukas eine andere Ausgabe des Markusevangeliums benutzt hätten). An einigen Beispielen wird dann aufgewiesen, dass Matthäus und Lukas unabhängig von Markus entstanden sein müssen. J. möchte weiter zeigen, dass die Texte nicht durch Gemeindebildung entstanden sein können, und beweisen, dass 7Q5 ein Fragment des Evangeliums aus der Zeit vor 50 n. Chr. ist.
Er hält die Papiasnotiz, dass Markus die Lehrvorträge des Petrus aufgezeichnet habe, für zutreffend und geht davon aus, dass sich Petrus von 42–44 n. Chr. auf der Flucht vor der Verfolgung durch Agrippa I. in Rom aufgehalten und Markus ihn dort begleitet und das Evangelium geschrieben habe. Was es bedeutet, dass »stemmatische Untersuchungen der Synoptiker« ergeben haben, dass dem Evangelium »neun Quellen zugrunde liegen«, die aber nicht rekonstruierbar sind, jedoch »auf Berichten von Augenzeugen beruhen« (108 f.), ist mir nicht klargeworden. Eingehend wird auch Sprache und Stil des Evangeliums analysiert und »als bestes zeitgenössisches Griechisch« qualifiziert, »wie es volkstümlich erzählende Werke in der Tradition der hohen griechischen Literatur bieten« (157).
Der Kommentar besteht zu großen Teilen aus der Wiedergabe des Textes, wobei der griechische Text mehr als 90 Abweichungen vom sogenannten Standardtext von Nestle-Aland28 aufweist. Zur Begründung wird nur auf die Einführung in die Textkritik von U. Victor in C. P. Thiede u. a., Antike Kultur und NT, 2003, 171–252, verwiesen. Stichproben zeigen, dass es sich in der Regel um eine Bevorzugung von A, C und Mehrheitstext gegen א und B mit ihrer lectio difficilior bzw. brevior handelt (Beispiel: in 9,29 ist und Fasten ursprünglich). Wichtige Ausnahme: 16,9–20 und alle anderen zu­sätzlichen Markusschlüsse sind sekundär. Dazu tritt eine deutsche Übersetzung, die sich an die Interlinearversion von E. Dietzfelbinger anlehnt. Das ist bei einem Kommentar, der so viel Wert auf sprachliche Genauigkeit legt, sehr merkwürdig, denn diese »Übersetzung« erweckt einen völlig falschen Eindruck von der Sprachgestalt des Textes im Griechischen. Einer der Schwerpunkte der Auslegung ist es aber, sprachliche Eigentümlichkeiten wie den Wechsel der Tempora zu erklären.
Wichtig sind weiter Informationen über Realien, alttestamentliche Zusammenhänge und rabbinische Parallelen. Die Erklärung ist sonst außerordentlich ungleich gewichtet: Zur Himmelsstimme bei der Taufe finden sich drei Zeilen (192), zur Gestalt des Teufels in 1,12 f. zweieinhalb Seiten, einschließlich (guter) Erwägungen zur heutigen Bedeutung; sechs Zeilen gibt es zur Berufung der ersten Jünger (196 f.), sieben Seiten zur ersten Dämonenaustreibung 1,22–28 (197 ff.; ähnlich zu 5,1–20: 234 ff.). 2,13–17 wird nicht erklärt, auch die Gleichnisse brauchen kaum eine Erläuterung. Zu 10,1–11 wird ausführlich über die ursprüngliche Haltung Jesu zur Ehescheidung diskutiert, während die Begegnung mit dem Reichen in 10,17–22 ganz knapp abgehandelt wird. Zu Jesu Todesschrei in 15,34 gibt es eine genaue philologische Erklärung, aber keine theologische Reflexion. Relativ ausführlich wird 12,28–34 und das Gebot der Nächstenliebe behandelt.
Allerdings scheint manches auf Harmonisierung mit traditionellen Ansichten angelegt zu sein. Die Brüder und Schwestern Jesu (3,31; 6,3) z. B. sind keine leiblichen Geschwister, sondern nahe Verwandte. Zu 9,1 und 13,30 versucht J. zu zeigen, dass Jesus nicht gesagt habe, einige der jetzt Lebenden würden noch seine Wiederkunft erleben: den Tod nicht schmecken bedeutet nicht: nicht sterben (275); diese Generation meint »eine dauernd gegenwärtige Größe« (329). Der Unterschied zwischen der synoptischen und der johanneischen Passionschronologie beruht darauf, dass im Todesjahr Jesu Pharisäer und Priester das Passah an zwei verschiedenen Tagen feierten, eine Vermutung Billerbecks, für die es aber keinerlei wirkliche Beweise gibt. Umgekehrt irritiert, dass ἀντὶ πολλῶν in 10,45 gleichbedeutend mit für alle ist (297), während in 14,24 ὑπὲρ πολλῶν für viele bedeutet (349) – bis man sich daran erinnert, welche Rolle diese Frage im Streit um den Wortlaut der römisch-katholischen Karfreitagsliturgie spielt!
Es ist nicht möglich, sich im Rahmen einer Rezension mit all den Fragen, die hier aufgeworfen sind, auseinanderzusetzen. Das synoptische Problem zu leugnen und die Evangelien – trotz ihrer augenscheinlichen Abhängigkeit voneinander und ihrer eklatanten Differenzen – einfach auf unterschiedliche Berichte von Augenzeugen zurückzuführen, scheint im Trend zu liegen (vgl. z. B. R. Bauckham, Jesus and the Eyewitnesses. The Gospels as Eyewitness Testimony, 2006). Auch wenn manche der hier vorgebrachten Argumente ernsthaft geprüft werden müssen und möglicherweise zu Korrekturen im kritischen Konsens führen können, ist es angesichts der realen Quellenlage nicht wahrscheinlich, dass sich dieser Trend in der Forschung durchsetzt. Was aber der vorliegende Kommentar erschreckend deutlich macht: Der scheinbare Gewinn an historischer Zuverlässigkeit der Texte wird weit aufgewogen durch den fast völligen Verlust an theologischer Reflexion. Eine Theologie des Markus ist hier nicht zu finden – übrigens auch keine Theologie des Petrus oder Jesu!