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Ausgabe:

April/2018

Spalte:

348–351

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Hölscher, Michael

Titel/Untertitel:

Matthäus liest Q. Eine Studie am Beispiel von Mt 11,2–19 und Q 7,18–35.

Verlag:

Münster: Aschendorff Verlag 2017. VIII, 408 S. = Neutestamentliche Abhandlungen. Neue Folge, 60. Geb. EUR 57,00. ISBN 978-3-402-11444-5.

Rezensent:

Matthias Konradt

Mit dieser Monographie, die eine leicht überarbeitete Fassung der im Wintersemester 2015/16 an der Katholisch-Theologischen Fa­kultät der Universität Mainz angenommenen Dissertation des Verfassers ist, bietet Michael Hölscher einen substantiellen Beitrag zur neueren Debatte um das theologische Verhältnis des ersten Evangelisten zu seinen Quellen. Während Matthäus’ Haltung zum Markusevangelium in der jüngsten Forschung Gegenstand kontroverser Beurteilung war, die von der Annahme größter Wertschätzung bis zur These einer markuskritischen (oder gar antimarkinischen) Position reicht, kann H. für das in seiner Arbeit im Zentrum stehende Verhältnis von Matthäus zu Q an die Arbeiten von U. Luz, J. M. Robinson u. a. anknüpfen, die – mit Unterschieden im Detail – die besondere Affinität zwischen Q und Mt aufgewiesen haben. In ihrem Gefolge geht H. der Frage nach der Rezeption und Transformation der Logienquelle durch den Evangelisten Matthäus nach und sucht diese »in den größeren Horizont der Frage nach der Art und Weise der mt Quellenverarbeitung insgesamt« einzubetten (8, vgl. 6). Die Analyse der matthäischen Q-Rezeption geschieht dabei exemplarisch anhand von Q 7,18–35. Dass gerade dieser Passus für eine für das Ganze aussagekräftige Fallstudie geeignet ist, sieht H. u. a. darin begründet, dass Mt 11 »eine entscheidende Schnittstellenfunktion im Aufriss des ersten Evangeliums einnimmt« (6) – dazu wären dann allerdings auch die Verse Mt 11,20–30, wovon V. 20–27 Stoffe aus Q aufnimmt, in die Untersuchung einzubeziehen.
Nachdem H. im ersten Hauptteil (1–47) in die Problemstellung und Methodik der Arbeit eingeführt, die bisherige Forschung überblickt und seine Fragestellung auf den Aspekt zugespitzt hat, »wie Mt den Plot seines Evangeliums durch redaktionelle und kom­positionelle Mittel erzeugt und wie er das Kapitel Q 7/Mt 11 in seinem gesamten Werk vernetzt« (45), widmet er sich im zweiten Hauptteil (48–237) der dornigen Aufgabe der Rekonstruktion und sodann der Interpretation von Q 7,18–35. Die Analyse ist in die drei Abschnitte Q 7,18–23.24–30.31–35 untergliedert; auf die approximative Rekonstruktion der Q-Fassung folgt jeweils eine Auslegung und eine Erörterung des theologischen Profils. Die Rekonstruktion der Q-Fassung geschieht durchweg kundig und umsichtig. Besonders ist hervorzuheben, dass H. nicht mehr Eindeutigkeit zu erzwingen sucht, als zu haben ist, und nicht hinreichend plausibel zu entscheidende Fragen offenlässt. So geht er, um nur ein Beispiel anzuführen, zu Lk 7,29 f. zwar davon aus, dass den Versen Q zu­grunde liegt, hält es aber im Unterschied zur Critical Edition nicht für möglich, den Wortlaut zu rekonstruieren. Zu Q 16,16 sieht H. nach ausgiebiger Diskussion des Befundes (138–153) die ursprüngliche Platzierung des Logions im in Lk 16,16–18 gebotenen kompositionellen Zusammenhang mit der Mehrheitsmeinung als die plausiblere Option an; Matthäus habe die Texte also neu arrangiert. Mt 11,14 f. verdanke sich matthäischer Redaktion (154 f.) – auch dies ist Mehrheitsmeinung. Die mit »Auslegung und theologisches Profil« überschriebenen Unterkapitel exegesieren und interpretieren die Q-Passagen auf einem durchgehend hohen Niveau. In Q 7,18–23 misst H. V. 22 zentrale Bedeutung zu. Mit ihm werde »zwischen johanneischer Gerichtsansage und wirklich stattfindendem Ge­richt […] die Zwischenebene der Heilszeit eingezogen, die sich in der aktuell bereits wahrnehmbaren βασιλεία realisiert« (106). Nachdem er auch Q 7,24–28 und Q 7,31–35 in die Analyse mit einbezogen hat, diagnostiziert er ferner für Q 3–7 »eine narrative Entwicklung […], die von der Ankündigung eines Kommenden durch den Täufer (Q 3) über die Anfrage, ob dieser Kommende Jesus sei (Q 7,19), und die positive Antwort darauf (Q 7,22 f.) bis hin zur heilsgeschichtlichen Einordnung des Johannes (Q 7,24–28) und zur gemeinsamen Unterordnung von Jesus und Johannes unter die Fittiche der Weisheit reicht« (229) (Q 7,32–35).
Die Erörterung der Rezeption von Q 7,18–35 durch den Evangelisten Matthäus, der sich H. im dritten Hauptteil seiner Studie (238–364) zuwendet (etwas unglücklich ist, dass dieser Hauptteil denselben Titel trägt wie das Buch: »Matthäus liest Q«), verbindet er mit einem raumkonzeptionellen Zugang zur synchronen Analyse der matthäischen Erzählung, für den die Raumnotiz in 11,1 (»er ging weg von dort, um in ihren Städten zu lehren und zu verkündigen«) als Anknüpfungspunkt dient. Der dritte Hauptteil gliedert sich damit, abgesehen von einer knappen methodischen Vorbemerkung (III.1, 238 f.), in zwei größere Unterkapitel: H. unternimmt zunächst einen synchronen Durchgang durch das Mt, um dessen »Raumkonzept« zu erhellen (III.2, 239–288), bevor er dann in einem diachronen Durchgang konkret die Rezeption von Q 7,18–35 in Mt 11 untersucht (III.3, 288–358). Im Zuge seiner raumkonzeptionellen Analyse in Kapitel III.2 weiß H. einige interessante Beobachtungen vorzubringen: die Verbindung von Synagogen und Tempel als negativ konnotierten Orten (259 f.); die raumkonzeptionell facettenreich angelegte Rede vom Haus (260–262); die Spiegelung des Wirkens Jesu, wie es in der Rahmenerzählung geschildert wird, in der Rolle des Hausherrn im Gleichnis in 13,52 (265–267) und anderes mehr. Fraglich bleibt, ob sich dem matthäischen Raumkonzept für die Strukturierung der Erzählung die von H. in seiner Analyse vorausgesetzte Leitfunktion zuschreiben lässt (vgl. 238: »das Raumkonzept des MtEv als die Erzählung strukturierende Größe«) oder nicht andere, namentlich inhaltlich-thematisch orientierte Faktoren stärker zu gewichten sind. Zu Beginn des dritten Hauptteils spricht H. dann auch selbst zurückhaltender davon, »dass die Kategorie Raum zumindest eine Kategorie ist, die die Konzeption des MtEv mitbestimmt« (288, Hervorhebung M. K.). Letzteres allerdings hat H. in der Tat überzeugend aufgewiesen. Im Blick auf den für die Studie primär bedeutsamen Erzählabschnitt ist in Sonderheit zu fragen, ob sich 11,1–14,12 überzeugend als Erzählabschnitt abgrenzen und sich suffizient mit »abweisende Reaktionen auf Jesu Wirken in ›ihren Städten‹« (287) beschreiben lässt. Sieht man davon ab, dass 11,1 mit der Mehrheit der Ausleger wohl besser als Abschluss zum Vorangehenden zu ziehen ist, ist im Blick auf die Zäsur zwischen 14,12 und 14,13 anzumerken, dass 14,13 eine von drei Rückzugsnotizen in 11,2–16,20 bietet (vgl. 12,15; 15,21), die im Blick auf den Rückzugsradius eine klimaktische Entwicklung abbilden (12,15: einfacher, nicht näher bestimmter Rückzug, 14,13: Rückzug in eine einsame Gegend, 15,21: Rückzug in Gebiete außerhalb Galiläas); es erscheint insofern arbiträr, die zweite von ihnen herauszugreifen, um damit einen neuen Erzählblock beginnen zu lassen. Zudem werden in 11,1–14,12 keineswegs bloß abweisende Reaktionen dargestellt, wie H. im Übrigen selbst in Kapitel III.2.3 zutreffend ausführt, und der städtische Kontext (»in ›ihren Städten‹«) wird in 11,2–14,12 nicht in der Weise hervorgehoben, wie H. dies postuliert.
Den diachronen Durchgang (III.3) eröffnet H. mit einer Darlegung des redaktionskritischen Befundes (III.3.1), indem er zunächst im Detail die matthäische Bearbeitung des zuvor rekonstruierten Q-Passus 7,18–35 in Mt 11,2–19 erörtert und dann im Überblick die redaktionelle matthäische Gestaltung in 11,1–14,12 skizziert. In einem zweiten Schritt wird das redaktionelle Profil von 11,1–14,12 anhand von drei thematischen Aspekten im Horizont des Gesamtevangeliums geschärft: 1. anhand der matthäischen Darstellung des Täufers (als Vorläufers Jesu), 2. der Identität Jesu (nach H. verstärkt Matthäus weisheitschristologische Züge aus Q), 3. der Reaktionen auf Jesu Wirken, die H. nun in der nötigen Differenziertheit darstellt. H.s Ausführungen bewegen sich auch hier exegetisch auf einem durchgehend sehr guten Niveau sowie auf der Höhe der aktuellen Forschung, die kundig und fair rezipiert ist. Besondere Erwähnung verdient dabei die Vertiefung raumkonzeptioneller Beobachtungen, die erneut auch die Bezüge zwischen den Synagogen »in ihren Städten« in 11,1–14,12 und den Tempelszenen in Jerusalem in 21–23 umfassen. Matthäus schaffe mit Hilfe des Raumkonzepts »parallele Erzählkomplexe« (357), wobei als wichtige Elemente der Analogie im Einzelnen zu nennen sind: »die negative Rolle des städtischen Raums, der Mechanismus einer doppelten Reaktion auf Jesu Wirken […], die positive Rolle der Kinder und Unmündigen, die Heilungen als Auslöser für Annahme und Ablehnung […] sowie das Raumkonzept von einem größeren (Stadt) und einem kleineren darin befindlichen Raum (Haus, Tempel) und die Idee vom Ausfüllen des Hauses durch Jesus und seine Nachfolgerinnen und Nachfolger« (356 f.).
Das kurze Schlusskapitel (III.4, 359–364) bündelt die Analysen in prägnanter und überzeugender Weise. Im Blick auf das Verhältnis des Evangelisten Matthäus zu seinen beiden Hauptquellen Mk und Q entzieht sich H. einer alternativen Entscheidung, welcher Quelle Matthäus sich stärker verpflichtet sah, und schlägt salomonisch vor, »das MtEv als Integrationsleistung zu lesen. Mt möchte die verschiedenen Quellen zusammenführen und erhalten« (362). – Dem Literaturverzeichnis sind drei Register angefügt (moderne Autoren, Stellen, Stichworte, jeweils in Auswahl).
Alles in allem hat H. ein überzeugendes Erstlingswerk vorgelegt. Beachtenswert und weiterführend ist – neben der Einführung raumkonzeptioneller Aspekte in die Matthäusexegese – insbesondere die Beobachtung, dass sich größere Kompositionen an einer vorhandenen Mikro-Struktur orientieren bzw. sich in dieser spiegeln. Für 11,5 war dies bereits in der vorangehenden Forschung gezeigt worden; H. plausibilisiert dieses redaktionelle Verfahren z. B. auch für 11,12 und 11,18 f. (nachträgliche Reflexion des zuvor geschilderten Auftretens von Johannes und Jesus). Die Spiegelung einer in der Rahmenerzählung abgebildeten Raumstruktur auf der Ebene der Binnenerzählung, wie sie oben für 13,52 vermerkt wurde, fügt sich hier ein.