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Ausgabe:

Januar/1999

Spalte:

109–112

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Muckel, Stefan

Titel/Untertitel:

Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung: Die verfassungsrechtlichen Garantien religiöser Freiheit unter veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen.

Verlag:

Berlin: Duncker & Humblot 1997. XXI. 355 S. gr.8 = Staatskirchenrechtliche Abhandlungen, 29. Kart. DM 148,-. ISBN 3-428-09077-2.

Rezensent:

Torsten Schmidt

Der Glauben und die religiöse Betätigung des Einzelnen genießen in Deutschland ebenso umfassenden verfassungsrechtlichen Schutz wie das Wirken der Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften. Dieser Schutz wird vor allem durch den in den sog. Grundrechtskatalog des Grundgesetzes aufgenommenen Art. 4 und die durch Art. 140 GG in das Grundgesetz eingegliederten Vorschriften der Art. 136, 137, 138, 139 und 141 der Weimarer Reichsverfassung gewährleistet. Allerdings sind das Verhältnis dieser Vorschriften zueinander und der Umfang des von ihnen gewährleisteten Schutzes problematisch. Eine klare Abgrenzung und Bestimmung ihres Inhaltes ist jedoch für die Wirkung der Normen unabdingbare Voraussetzung. Eine optimale Wirkung ist vor allem dann geboten, wenn die Norm als Grundrecht - wie dies zumindest bei Art. 4 GG der Fall ist- der Abwehr staatlicher Übergriffe in den Rechtskreis des Bürgers dient. Feststehen müssen deshalb der Schutzbereich der Verfassungsnorm, also das, was die Norm schützt, und andererseits die Schranken, d. h. die Voraussetzungen, unter denen der Staat in die gewährleistete Freiheit eingreifen darf. Die dafür notwendige Interpretation wird von den Gerichten geleistet. So ist auch die Rechtsprechung, insbesondere des Bundesverfassungsgerichts, für das Verständnis der die religiöse Freiheit sichernden Verfassungsnormen prägend. Diese hat den Art. 4 Abs. 1 und 2 GG sowie die über Art. 140 GG in das Grundgesetz rezipierten Vorschriften trotz ihrer unterschiedlichen systematischen Stellung in der Verfassung stets als ein aufeinander bezogenes, einheitliches Ganzes aufgefaßt. Obwohl Art. 4 Abs. 1 GG von Freiheit des Glaubens, des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses und Art. 4 Abs. 2 GG von der Gewährleistung ungestörter Religionsausübung spricht, ist mit dem Ziel, einen lückenlosen Schutz sicherzustellen, Art. 4 GG stets als ein einheitliches Grundrecht verstanden worden. Bei der Beschreibung des Schutzbereiches dieses Grundrechts wurde häufig eine Präzisierung nicht versucht. Vielmehr wurde zur Bestimmung dessen, was im Einzelfall als Glauben und Religionsausübung geschützt sein sollte, einfach das Selbstverständnis der betroffenen Religionsgemeinschaft herangezogen.

Das Zurückziehen auf eine solche am Selbstverständnis orientierte Position zur Bestimmung des Schutzbereiches eines Grundrechts war solange unproblematisch, solange dem Staat Religion fast nur in den traditionellen Formen der beiden christlichen Großkirchen gegenübertrat. Unterdessen ist das religiöse Leben in Deutschland aber geprägt von einer Vielzahl neuer Gruppen und Bewegungen, die sich als Religionsgemein schaften verstehen und für ihre unterschiedlichen Betätigungen, darunter auch wirtschaftliche Betätigungen, die Religionsfreiheit in Anspruch nehmen. Diese veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse bilden Anlaß und Einstieg für Stefan Muckel in der vorliegenden Kölner Habilitationsschrift.

M. zeigt zunächst auf, daß mit dem herkömmlichen Interpretationsansatz auf die Vielfalt der religiösen bzw. pseudoreligiösen Erscheinungsformen nicht sachgerecht reagiert werden kann. In einer umfassenden Untersuchung weist er nach, daß es auch in Angelegenheiten mit religiösem oder weltanschaulichem Bezug ein Recht und eine Pflicht zur staatlichen Letztentscheidung gibt: Der Staat muß demnach selbst entscheiden, welche Erscheinungen und Verhaltensformen in welchem Umfang grundrechtlichen Schutz genießen, und darf sich dieser Verantwortung nicht durch Verweis auf das Selbstverständnis des Einzelnen oder der betroffenen Religionsgemeinschaft entziehen. Zur Begründung dieser staatlichen Letztentscheidung zieht der Autor das Prinzip der Gemeinwohlverantwortung (3. Kapitel) sowie die Verantwortung des Staates für Verfassungsgüter heran.

Bei letzterem macht er die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zu den sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten fruchtbar, nach der die Grundrechte nicht nur Eingriffe des Staates in die Rechtssphäre des Bürgers abwehren, sondern auch den Staat verpflichten, derartige Beeinträchtigungen durch Dritte zu unterbinden. Diese Schutzpflicht des Staates wird beispielsweise dort aktuell, wo es gilt, Sektenmitglieder und deren Angehörige vor psychischer Beeinträchtigung und anderen Gefahren durch die Sekten zu schützen. Soweit zur Begründung der staatlichen Letztentscheidung auf die religionsrechtliche Parität, also das in Bezug auf Religionsgemeinschaften geltende Gleichbehandlungsgebot, zurückgegriffen wird, ist dies gut nachvollziehbar, denn eine Gleichbehandlung ist nicht mehr gewährleistet, wenn Religionsgemeinschaften entsprechend ihrem Selbstverständnis unterschiedliche Freiräume beanspruchen.

Schließlich ist noch hervorzuheben, daß M. die Kompetenz zur staatlichen Letztentscheidung auch aus dem Gedanken einer inneren Souveränität des Staates abzuleiten versucht. Dabei versteht er Souveränität nicht als eine voraussetzungslose Allmacht, sondern als "rechtlich gebundene Vorrangstellung des Staates gegenüber den Kräften der Gesellschaft", womit er auch Religionsgemeinschaften meint. Die vorliegende Untersuchung läßt allerdings auch eine Auseinandersetzung mit Ansätzen, die für eine am Selbstverständnis orientierte Interpretation der Glaubensfreiheit streiten, nicht missen. An erster Stelle ist dabei der Neutralitätsgedanke zu nennen. Hier wird aufgezeigt, daß sich der Staat auch dann religiös-weltanschaulich neutral verhält, wenn er verfassungsrechtliche Begriffe interpretiert. Mit dieser Interpretation sei nämlich keine Identifikation des Staates mit einer bestimmten Glaubensrichtung verbunden, sondern er schafft lediglich einen allgemeingültigen Maßstab für die Rechtsanwendung gegenüber allen Religionsgemeinschaften.

Wie der Staat seine Letztentscheidungskompetenz wahrnehmen soll, zeigt M. in den weiteren Teilen seiner Untersuchung. Dabei wendet er sich zunächst gegen das herkömmliche Verständnis des Art. 4 GG als einheitliches Grundrecht und schlägt statt dessen eine am Wortlaut der Verfassung orientierte Differenzierung nach einzelnen Schutzbereichen vor. Allerdings gelingt auch ihm eine abschließende Definition der Begriffe "Religion" und "Weltanschauung" nicht (139), so daß er nur allgemein von Glaubensfreiheit spricht. Selbst auf das Selbstverständnis vermag der Autor als Kriterium zur Bestimmung des Schutzbereiches nicht vollständig zu verzichten (195). Hier wäre eine ausführlichere Darstellung wünschenswert gewesen, in welchem Umfang seiner Auffassung nach das Selbstverständnis noch eine Rolle spielen darf.

Daneben sieht M. durch Art. 4 GG die Bekenntnisfreiheit, die Religionsausübungsfreiheit, die Gewissensfreiheit, die religiöse Vereinigungsfreiheit und die kollektive Religionsfreiheit garantiert. Demgegenüber bindet er das Selbstbestimmungsrecht der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften nicht an Art. 4 GG, sondern ausschließlich an Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV fest. Diese Trennung zieht der Autor jedoch nicht konsequent und widerspruchsfrei durch, denn sie hätte die für Kirchen unangenehme Folge, daß sie insoweit ihr Recht nicht mit einer Verfassungsbeschwerde geltend machen könnten, denn Art. 137 Abs. 3 WRV wird im Grundgesetz nicht als mit der Verfassungsbeschwerde rügefähiges Recht genannt. M. behilft sich hier mit der dogmatisch etwas abenteuerlichen Konstruktion einer "notwendigen Ergänzung" des Art 4 GG durch Art. 137 Abs. 3 WRV, die diesen verfassungsprozessual am grundrechtlichen Charakter teilhaben lasse (184, 164).

Nach der Darstellung der Schutzbereiche widmet sich M. den Schranken und verfassungsimmanenten Grenzen religiöser Freiheitsrechte. Dies ist deshalb von besonderem Interesse, weil im Gegensatz zu anderen Grundrechten der Wortlaut des Art. 4 Abs. 1 und 2 keinen Vorbehalt enthält, der staatliche Stellen zu Eingriffen und Beschränkungen ermächtigt. Gleichwohl darf unbestritten der Staat regulierend und beschränkend eingreifen, wenn die Grundrechtsausübung Grundrechte Dritter oder andere Verfassungsgüter beeinträchtigt. Diese bilden nach allgemeiner Ansicht die sogenannten verfassungsimmanenten Schranken des Grundrechts. Während das Bundesverfassungsgericht die Reichweite der eingeschränkten grundrechtlichen Betätigung durch eine Abwägung zwischen dem zu schützenden Grundrecht und den verfassungsimmanenten Schranken ermittelt, möchte M. die verfassungsimmanenten Schranken in der Weise wirken lassen, daß sie von vornherein und ohne Abwägung bestimmte Verhaltensweisen aus dem Schutzbereich ausklammern.

Als solche verfassungsimmanenten Schranken kämen ein Gewaltverbot, die Menschenwürdegarantie, das Recht auf Leben und ein Verbot der Anmaßung fremder Rechtsposition in Betracht. M. sieht die Rechte aus Art. 4 GG jedoch nicht nur durch verfassungsimmanente Schranken beschränkt, sondern er wendet - im Gegensatz zum Bundesverfassungsgericht- die Vorschrift des Art. 136 Abs. 1 WRV als Gesetzesvorbehalt an. Dieses Verständnis ist in der staatskirchenrechtlichen Literatur nicht neu. Es birgt jedoch die Gefahr, daß die Hemmschwelle des Staates, sich in religiöse Angelegenheiten einzumischen, herabgesetzt wird. Darin scheint auch der Grund zu liegen, warum M. den Gebrauch dieses Gesetzesvorbehalts durch eine "abstrakt-typologisch vorgeprägte Abwägung" zu begrenzen versucht.

Zusammenfassend betrachtet stellt das besprochene Werk eine Bereicherung im Staatskirchenrecht dar. Dabei liegt der Verdienst M.s vor allem darin, daß er aus verschiedenen Ansätzen ein neues Interpretationsmodell für die religionsbezogenen Vorschriften im Grundgesetz liefert. Ob allerdings der Ruf nach dem Staat, der in seiner Forderung nach staatlicher Letztentscheidung durchdringt, die angemessene Reaktion auf ein verändertes religiöses Leben in Deutschland darstellt, bleibt abzuwarten.