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Ausgabe:

April/2018

Spalte:

340–343

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Najman, Hindy, and Konrad Schmid [Eds.]

Titel/Untertitel:

Jeremiah’s Scrip-tures. Production, Reception, Interaction, and Transformation.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2017. 634 S. = Supplements to the Journal for the Study of Judaism, 173. Geb. EUR 186,00. ISBN 978-90-04-32024-6.

Rezensent:

Karin Finsterbusch

Der hier zu besprechende Sammelband geht auf eine Konferenz zurück, die im Juni 2014 auf dem Monte Verità (Schweiz) stattfand. Der Band gliedert sich in drei Teile; auf die insgesamt fünfzehn Hauptbeiträge folgen – abgesehen von einer Ausnahme – bis zu drei Responsen. Näher skizziert werden können in diesem Rahmen lediglich die Hauptbeiträge, von den zweiunddreißig Responsen seien wenigstens die Autoren und die Titel genannt.
Teil 1 »Hebrew Bible« enthält fünf Hauptbeiträge und dreizehn Responsen: Robert R. Wilson, »Exegesis, Expansion, and Tradition-Making in the Book of Jeremiah«, stärkt nach einem Überblick über zentrale Forschungsansätze bezüglich der Entstehungsgeschichte des Buches in Anknüpfung an Überlegungen von Karel van der Toorn die These, dass Schreiber ab der persischen Zeit dafür verantwortlich waren, den Texten inhärente Themen weiterzuentwickeln und Ambiguitäten durch entsprechende Bearbeitungen aufzulösen. Responsen geben Georg Fischer, »A New Understanding of the Book of Jeremiah«, und Florian Lippke, »Ancient Editing and the Coherence of Traditions within the Book of Jeremiah and throughout the םיאיבנ«. Friedhelm Hartenstein, »Prophets, Princes, and Kings: Prophecy and Prophetic Books according to Jeremiah 36«, behandelt in seinem Beitrag insbesondere Aspekte der göttlich-prophetischen und königlichen Kommunikation in Jer 36. Unter anderem deutet Hartenstein im Licht einer Passage in den VTE, wonach Asarhaddons Treueid von dem Vassallen gleichsam als von der eigenen Gottheit auferlegter Eid geachtet werden soll, die Verbrennung der Rolle durch Jojakim nicht nur als Versuch, die Botschaft Gottes materiell zu zerstören, sondern auch als Akt der Beleidigung des königlichen Gottes, der folglich Fluch über den judäischen König und sein Land bringt. Responsen geben Lida Panov, »King Jehoiakim’s Attempt to Destroy the Written Word of God (Jeremiah 36)«, und Justin J. White, »Scribal Loyalty and the Burning of the Scroll in Jeremiah 36«. Christl M. Maier, »The Nature of Deutero-Jeremianic Texts«, untersucht sogenannte deutero-jeremianische Prosatexte, wozu auch einige proto-masoretische Langtexte gehören, und zeigt, dass sie sich durch einen bestimmten, ursprünglich wohl im Exil entwickelten Stil auszeichnen, der leicht zu imitieren war und über Jahrhunderte hinweg auch imitiert wurde. Maier plädiert insbesondere in Auseinandersetzung mit den Thesen von Winfried Thiel dafür, diesen Stil nicht als »deuteronomistisch« zu bezeichnen, dieser Terminus solle vielmehr für eine exilische Redaktionsschicht im Buch vorbehalten bleiben. Responsen geben Thomas Römer, »The ›Deuteronomistic‹ Character of the Book of Jeremiah«, Laura Carlson, »A Gap between Style and Context?«, und William L. Kelly, »Deutero-Jeremianic Language in the Temple Sermon«. Hermann-Josef Stipp, »Formulaic Language and the Formation of the Book of Jeremiah«, erklärt die Bedeutung der von ihm so genannten deutero-jeremianischen Sprache, die, wie in Auseinandersetzung mit anderen Forschungspositionen demonstriert wird, nicht mit spezifischen deuteronomistischen Ideen (wie z. B. Toragehorsam und Landgabe) verbunden ist. Vielmehr kommt die deutero-jeremianische Sprache vorzugsweise in proto- masoretischen Textteilen vor und erweist diese als (im Vergleich mit der wahrscheinlichen hebräischen Vorlage der LXX-Jer) spätere Zusätze. Responsen geben Georg Fischer, »Mysteries of the Book of Jeremiah: Its Text and Formulaic Language«, Elisa Uusimäki, »What does ›Deuteronomistic‹ Designate?«, und Fabian Kuhn, »Less than 300 Years«. Reinhard G. Kratz, »Why Jeremiah? The Invention of a Prophetic Figure«, stellt in Bezug auf die unter dem Namen Jeremias überlieferten Schriften die »Homerische Frage« Nietzsches, nämlich ob aus einer Person ein Begriff oder aus einem Begriff eine Person gemacht wurde. Im Hinblick auf die sich über Jahrhunderte hinweg entwickelnden jeremianischen Schriften (also z. B. die beiden Fassungen des Prophetenbuches, den Brief Jeremias, das Buch Baruch) entscheidet sich Kratz für die zweite Option: Jeremia sei, unabhängig davon, ob ein Prophet seines Namens im 7./6. Jh. v. Chr. gelebt hat oder nicht, das Produkt der Texte. Responsen geben Bernard M. Levinson, »Was Jeremiah Invented? The Relation of an Author to a Literary Tradition«, Olivia Stewart, »The Question of Prophetic ›Authenticity‹«, und Zafer Tayseer Mohammad, »Jeremiah: The Prophet and the Concept«.
Teil 2 »Ancient Jewish Literature« enthält sieben Hauptbeiträge und vierzehn Responsen: Im Fokus des Beitrags von Judith H. Newman, »Confessing in Exile: The Reception and Composition of Jeremiah in (Daniel and) Baruch«, steht die unterschiedliche Rolle Jeremias bezogen auf die Bußgebete in Dan 9,4–19 und Bar 1,15–3,8: Während der Inhalt der Schriften Jeremias für Daniel der Ausgangspunkt seines Bußgebetes ist (9,2), verweist Baruch weder im Kontext seines Bußgebetes noch im Gebet selbst auf Jeremia, sondern nur allgemein auf die Propheten (2,20–23). Dies sei Ausdruck dafür, dass das an Jeremia angehängte Buch Baruch (in der LXX, wobei Newman diese Buch-Reihenfolge bereits für die hellenistische Zeit voraussetzt) subversiv korrigierende Funktion habe, insofern am Schluss der jeremianischen Schriften nicht mehr der Untergang Jerusalems, sondern die Überwindung des Exils stehe. Responsen geben Mladen Popovi, »Scribal Culture of the Hebrew Bible and the Burden of the Canon: Human Agency and Textual Production and Consumption in Ancient Judaism«, Zhenshuai Jiang, »The Meanings of the Jerusalem Temple in Baruch«, und Phillip M. Lasater, »Text Reception and Conceptions of Authority in Second Temple Contexts«. Loren T. Stuckenbruck, »The Use and Function of Jeremianic Tradition in 1 Enoch: The Epistle of Enoch in Focus«, unterstreicht in seinem Beitrag, dass der Brief des Henoch (ein Teil des 1Hen: 92,1–5; 93,11–105,2) einer der ältesten Texte in der Zeit des zweiten Tempels ist, in dem (einige wenige Male) auf jeremianische Texte Bezug genommen wird. Mit Hilfe dieser Bezugnahmen werden, so Stuckenbruck, vor allem sozialkritische Aussagen akzentuiert. Responsen geben John J. Collins, »Jeremiah, Deuteronomy and Enoch«, und Ryan C. Stoner, »Is Enoch also among the (Jeremianic) Prophets?«. Eibert Tigchelaar, »Jeremiah’s Scriptures in the Dead Sea Scrolls and the Growth of Tradition«, zeigt, dass Tradenten in neu geschaffenen Jeremia-Texten in der hellenistischen Zeit das Prophetenbild veränderten. Beispielsweise lassen Tradenten Jeremia mit den Exilierten nach Babylon (!) ziehen und machen ihn dort zum Toralehrer (u. a. 4Q385a 18i). Responsen geben George J. Brooke, »Modelling Jeremiah Traditions in the Light of the Dead Sea Scrolls«, Anja Klein, »New Material or Traditions Expanded?«, und James Nati, »Unities and Boundaries across the Jeremianic Dead Sea Scrolls«. Matthias Henze und Liv Ingeborg Lied, »Jeremiah, Baruch, and Their Books: Three Phases in a Changing Relationship«, konzentrieren sich auf die Beziehung zwischen den Figuren Jeremia und Baruch in den Büchern Jeremia und 2Bar (i. e. der syrischen Baruch-Apokalypse). Dabei verbinden die Autoren zwei Methoden, nämlich literarische Textanalyse einerseits und Interpretation des Handschriftenbefundes andererseits, insofern der letzte Teiltext des 2Bar, der Brief des Baruch, in mehreren syrischen Manuskripten auch als eigenständige Einzelschrift überliefert ist. Henze/Lied zeigen, dass sich die Beziehung zwischen den beiden Figuren im Zuge von Textentstehung und Texttransmission entwickelte: Je nach Text und Kontext erscheint Baruch als dem Propheten Jeremia gänzlich untergeordneter Schreiber, als autoritativ handelndes Individuum oder als zweiter Jeremia. Responsen geben Veronika Hirschberger, »The Reception of a Reception: The Influence of 1 Baruch on the Structure of 5 Ezra«, und Nathalie LaCoste, »Textual and Material Contexts«. Jens Herzer, »Retelling the Story of Exile: The Reception of the Jeremiah Tradition in 4 Baruch in the Perspective of the Jewish Diaspora«, versteht das griechisch geschriebene, vermutlich in Jerusalem im Vorfeld des Bar-Kokhba-Aufstandes entstandene Buch 4Bar als Kritik an zeitgenössischen Versuchen, jüdische nationale Identität an die hebräischen Texttraditionen und an den Tempel zurückzubinden: Jeremia wird in 4Bar zum Toralehrer in der babylonischen Diaspora (!), und es ist das himmlische Jerusalem (und nicht der irdische Tempel), in dem sich das Volk letztlich versammeln wird. Responsen geben Robin D. Young, »The Eagle and the Basket of Figs in 4 Baruch«, und Boyeon Briana Lee, »The Development of the Jeremiah Figure in 2 Baruch and 4 Baruch«. Gregory E. Sterling, »Jeremiah as Mystagogue: Jeremiah in Philo of Alexandria«, untersucht Philos vergleichsweise ausführliche Einleitung des Zitats Jer 3,4. Im Unterschied zu den anderen neun Zitateinleitungen von Texten aus vier Prophetenbüchern, in denen Philo keinen Propheten namentlich erwähnt, wird hier Jeremia als Mystagoge wie Mose bezeichnet (allerdings nicht als zweiter Mose gezeichnet). Nach Sterling könnte diese besondere Wertschätzung Jeremias durch seine »biographische« Verbindung mit Ägypten begründet sein, wie sie im Jeremiabuch und in späteren, darauf aufbauenden Traditionen bezeugt ist. Responsen geben René Bloch, »Philo and Jeremiah: A Mysterious Passage in De Cherubim«, und Franz Tóth, »Jeremiah as Hierophant: Jeremiah in Philo of Alexandria«. James Kugel, »›I am the Man‹: The Afterlife of a Biblical Verse in Second Temple Times«, zeigt ausgehend von Klgl 3,1 und der hier offengehaltenen Frage nach der Identität des klagenden Mannes, dass diese Offenheit Rezipienten inspirierte, damit Jeremia zu identifizieren und ihn als den klagenden und tränenreichen Propheten zu modellieren. Diese Modellierung erhielt (ebenso wie viele andere sekundäre, interpretierende Modellierungen des Propheten, etwa als des Begleiters der Exilierten nach Babylon oder als des Verbergenden der Tempelgeräte) nach Kugel quasi Schriftstatus, was sich am Vorkommen in mehreren Schriften in der Zeit des zweiten Tempels und danach zeigt (z. B. in apokryphen, pseudepigraphen und rabbinischen Schriften). Lohnend sei es, auf die Zeitbezogenheit von Modellierungen zu achten: Besondere Popularität gewann das Bild des klagenden und weinenden Jeremia nach der Zerstörung des zweiten Tempels durch die Römer.
Teil 3 »Early Christian and Rabbinic Literature« enthält drei Hauptbeiträge und fünf Responsen: Jörg Frey, »The Reception of Jeremiah and the Impact of Jeremianic Traditions in the New Testament: A Survey«, arbeitet die Unterschiedlichkeit der Rezeption von Prophetenfigur bzw. jeremianischen Texten in Matthäus, der Offenbarung, den Paulusbriefen und im Hebräerbrief heraus. Obwohl nicht häufig erwähnt oder zitiert, spielt Jeremia nach dem Urteil Freys keine unwichtige Rolle (so wird Jeremia z. B. in der matthäischen Version des Petrusbekenntnisses erwähnt, der jeremianische Verheißungstext des Neuen Bunds wird vom Autor des Hebräerbriefes rezipiert). Allerdings hätten Jesaja oder die Psalmen weitaus größere Bedeutung für die Mehrheit der neutestamentlichen Autoren gehabt. Responsen geben Adela Yarbro Collins, »Jeremiah in the Book of Revelation«, und Veronika Niederhofer, »The Jeremianic Covenant Theology and its Impact in the Gospel of Matthew«. Lutz Doering, »The Commissioning of Paul: Light from the Prophet Jeremiah on the Self-Understand­ing of the Apostle?«, demonstriert, dass Paulus Konzepte bestimmter Propheten kombinierte, um sein Sendungsbewusstsein und sein apostolisches Selbstverständnis zu verdeutlichen. Dabei spielte auch Jeremia eine Rolle, so beispielsweise in Gal 1,15 f. (Doering betont hier zu Recht gegen einige Exegeten, dass sich das Motiv des vorgeburtlichen Absonderns auf Jer 1,5 bezieht und in den deuterojesajanischen Gottesknechtsliedern fehlt). Respondent ist Kipp Davis, »The Apostle Paul in the Prophetic Matrix of Jeremiah«. Ishay Rosen-Zvi, »Like a Priest Exposing His Own Wayward Mother: Jeremiah in Rabbinic Literature«, erkennt in der rabbinischen Literatur eine gewisse Distanzierung von Jeremia: Die Rabbinen hätten das Potential der jeremianischen Texte wenig genutzt, um ihre eigene Zeit zu entschlüsseln, beispielsweise werde auf Jeremias Tempelkritik oder auf die Verheißung vom Neuen Bund kaum Bezug genommen. Sie hätten zudem den Propheten teilweise ungewöhnlich kritisch gezeichnet. Responsen geben Shlomo Zuckier, »Jeremiah in Rabbinic Theology and Baruch in Rabbinic Historiography«, und Jordash Kiffiak, »Probing the Rabbis’ Criticism and Silence with Regard to Jeremiah«.
Der Sammelband enthält viele wertvolle Anregungen und wird seinen Platz sicherlich nicht nur am Arbeitsplatz von Jeremiaspezia-listen finden. Als Kritikpunkt sei lediglich angemerkt, dass im Hinblick auf die aktuelle Diskussion Beiträge zu zentralen Themen fehlen: So vermisst man beispielsweise einen Beitrag zum Verhältnis der Textfassungen MT-Jer und LXX-Jer bzw. deren wahrscheinlicher hebräischer Vorlage (unter textkritischen und theologischen Gesichtspunkten), einen Beitrag zur sprachlichen Gestaltung der LXX-Jer sowie einen Beitrag zur (intensiven) Jeremia-Rezeption bei den Kirchenvätern.