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Ausgabe:

April/2018

Spalte:

338–340

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Levin, Christoph

Titel/Untertitel:

Entwurf einer Geschichte Israels.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2017. X, 45 S. = Julius-Wellhausen-Vorlesung, 5. Kart. EUR 14,95. ISBN 978-3-11-052999-9.

Rezensent:

Sebastian Grätz

Dieser »Entwurf einer Geschichte Israels« gibt einen gleichnamigen Vortrag wieder, den Christoph Levin bereits am 7. Dezember 2012 im Rahmen der Julius-Wellhausen-Vorlesungen vor der Göttinger Akademie der Wissenschaften gehalten hat. Insofern ist das vorliegende Büchlein einerseits flüssig zu lesen, enthält aber andererseits zugleich eine äußerst dichte auf 27 Seiten komprimierte Darstellung der komplexen Materie einer Geschichte Israels. Für den Druck ist ein Endnotenapparat beigegeben, der dem wissenschaftlichen Diskurs, der zur Meinungsbildung L.s beigetragen hat, Rechnung trägt.
L. sieht die Disziplin der Geschichte Israels vornehmlich als Aufgabe der Theologie, nämlich als kritische »Deutung der Bibel« (2, kursiv dort) an. So ist folglich die vorrangige Quelle der historischen Rekonstruktion das Alte Testament selbst, wie L. in seinem ersten Abschnitt »Die Quellen der Geschichte« betont. Diese Position ist angesichts rezenter Entwicklungen der historischen Erforschung des alten Israel keineswegs selbstverständlich: Insbesondere N. P. Lemche rät beispielsweise davon ab, das Alte Testament überhaupt als Quelle historischer Arbeit hinzuzuziehen. Zu übermalt, zu tendenziös, insgesamt zu ahistorisch sei dessen Darstellung, um valide Daten liefern zu können. Dem entspricht die Tendenz anderer jüngerer Darstellungen, die die Geschichte Israels zuvorderst aus der »external evidence«, also aus archäologischen, e pigraphischen und religionsgeschichtlichen Zeugnissen zu re­konstruieren suchen. L. wählt den anderen Weg und versucht, zunächst aus der alttestamentlichen Überlieferung selbst via negationis an verlässliche Daten zu gelangen: Von den geschichtlichen Darstellungen des Alten Testaments müssten diejenigen Bestandteile »subtrahiert« werden, die sich als historisch nicht haltbar erwiesen hätten – um dann das Verbleibende zu sichern, tendenzkritisch zu evaluieren und weitergehend das Fehlende aus der ex­ternen Evidenz zu ergänzen. Ausdrücklich als Kriterium nennt er auch die »Unerfindlichkeit« bzw. Unableitbarkeit gewisser Überlieferungen, so z. B. die Herkunft Israels aus Ägypten, den ägyptischen Namen des Mose und der Bau des Tempels unter Salomo und nicht etwa dem eigentlichen Liebling der Überlieferung, David.
Im zweiten Abschnitt widmet sich L. dem zu beschreibenden »Zeitraum der Geschichte«, den er durch die Literaturgeschichte des Alten Testaments als vorgegeben sieht: »Die Geschichte, über die wir handeln, ist jener Zeitraum, in welchem das Alte Tes­tament entstanden ist.« (8, kursiv dort) Diese Position entspricht gänzlich dem im ersten Abschnitt Gesagten. Das literaturhistorische Urteil wird zum Maßstab der Geschichtsschreibung. Das ist nicht neu in der Disziplin der Geschichte Israels, doch bezüglich der Abgrenzung des zu behandelnden Zeitraums ergeben sich selbstverständlich erhebliche Konsequenzen, vor allem über die vorkönigliche Zeit, über die das Alte Testament zwar ausführlich erzählt, aus der es aber kaum belastbare Zeugnisse bietet. Insofern sei man, so L., für die Zeit vor dem zehnten vorchristlichen Jahrhundert auf die Methodik des Rückschlusses und der Analogie angewiesen.
Der dritte Abschnitt, der zusammen mit dem vierten, der Wellhausenschen Unterscheidung von »Judenthum und altem Israel in ihrem Gegensatze« folgend, den Kern von L.s Entwurf bildet, steht unter der Frage, wessen Geschichte eigentlich zu schreiben sei, und steht daher unter der Überschrift »Der Gegenstand der Geschichte«. Es ist damit deutlich, dass hier zunächst der Begriff »Israel« zu problematisieren ist. Denn nicht nur die theologische Verwendung des Begriffs im Alten Testament, sondern auch die diesem zugrunde liegende Größe bietet Anlass zur Differenzierung: »Das Problem besteht darin, dass trotz der kulturellen und sprachlichen Gemeinsamkeiten von einer einheitlichen Bevölkerung keine Rede sein kann.« (12) Mit dieser Feststellung leitet L. seine historische Kernthese ein, die das antike »Israel« auf das Königtum hin zuspitzt: Sämtliches überliefertes Schriftgut habe zu den (kulturellen, politischen und nicht zuletzt: klimatischen) Bedingungen der damaligen Zeit allein in königlichen Archiven überdauern können. Insofern sei das Königtum auch der Maßstab des überlieferten Gutes. Dies zeige sich u. a. daran, dass auch die Projektionen der Richter- und Väterzeit Züge des Königtums aufwiesen. Selbstverständlich ergibt sich aus dieser These auch das Sichtungskriterium, das königskritische oder gar -feindliche Tendenzen in diesen Archiven kaum verschriftlicht und deponiert worden sein dürften – und damit letztlich nicht zeitgenössisch sein können. Aus diesen königlichen Archiven stamme dann auch »das wichtigste im engeren Sinne historische Dokument, das wir für die Geschichte Israels besitzen«: ein Exzerpt aus den Annalen der Könige von Israel und Juda. Das frühe Königtum versteht L. als politisches Gebilde einer mobilen »Ritterkaste«, die, untereinander vertraglich abgesichert, der Bevölkerung gegenüber als Schutzmacht und Geldeintreiber zugleich aufgetreten sei. Eine Konsolidierung und Stabilisierung dieser Verhältnisse habe sich erst mit der Dynastie Omri eingestellt – eine These, die bekanntlich auch von Seiten einiger Archäologen im Gefolge von I. Finkelstein favorisiert wird. Erst mit dem Untergang des israelitischen Königtums habe sich der politische (und kulturelle) Schwerpunkt nach Juda hin verlagert, wie dann auch die vorliegende Fassung des o. g. Exzerpts durch einen der Könige von Juda nach 722 v. Chr. in Auftrag gegeben worden sei.
Im vierten und letzten Abschnitt fragt L. nach der »Bedeutung der Geschichte«. Das Ende der in Abschnitt drei skizzierten Ge­schichte des Königtums von Israel und Juda sei der Anfang der Entstehung der jüdischen Religion und ihrer Schriftproduktion gewesen – und insofern auch der Beginn des signifikanten Wandels alttestamentlicher Begriffe, die ursprünglich politisch verstanden wurden und mit dem Königtum verbunden waren. Begriffe wie »Bund« sowie »Recht und Gerechtigkeit« werden zu Theologumena, die nun vor einem nachexilischen Horizont das Verhältnis von Gott und Volk beschreiben. Die weitreichenden Folgen beispielsweise für eine deuteronomische Bundestheologie, die so nicht länger vor dem Hintergrund neuassyrischer Politik entworfen werden kann, liegen auf der Hand. Insgesamt konstatiert L., dass dieser zu beobachtende religionsgeschichtliche Wandel von der politischen Größe zur religiösen Gemeinschaft seit der persischen Zeit »zu den überraschenden, in einem gewissen Grade unableitbaren Erscheinungen, die es in der Geschichte gelegentlich gibt« gehöre (21). Im Einzelnen skizziert er im Folgenden die Facetten einer Geschichte des entstehenden Judentums von der persischen Zeit (mit ihrem innenpolitischen Konflikt, den heimkehrende Davididen, sozusagen als späteste Relikte des vormaligen Königtums, ausgelöst haben könnten) über das alexandrinische Judentum und die Septuaginta bis hin zu jüdischer Armenfrömmigkeit, die als Vorläufer des rabbinischen Judentums bezeichnet werden könnte.
Mit seinem klugen Entwurf verortet L., wie eingangs angedeutet, die Disziplin der Geschichte Israels inmitten der Theologie; und zwar als deren »historisches Korrektiv« (2). Dies lässt sich dahingehend verstehen, dass die Disziplin der Geschichte Israels im Rahmen theologischen Arbeitens auch theologisch notwendig sei, um ein wissenschaftlich gesichertes Beurteilungskriterium des überlieferten biblischen Gutes als Quelle der christlichen Lehre zu gewinnen. Es ist klar, dass wissenschaftliche Modelle auch einer wissenschaftlichen Tradition bzw. Präponderanz unterworfen sind – doch hiervon lebt der wissenschaftliche Diskurs nicht nur in den historisch-theologischen Disziplinen. Da der vorliegende Entwurf auch als ein solcher verstanden werden will, darf man auf die ausgearbeitete Geschichte Israels, an der L. arbeitet, mehr als gespannt sein.