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Ausgabe:

April/2018

Spalte:

336–338

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Ede, Franziska

Titel/Untertitel:

Die Josefsgeschichte. Literarkritische und redaktionsgeschichtliche Untersuchung zur Entstehung von Gen 37–50.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2016. X, 553 S. = Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 485. Geb. EUR 139,95. ISBN 978-3-11-044746-0.

Rezensent:

Jörg Lanckau

Franziska Ede, ausgebildete Dolmetscherin, studierte Evangelische Theologie in Göttingen und Atlanta/GA. Nach ihrer Mitarbeit im DFG-Projekt »Die Auslegung des Buches Genesis in den Texten vom Toten Meer« (2010–2011) war sie Stipendiatin im Graduiertenkolleg »Götterbilder – Gottesbilder – Weltbilder« der DFG (2011–2013). Die vorliegende Studie ist ihre von R. G. Kratz betreute und für den Druck überarbeitete Dissertation, die 2014 von der Georg-August-Universität angenommen wurde.
Wer sich mit der Genesis im Allgemeinen und der Josefsgeschichte im Speziellen auseinandersetzt, weiß, dass die Literatur nahezu unübersehbar ist. Generationen haben versucht, die Genese dieser Texte zu ergründen. Allein sich daran zu wagen, verdient allergrößten Respekt. Es geht nicht nur um den Erweis der literarischen Entwicklung dieses Meisterwerkes der Erzählkunst, sondern um nichts weniger als die Erklärung des Werdens des heute vorliegenden Pentateuchs. Die Vfn. ist sich stets dessen bewusst.
Die meisten textinternen Argumente liegen seit der 1. Hälfte des 20. Jh.s auf dem Tisch. Der Grandseigneur alttestamentlicher Theologie, J. Wellhausen, hatte Gen 37–50 zum Prüfstein aller Pentateuchtheorien erklärt und ihre »Decomposition« als unverzichtbar eingefordert. Der in der älteren deutschen Forschung kaum rezipierte Rabbiner B. Jacob nahm bereits 1934 entschieden gegen die seiner Ansicht nach methodisch zirkulär argumentierende Quellenscheidung Stellung. Dennoch wird diese bis heute in diversen Modifikationen und Differenzierungen vertreten. Aber niemand kann zweifelsfrei belegen, ob es sich nicht um reine Phantasie handelt. Der canonical approach hat die besseren Argumente: Schließlich wurde niemals irgendeine »Quellenschrift« des Pentateuchs physisch gefunden. So wurden die fiktiven Verfasser nach und nach aus der Diskussion verabschiedet. Auf der anderen Seite stehen jene Exegeten, die von der feinen Erzählkunst beeindruckt mehr oder weniger die Einheitlichkeit der Josefsgeschichte vertreten. Doch auch diese Position überzeugt nicht ganz, denn es gibt bestimmte inhaltliche und formale Beobachtungen am fein gewebten Erzählzusammenhang, die sich nicht harmonisieren lassen: Einheit in Vielfalt ist das richtige Stichwort, das die Vfn. nennt. Das ist die Stunde der Redaktionskritik und Ausgangspunkt der vorliegenden Studie. Simple Lösungen wie das Muster »Grundschrift und Bearbeitung« sind ihr zu grob – die Vfn. geht zu Recht vom »kleinschrittigen Wachstum« des Textes aus (14). Der Teufel steckt wie immer im Detail, nämlich der Wertung der einzelnen Beobachtungen. Die Vfn. sucht nach »literarischen Anknüpfungspunkten« und »kontextuellen und intertextuellen Sinnzusammenhängen«, um »diachrone Differenzierungen« ausreichend zu begründen.
Am Schluss legt die Vfn. ein klares Ergebnis vor: eine feine Schichtung des Textwachstums und Zeichnung des komplexen Fortschreibungsprozesses – im Wissen, doch nur eine vorsichtige Annäherung erreichen zu können. Denn was für die ältere Literarkritik recht war, muss für die neuere Redaktionskritik billig sein: Bislang wurde, mit Ausnahme der Unterschiede bei diversen Textzeugen, keine Vorstufe des kanonischen Textes physisch gefunden. Externe Evidenzen besitzen wir ausschließlich in der Literatur der Umwelt Israels, der Epigraphie und Ikonographie. Die Vfn. meint, die allererste Josefsgeschichte könne nicht ohne bestimmtes Wis sen um Aspekte der »Vätergeschichte«, besser nach I. Willi-Plein »Erzelternerzählung« genannte Vorgeschichte geschrieben sein. Sie setze das Ende des Nordreiches 722 v. Chr. voraus. Jedenfalls sei die Josefsgeschichte, wie oft richtig bemerkt, eine Art »Diasporaerzählung«, und da gibt es diverse denkbare Optionen.
Die von der Vfn. angenommene erste Relecture im Sinne einer Akzentverschiebung auf den Konflikt um die innerisraelitische Hierarchiefolge ist als Bearbeitungsschicht ausgerechnet in exilischer Zeit m. E. nicht schlüssig nachvollziehbar. Dass die Josefs-geschichte danach als literarische Brücke zur Exoduserzählung umfunktioniert wurde, leuchtet sofort ein. Dass es weitere Bearbeitungen hinsichtlich der Rolle Judas gegeben habe, ist angesichts der Dominanz der judäischen Perspektive bereits nach dem Untergang des Nordreiches und auch zur Zeit des Neuaufbaus Judas in persischer Zeit durchaus verständlich. Die Josefsgeschichte wird von der Vfn. insgesamt zu Recht als eine Geschichte der Identität Israels erkannt. Eine klare Zuordnung bestimmter Passagen zu bestimmten Überlieferungsschichten wird freilich am Schluss vermieden.
Wie viele deutsche Dissertationen besitzt das Werk ab und zu einen sehr ausführlichen Subtext in den Fußnoten, den man parallel lesen muss. Dort kann man, wenn man aus der Zunft stammt, nachlesen, ob und wie man einmal zustimmend, andermal ablehnend zitiert wird. Ich mache den Test: Ich möchte herausfinden, warum der zweite Josefstraum Gen 37,9 ein Nachtrag sein soll – sind doch Traumserien, in denen ein zweiter Traum den ersten bestätigt, altorientalisch gut belegt. Die Argumentation beginnt so: Die doppelte Begründung des Hasses der Brüder sei nicht hinreichend für eine diachrone Unterscheidung. Gut: Dubletten als Stilmittel sind per se kein Argument für literarkritische Skalpellschnitte. Den Grund, dennoch eine diachrone Unterscheidung vorzunehmen, liefere vielmehr eine »Akzentverschiebung« (24) auf die Beziehung Josefs zu seinen Brüdern. Kann nicht jeder moderne Autor Akzente verschieben? Das Traummotiv sei nachgetragen, lese ich, aber zunächst nur der erste Traum. Der zweite sei noch später zu verorten, er orientiere sich an Gen 40. Er sei zudem zu kurz gefasst und inhaltlich unverschlüsselt. Das kann man nur behaupten, wenn man nicht in Betracht zieht, dass ein Bestätigungstraum auch anderswo verkürzt dargestellt wird (siehe Ri 7,13), und implizit annimmt, der Vater deute den Traum im Grundsatz richtig (Gen 37,10). Es ist m. E. ein immer wiederholter Fehler, fraglos anzunehmen, dass die Perspektive von Erzählfiguren mit der des Autors übereinstimmen muss. Die astrale Motivik sei zudem »ein Fremdkörper« in der Josefsgeschichte – trotz der external evidence des Achikar-Romans. Hatte ich nicht gerade gelesen, intertextuelle Bezüge zu beachten? Warum dann nicht Gen 1,14 heranziehen: die Himmelskörper als »Zeichen … für Festzeiten, für Tage und Jahre«? Der Gedanke sei abwegig, lese ich in der Replik auf meine eigene Arbeit in der langen Fußnote 19. Ich akzeptiere, weil ich nicht Eitelkeiten erliegen möchte. Überzeugt hat es mich en détail hier nicht.
Das methodische Problem besteht vor allem in der starken Gewichtung rein stilistischer Merkmale – graphisch freilich schön darstellbar. Ich meine aber, dass nur inhaltliche Ar­gumente, wie z. B. bei der Einfügung der Versuchung (Gen 39) und des logischen Widerspruchs rund um Gen 37,36 und 39,1 bzw. den Unterschied eines von den Brüdern »verkauften« Josef oder eines von Midianitern »gestohlenen« Josef wirklich ein inhaltlich »hartes« Argument für diachrone Differenzierungen bereitstellen. Alles andere ist methodisch fragwürdig, weil das Argument zirkulär daherkommt (siehe B. Jacob). So lese ich auch selten etwas über die inhaltliche Motivation einer bestimmten Relecture.
Eruierte »Relectures« haben in den letzten Jahrzehnten zu sehr unterschiedlichen Theorien geführt: Die Vfn. legt eine neue vor. Wie in der älteren Forschung mit ihrer Quellenscheidung, werden in der redaktionskritischen Forschung alle Textstörungen hoch bewertet, wenn sie Argumente für eine diachrone Differenzierung bereitstellen können, und leider sogar dann, wenn das Gesamtkonzept als dominierend erkannt ist und der außerbiblische Vergleich reiche Frucht getragen hat. Das ist das Grundproblem, tut aber der insgesamt sorgfältigen und gut abwägenden Arbeit der Vfn. keinen Abbruch. Daneben ist das Werk gut lesbar als fortlaufender Kommentar zur Josefsgeschichte. Da es leider nicht viele deutschsprachige und neue Kommentare zur Genesis gibt, ist das ein nicht zu unterschätzender Gewinn.
Die Vfn. schreibt durchweg stilsicher und treffend. Nach der Einleitung (Kapitel 1) und der Methodik und Zielsetzung (Kapitel 2) folgen drei analytische Kapitel zu den Hauptstücken der Josefsgeschichte: die Aufstiegsgeschichte Gen 37–41 (Kapitel 3), die Begegnungen Josefs mit den Brüdern Gen 42–45 (Kapitel 4) und die Geschichte der Familie in Ägypten Gen 46–50 (Kapitel 5). Wer das in Kapitel 6 zusammengetragene Ergebnis (513–523) auch in den einzelnen Analysen nachlesen möchte, dem bietet die Vfn. bereits auf S. 15 sinnvolle Hinweise. Die üblichen Verzeichnisse (Kapitel 7–8) sind auf den ersten Blick fehlerfrei. Einige aufgeführte Titel scheinen allerdings keinen sichtbaren Einfluss auf die Diskussion genommen zu haben (z. B. R. Pirsons Aufsatz zu Gen 37,9). Fazit: Das exegetische Fragen hat auch dann seinen wissenschaftlichen Reiz und geistigen Gewinn, auch wenn nicht jedes Ergebnis en détail jede und jeden überzeugen wird.