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Ausgabe:

April/2018

Spalte:

331–332

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Vos, J. Cornelis de

Titel/Untertitel:

Rezeption und Wirkung des Dekalogs in jüdischen und christlichen Schriften bis 200 n. Chr.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2016. X, 509 S. = Ancient Judaism and Early Chris­tianity, 95. Geb. EUR 185,00. ISBN 978-90-04-32438-1.

Rezensent:

Karl-Wilhelm Niebuhr

In der christlichen Bibelüberlieferung und der auf ihr gründenden kirchlichen Rezeption kommt dem Dekalog zweifellos ein herausragender Rang zu, und zwar in beiden Testamenten. Dass dies von der Entstehung und Überlieferung der Schriften Israels her, die in das christliche Alte Testament eingegangen sind, nicht selbstverständlich ist, zeigt die frühjüdische Literatur, in der eine solche Sonderstellung des Dekalogs keineswegs festzustellen ist. Für seine vergleichsweise deutlich stärkere Rezeption schon in den frühesten Entstehungsstufen des Christentums wird man kaum bessere Gründe finden können als die bereits für Jesus bezeugte Bezugnahme auf ihn (vgl. Mk 10,19 parr; Mt 5,21.27). Damit sind die Pole benannt, zwischen denen die Untersuchung von J. Cornelis de Vos angesiedelt ist. In seinem Fazit hält er fest: »Im Vergleich zum Umfang des Korpus der frühjüdischen Schriften kommt der Dekalog […] wenig vor […] In frühchristlichen Schriften ist die Bedeutung des Dekalogs deutlich herausragender als in den frühjüdischen Schriften.« (364)
Um zu diesem recht eindeutig und geradezu grobschlächtig wirkenden Urteil zu gelangen, hat der Vf. in seiner Monographie den gesamten Quellenbereich zwischen der Fixierung der (später »masoretisch« genannten) Textgestalten des Dekalogs im 3. Jh. v. Chr. und der Herausbildung des christlichen Bibelkanons außerordentlich gründlich durchforstet. Im Ergebnis liegt, das sei vorab gesagt, ein Werk vor, das ohne Einschränkung als die wichtigste und in gewisser Weise abschließende Untersuchung zum Thema in der gegenwärtigen bibelwissenschaftlichen Forschung angesehen werden kann.
Nach einer kurzen Einleitung zu Gegenstand und Aufbau der Untersuchung behandelt Kapitel 2 die antiken Textzeugen des biblischen Dekalogs (Septuaginta, Samaritanischer Pentateuch; Qumranschriften, Papyrus Nash, Peschitta, Vetus Latina; masoretische Textüberlieferung schon in der Einleitung, 11–17). Aus der Vorrangstellung der Exodusfassung, die u. a. mit der Einordnung des Dekalogs in die Sinai-Offenbarung zusammenhängt und aus der die Verbindung des Sabbatgebots mit der Schöpfung herrührt (Ex 20,8–11), ergibt sich ein Universalisierungspotential, das für die Dekalogrezeption im Frühjudentum prägend wird. Die Pluralität der Textfassungen belegt zugleich, dass der Dekalog »zum kulturellen Gedächtnis der Juden in der untersuchten Zeit gehörte und höchstwahrscheinlich ein wichtiger Bestandteil der jüdischen Identität war« (83).
Als Ganzer wird der Dekalog im Frühjudentum nur bei Philon, Josephus und im Liber Antiquitatum Biblicarum (»Pseudo-Philo«) rezipiert, hat allerdings dort jeweils besonderes Gewicht (Kapitel 3). Philon in seiner expositio legis gliedert nicht nur den Gesamtbestand der Toragebote nach ihm, sondern stellt dem noch einen eigenen Traktat De Decalogo voran, in dessen Überschrift er die Dekaloggebote als »Hauptstücke« (κεφάλαια) der Einzelgesetze bezeichnet, sieht also im Dekalog so etwas wie eine Zusammenfassung der Tora. Darüber hinaus ordnet er den Dekalog und seine Gebote aber auch in seine allegorische Gesamtdeutung der Tora ein und interpretiert ihn von seinem Verständnis des Mose-Gesetzes als Ausdruck des universal gültigen Naturgesetzes her. Darin stimmt Josephus mit Philon im Wesentlichen überein, auch wenn sich beider Werke in der literarischen Gattung unterscheiden. Im Liber Antiquitatum ist der Dekalog narrativ in die Darstellung der Sinai-Offenbarung eingebunden und wird dort weitgehend wortgetreu, wenn auch nicht vollständig wiedergegeben (LibAnt 11,6–13). Ein zweites Mal kommt er in einer Gottesrede als Gerichtsankündigung zur Sprache (44,6–8).
In zahlreichen weiteren frühjüdischen Schriften wird der Dekalog zwar nicht als Ganzer wiedergegeben, wohl aber finden sich Zitate von ausgewählten Gebotsgruppen aus ihm, einzelnen Geboten oder wenigstens Anspielungen auf sie. Das einschlägige Quellenmaterial wird in Kapitel 4 untersucht. Es lässt sich kaum systematisch gliedern und auswerten (der Vf. richtet sich bei der Anordnung der Quellen im Wesentlichen nach dem Sammelwerk »Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit«). Wichtig ist aber als Ergebnis dieses Kapitels: »In den frühjüdischen Schriften ist das jüdische Gesetz an sich von großer Bedeutung, der Dekalog selbst aber im Vergleich dazu wenig.« (213) Von einer Sonderstellung oder gar dem Ersatz der Tora als Ganzer durch den Dekalog kann im Frühjudentum also keine Rede sein.
Das herauszustellen ist umso wichtiger, als im folgenden Kapitel 5 die neutestamentlichen Belege für eine Rezeption des Dekalogs untersucht werden. In erstaunlicher Breite zieht sich seine Präsenz, wenigstens in Gestalt einzelner Gebote oder Gebotsgruppen, durch alle wichtigen Traditionsschichten der neutestamentlichen Überlieferung, von den paulinischen und deuteropaulinischen Briefen über die synoptischen Evangelien und das Johannesevangelium bis hin zum Jakobusbrief. Schwerpunkte bilden nicht überraschend Paulus (Röm 7,7; 13,8–10) und Matthäus (5,21–48, dazu 19,16–22 in Parallele zu Mk 10,17–22), aber eben auch Jak 1,13–15; 2,8–11.
Ein systematisches Fazit lässt sich für das Neue Testament ebenso wenig ziehen wie für die frühjüdische Literatur. Ob es wirklich so auffällig ist, wie der Vf. insinuiert (267), dass im Neuen Testament nur Zitate aus der »zweiten Tafel« des Dekalogs vorkommen, kann man wohl bezweifeln, wenn man in Rechnung stellt, dass das Erste Gebot der Sache nach doch außerordentlich breit rezipiert wird (vgl. nur 1Kor 8,6; Jak 2,19; Mt 4,10 par Luk 4,8; Apk 1,8) und das Sabbatgebot zumindest in der Jesus-Überlieferung eine wichtige Rolle spielt (vgl. nur Mk 2,23–28 parr).
Relativ ausführlich kommt in Kapitel 6 noch die nachneutestamentliche frühchristliche Literatur bis zum Ende des 2. Jh.s (einschließlich Clemens Alexandrinus und Tertullian) zur Sprache, weil sich hier offenbar schon die Wirkung der breiten Präsenz des Dekalogs in den neutestamentlichen Schriften niedergeschlagen hat. Schriften wie die Didache und der Barnabasbrief belegen, »dass hier der Dekalog als eine Art Sammelbecken normativer Grundsätze fungiert, was auf die hohe Bedeutung hinweist, die der Dekalog unter frühen Christen genoss« (357). Ein knappes Fazit schließt die Untersuchung ab. Umfangreiche Anhänge mit Textsynopsen und tabellarischen Übersichten zu Wortlautübereinstimmungen und Differenzen dokumentieren den investierten exegetischen Aufwand. Ein Quellen- und Literaturverzeichnis sowie detaillierte Register helfen bei der Erschließung der Ergebnisse.
Das Buch zeugt in herausragender Weise von dem aktuellen Stand einer philologisch wie theologisch, historisch wie kultur- und religionsgeschichtlich hoch informierten Bibelwissenschaft, die dazu in der Lage ist, ebenso zentrale wie bekannte Inhalte und Problemstellungen der biblischen Überlieferung in höchst differenzierter Weise darzustellen und neu zu erschließen. Dem Vf. ist mit größter Hochachtung Dank zu sagen für ein Buch, das künftig zu den Standardwerken biblischer Exegese gehören dürfte.