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Ausgabe:

April/2018

Spalte:

328–330

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Mtata, Kenneth, Niebuhr, Karl-Wilhelm, u. Miriam Rose [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Das Lied des Herrn in der Fremde singen. Psalmen in zeitgenössischer lutherischer Interpretation.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2015. 300 S. = Lutherischer Weltbund: Dokumentation, 59. Kart. EUR 19,80. ISBN 978-3-374-04188-6.

Rezensent:

Stefan Beyerle

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Mtata, Kenneth, Niebuhr, Karl-Wilhelm, u. Miriam Rose [Eds.]: Singing the Songs of the Lord in Foreign Lands. Psalms in Contemporary Lutheran Interpretation. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2014. 272 S. = LWF Documentation, 59. Kart. EUR 19,80. ISBN 978-3-374-03773-5.


Dieser Sammelband dokumentiert eine internationale Tagung des Lutherischen Weltbundes und der Theologischen Fakultät der Universität Jena, die 2013 in Eisenach stattfand. Er liegt in englischer (2014) und deutscher Sprache (2015) vor. Der Band umfasst sechzehn Beiträge in interdisziplinärer Perspektive. Verantwortlich zeichnen Dozentinnen und Dozenten von fünf Kontinenten, die nicht selten und ganz im Sinne Luthers wissenschaftliche Theologie und kirchliche Praxis miteinander verknüpfen. Vor allem Exegese, Systematische und Praktische Theologie sind vertreten, wobei, bei der Thematik durchaus nachvollziehbar, die alt­testamentlichen Beiträge deutlich überwiegen. In sechs Ab­schnitten werden Fragestellungen zur Psalmendeutung erörtert. Grundsätzliche hermeneutische Themen, vor allem in Luthers Psalmenexegese, behandeln die Beiträge von Hans-Peter Großhans und Monica Jyotsna Melanchthon, Corinna Körting und Frank-Lothar Hossfeld († 2015) diskutieren methodologische Fragen, während Jutta Hausmann, Urmas Nõmmik und Roger Marcel Wanke problematische Psalmenthemen vor dem Hintergrund der Interpretationen von Martin Luther erörtern. Karl-Wilhelm Niebuhr, Craig R. Koester und Anni Hentschel untersuchen die Psalmenrezeption im frühen Christentum, und fast zwingend folgen darauf Beiträge zur lutherischen Psalmeninterpretation aus gegenwärtiger Perspektive von Vitor Westhelle, Brian Brock und Lúbomír Batka. Der Band schließt mit kontextuellen Zugängen zur Psalmendeutung von Madipoane Masenya (Ngwan’a Mphahlele), Andrea Bieler und Dorothea Erbele-Küster.
Schon die Vielfalt der Perspektiven, die sich vor allem aus den sehr heterogenen Milieus der Beitragenden ergibt, eröffnet unterschiedliche Möglichkeiten der Gliederung.
Großhans legt in seiner hermeneutischen Zentrierung die Entwicklungen der Psalmendeutung Luthers zwischen Literal- und geistigem Sinn dar, die beide bei Luther auch noch späterhin durchscheinen, da Luther der Lehre vom vierfachen Schriftsinn abgeschworen hatte. Motiviert ist dies im Axiom, dass alle kanonischen Schriften Christum bezeugen. Großhans fokussiert dabei auf die Gefahren einseitig »historischer« Interpretation – des »tötenden Buchstabens« (litera occidens) –, die in Luthers Auslegung von Ps 72,2–8 (V. 8) und Ps 1 betont werden und die er durch die Referenz auf den »lebensspendenden Geist« (spiritus vivificans) zu überwinden sucht (nach Luther: sensus literalis versus sensus spiritualis). Die Entscheidung darüber, ob ein Psalm als »tötender Buchstabe« oder »lebensspendender Geist« aufgefasst wird, liegt in der Haltung des Beters, coram mundo oder coram deo, begründet. Später, im fünften Abschnitt, eruiert Westhelle den übersetzungstheoretischen Aspekt in Luthers christologischer Psalmeninterpretation (s. u.).
Auch Melanchthons Beitrag einer intertextuellen, genderorientierten und interkulturellen Einzelexegese von Ps 140 gehört eigentlich in den fünften Abschnitt, wenngleich er im ersten, hermeneutischen Teil zu stehen kommt. Melanchthon, indischer Herkunft, lehrt momentan als Professorin in Australien. Indem sie die harsche, völlig »ungeschönte« Klage des Einzelnen aus Ps 140, auf der Basis historisch-kritischer Diskussion, mit dem Schicksal von Jyoti Singh Pandey, einer jungen Frau, die 2012 in Delhi bei einer Gruppenvergewaltigung ermordet wurde, konfrontiert, erhält der Psalm eine geradezu »erdrückende« Aktualität: ein wichtiger und insbesondere allen westeuropäischen Exegeten lehrreicher Beitrag. Gleiches gilt für die Exegese von Ps 8 der südafrikanischen Theologin Masenya, die die egalitäre Wirkung, dass alle Menschen in ’ādām undænôš gemeint sind, sowohl mit der nachexilischen Situation in Jehud als auch mit den Erfahrungen als junge Südafrikanerin im Apartheid-Regime verknüpft. Dass Psalmen nicht nur tröstlich wirken, sondern, ganz im Sinne Luthers, existenzielle Wirkung zeitigen, unterstreicht der Beitrag von Bieler, der aus praktisch-theologischer Perspektive die Wirkung von Psalmen und ihrer raum- und schutzwirkenden Sprache wie Motive auf amerikanische Kriegsveteranen mit posttraumatischer Belastungsstörung untersucht.
Die westeuropäische Sicht repräsentiert Hausmanns Diskussion der Gewaltmotivik in den Psalmen. Wie Hausmann richtig betont, ist die andere Seite der Medaille einer christologischen Psalterdeutung (s. zu Großhans) der schon bei Luther selbst klar formulierte Antijudaismus, der in Kirchengemeinden bis heute in der Abwertung des Alten Testaments als gewaltaffin durchschimmert. Diesen Vorurteilen setzt der Beitrag zwei Lesarten »problematischer« Psalmen (58 und 137) entgegen. Die genannten Gebete werden zu den »Rache-Psalmen« gerechnet, die dann auch Wanke diskutiert. Ähnlich wie der Klage im Allgemeinen (dazu Nõmmik: s. u.) eignet den Rache-Psalmen eine tief existenzielle Erfahrung des Beters. Wanke detailliert jene Erfahrung im Horizont der kultischen, weisheitlichen und rechtlichen Krisen, wie sie in den Texten durchscheinen oder vorausgesetzt sind. Zurück bei Luther, betont Wanke, dass in der Interpretation aus »Rache-« »Reue-« Psalmen Gottes wurden. Der Antijudaismus Luthers spielt hier keine Rolle.
Corinna Körting nimmt die alte, aber immer noch und immer wieder aktuelle Fragestellung nach der Funktion des Psalters als liturgisches »Begleitbuch« oder individuelles »Meditationsbuch« auf und plädiert, ganz im Sinne Luthers, für eine Stärkung musikalischer Sinndeutungen der Psalmen. Wenn Hossfeld die synchronische Psalter- gegen die diachronische Psalm-Exegese stellt, muss dies nicht in Widerspruch zur musikalischen Vergegenwärtigung geraten – im fünften Abschnitt kann Brock dem gesungenen Gotteslob gar eine ethische Dimension abgewinnen (s. u.). In den Zusammenhang einer grundsätzlichen Psalmenhermeneutik gehört auch der Aufsatz von Nõmmik, der der Klage, zunächst in der Königszeit und später in der Zeit des Zweiten Tempels, einen kultischen Sitz im Leben zuschreibt. Für die monarchische Zeit dienen Abwehrrituale aus dem altorientalischen Umfeld als Entdeckungszusammenhänge für den apotropäischen Gebrauch der Klage. Damit wirft ein basales Verständnis der Klage auch ein Licht auf die existenzielle Dimension der Klagegebete im Alten Testament, die am Ende durch Christus im Gotteslob aufgefangen wird.
Somit ist man beim vierten Abschnitt des Bandes, der frühchristlichen Psalmenrezeption, angekommen (Koester, Hentschel). Koester geht von Luther bzw. der gegenwärtigen Gemeindepraxis aus, wenn er die dezidiert christliche Bedeutung der Psalmen befragt, wobei ihm die Apostelgeschichte und das Johannesevangelium als Orientierung dienen. Hentschel verfolgt eine ähnliche Absicht, indem sie den Hebräerbrief in den Fokus nimmt. In einer Anfechtungssituation der Adressaten greift der Brief mit den Psalmenzitaten Legitimationsansprüche des Gekreuzigten auf: Diese betonen Christi gottgleiche Macht über den Engeln. Während die Engel ihre Macht durch Gott ableiten, partizipiert Christus als Hohepriester zur Rechten Gottes an jener Macht (Hebr 1,1–5; vgl. Ps 110,1). Die »andere Seite«, Jesu Menschsein, wird am Psalmzitat aus Ps 8,4–6 (Hebr 2,5–18) erläutert. Betrachtet durch die Linse der Psalmen, sind Christi Leiden und Tod gerade Zeichen seiner gottgleichen Herrlichkeit. Wenn Christi Erhöhung und Niedrigkeit im Hebräerbrief als Modell für die Gemeinde dient, wie Hentschel betont, dann ist man bei der Rezeption des Jonapsalms angelangt. Niebuhr geht zunächst den Bedeutungsnuancen dieses Psalms (Jona 2,3–10) im Jonabuch nach, um Letzteres anschließend in der antik-jüdischen Tradition und bei den Synoptikern zu interpretieren. Die »Vorgabe« Luthers deutet den Psalm im Sinne des sensus spiritualis (s. dazu: Großhans) als Auferstehungszeugnis. Auch wenn der Jonapsalm in der Jesus-Tradition selbst keine Rolle spielt, so hat doch der Evangelist Matthäus (Mt 12,40) das Bild vom Bauch des Fisches als Auferstehungssymbol genutzt.
Der fünfte Abschnitt thematisiert Luthers Psalmeninterpretation aus der Gegenwartsperspektive mit dogmatischen und ethischen Schwerpunkten. Westhelle setzt mit Luthers Psalterübersetzung ein. Nach Luther: Sprache ist der »Spiegel des Herzens«, und so sollen die Wörter dem Sinn folgen und nicht umgekehrt. Westhelle betont, dass Luther damit »moderne« text- und übersetzungshermeneutische Probleme (Walter Benjamin, Paul Ricœur) vorwegnimmt. Für die christologische Interpretation des Psalters lässt sich also auch eine im weitesten Sinne sprachtheoretische Ebene bei Luther ausmachen: Brock argumentiert, dass Luthers affekt-affine Lesart des Psalters eine fundamental-ethische Konsequenz in der Haltung des Gotteslobes zeitigt, die dazu anleitet, ethische Fragen neu und anders zu formulieren. Im Gesang der Psalmen als Verherrlichung Gottes vollzieht sich im Menschen die »Inversion« von der Blindheit zum Sehen. Als »Lobpreis-Schule« verweist Brock auf das »Confitemini Domino« (Ps 118). Brock geht hier über die übersetzungstheoretischen Akzente bei Westhelle hinaus, wenn er sprachtheoretisch und unter Berufung auf Wittgenstein das Wort im gemeinschaftlichen Lobgesang als Weg zu Gott selbst konfiguriert. Die Analyse von Luthers »Operationes in Psalmos« (1519–1521) durch Batka schließt hier an, insofern sie den Bedeutungsgehalt der trinitarisch strukturierten Macht des Wortes bei Luther als Ausgangspunkt wählt und jene trinitarische Struktur in der Auslegung der ersten zweiundzwanzig Psalmen in den »Operationes« durchdekliniert. Schließlich argumentiert Erbele-Küster aus der Perspektive der Alttestamentlerin für eine enge Verbindung von Poetik bzw. Ästhetik und Ethik in den Psalmen – mit dem Blick auf Ps 27.
Der besondere Reiz des Bandes liegt in seiner Multiperspektivität, die in sämtlichen Beiträgen auf einer soliden, exegetischen Methodik im Umgang mit den Psalmen und dem Psalter aufbaut.