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Ausgabe:

April/2018

Spalte:

316–318

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Goulet-Cazé, Marie-Odile

Titel/Untertitel:

Kynismus und Christentum in der Antike. Aus d. Franz. v. L. R. Seehausen. Hrsg. v. M. Frenschkowski.

Verlag:

Göttingen u. a.: Vandenhoeck & Ruprecht 2016. 267 S. = Novum Testamentum et Orbis Antiquus/Studien zur Umwelt des Neuen Testaments, 113. Geb. EUR 110,00. ISBN 978-3-525-59371-4.

Rezensent:

Bernhard Lang

Die Philosophie der Kyniker, die bekannteste Popularphilosophie der Antike, war bis vor etwa zwanzig Jahren nur wenig erforscht. Das hat sich seitdem geändert, vor allem durch vier Bücher der heute besten Kennerin der einschlägigen Quellen – Marie-Odile Goulet-Cazé: L’ascèse cynique (1986), Les Kynika du stoicisme (2003), Cynicisme et christianisme dans l’Antiquité (2014) und die umfangreiche Aufsatzsammlung Le cynicisme, une philosophie antique (2017). Nun liegt mit Kynismus und Christentum in der Antike eines dieser Bücher auch in deutscher Übersetzung vor.
Für die Vfn. ist der Kynismus nicht nur Lebensform, die auf dem Entschluss beruht, unter Verzicht auf Haus, Besitz und Familienleben als philosophischer Bettler zu leben, erkennbar an Bart, Philosophenmantel und Proviantsack. Vielmehr gilt ihr der Kynismus als ausgearbeitete Philosophie. Große Bedeutung misst die Vfn. der Haltung der Kyniker zur Religion bei. Zwar mag dem Monotheismus des Antisthenes, des historischen Gründervaters der Kyniker, echte Religiosität zugrunde liegen, doch die dominante Note sei Atheismus oder Agnostizismus. Wenn in der Kaiserzeit die Kyniker gelegentlich als fromme, auf Zeus und Herakles vertrauende Menschen geschildert werden (so bei Epiktet, Dion von Prusa und Kaiser Julian), dann liege hier eine Fiktion vor, die den wahren agnos­tischen Charakter der Kyniker verfälsche. Der fromme Diogenes, der sich von Zeus beauftragt wisse, entspringe der Phantasie des Stoikers Epiktet. Die echte Haltung der Kyniker zeige sich noch einmal bei Oinomaos, dem Autor der gegen das antike Orakelwesen gerichteten »Entlarvung der Gaukler« (fragmentarisch überliefert bei Eusebius, Praeparatio evangelica 5). Zu den echten Kynikern gehören auch jene, die sich kritisch über die Mächtigen äußern und so ihren Mut beweisen; das ist gegenüber dem alten Kynismus etwas Neues. Ihr mutiges Auftreten verschafft den Kynikern Respekt, bringt ihnen jedoch auch Missgunst und allerlei Nachteile; zeitweise werden einige von ihnen – wie gleichzeitig manche Stoiker – geradezu verfolgt, so im 1. und frühen 2. Jh. unter den Kaisern Nero, Vespasian, Titus, Domitian und Trajan.
Dieses Bild erweitert die Vfn. durch einen Blick auf die mögliche Rezeption der kynischen Philosophie und Lebensweise im Judentum sowie bei Jesus und Paulus. Sie mustert die einschlägige Forschungsliteratur über Philon von Alexandrien, Josephus, das rabbinische Schrifttum, Jesus, die den Evangelien vorausliegende Logienquelle ›Q‹ und Paulus. Gegenüber der Annahme von kynischem Einfluss mahnt sie zu Nüchternheit und Zurückhaltung, nicht zuletzt aufgrund ihres Eindrucks, das antike Palästina sei vom Hellenismus nur wenig berührt worden. Zwar ließen sich hier und dort kynische Spuren finden, etwa wenn die Septuaginta den biblischen Nabal (1Sam 25,3) versehentlich zu einem kynikós macht, so dass ihn Josephus als einen »hartherzigen und bösen Mann« beschreiben kann, »der sein Leben nach der kynischen Art (áskêsis) einrichtet« (Josephus, Antiquitates 6, 296). Doch das bleibt eine Kuriosität. Fündig werde man eigentlich nur bei Philon, der in Quod omnis probus liber sit mit Begeisterung kynische Anekdoten erzählt. Auch in De specialibus legibus II, 42–48 anerkennt die Vfn. kynisches Ideengut. Was die in der Forschung verbreiteten kynischen Jesusbilder angeht, so äußert die Vfn. große Skepsis. Die These von Jesus dem Kyniker überzeugt die Vfn. nicht; sie will eher Analogien entdecken, die zwar unzweifelhaft vorhanden sind, jedoch sich auch ohne unmittelbar kynischen Einfluss verstehen lassen.
Im letzten, den Kirchenvätern gewidmeten Teil des Buches bietet die Vfn. eine Sammlung von Belegstellen. Kyniker und Christen der ersten Jahrhunderte hatten vieles gemeinsam: die Askese, das missionarische Bewusstsein, die Kritik an Reichtum und Ehre als falschen Werten vieler Menschen. Die Folge ist ambivalent: Positiven Wertungen stehen kritische Auslassungen gegenüber. Kirchenväter wie Klemens von Alexandrien, Origenes, Basilius von Caesarea und Theodoret von Cyrus finden anerkennende Worte über die Kyniker. Eusebius schätzt die Orakelkritik des Oinomaos und macht sie sich zu eigen. Dem stehen kritische Bewertungen gegenüber: Die Schamlosigkeit, mit der die Kyniker der ersten Generation ehelichen Verkehr pflegten, führt zu Angriffen etwa von Tatian (Oratio ad Graecos 2,2) und Augustinus (De civitate Dei 14,20). Auch gilt Diogenes als Aufschneider, »der mit seinem Fass renommierte und mit seiner Enthaltsamkeit prahlte« (Tatian, Oratio ad Graecos 3,8). Der Verwechslung von christlichen und kynischen Asketen wollen manche christliche Autoren entgegenwirken.
Die Vfn. kann zwei Kyniker ausmachen, die zugleich Christen waren, also über eine doppelte Identität verfügten: Peregrinus Proteus (zeitweise, bevor er zum reinen Kynismus zurückkehrte) und Maximus Heron. Letzterer war zunächst mit Bischof Gregor von Nazianz befreundet und erhielt von ihm höchstes Lob, doch später kam es zur Entzweiung, und der Bischof lässt kein gutes Haar an ihm. Gregor fand jedoch auch nach seiner Enttäuschung noch lobende Worte für den guten Diogenes ( Carmina I 2,10 = PG 37, 696).
Zum Schluss noch ein Wort in eigener Sache, da die Vfn. ausführlich auf mein Buch Jesus der Hund: Leben und Lehre eines jüdischen Kynikers (München 2010) eingeht und darin geradezu »gefährliches« Gedankengut erblickt. Anders als die Vfn., jedoch mit der Mehrheit heutiger Bibelwissenschaftler, gehe ich von einer weitgehenden Hellenisierung Palästinas im 1. Jh. aus. Außerdem ist nicht damit zu rechnen, dass alle Rezipienten des Kynismus diesen in reiner, unverfälschter, Diogenes in allen Einzelheiten verpflichteter Gestalt übernommen haben. Die Vfn. selbst bescheinigt dem Gedanken an die Existenz von »Kynismen« im Plural Legitimität. Für Jesus selbst rechne ich mit der Verbindung zweier inhalt-gebender Traditionen: der prophetischen Tradition des Alten Tes­taments und der popularphilosophischen, vor allem kynischen Tradition aus dem Hellenismus. Dementsprechend verstehe ich Jesus als Propheten und Philosophen, und keineswegs ausschließlich als Philosophen. Hier wird mein Buch von der Vfn. einfach missverstanden. Auch die groteske Annahme, die Leviten seien Kyniker (182), habe ich nie vertreten. Die Forschung über kynische Einflüsse auf die Jesusbewegung und auf Philon von Alexandrien ist inzwischen gegenüber dem von der Vfn. vorausgesetzten Befund fortgeschritten, vgl. B. Lang, Jesus among the Philosophers. The Cynic Connection Explored and Affirmed, with a Note on Philo’s Jewish-Cynic Philosophy, in: Religio-Philosophical Discourses in the Ancient Mediterranean World, hrsg. von Anders Klostergaard Petersen u. a., Leiden 2017, 187–218.
Der Vfn. verdanken wir ein lesenswertes, anregendes Buch, das die Kyniker endlich ins Blickfeld auch der theologischen Forschung rückt.