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Ausgabe:

April/2018

Spalte:

299–314

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Matthias Gockel

Titel/Untertitel:

Theologie des Heiligen Geistes?

Erwägungen zu Karl Barths Schleiermacher-Interpretation




Einleitung: Eine Liebesgeschichte?

Im Wintersemester 1929/30 deklamiert Karl Barth, weithin be­kannt als unermüdlicher Kritiker der protestantischen Theologie des 19. Jh.s: »Wer von dem Glanz, der von [Schleiermacher] ausgegangen ist und noch ausgeht, nichts gemerkt hätte, [der sollte es] unterlassen, gegen diesen Mann auch nur den Finger aufzuheben. Wer hier nie geliebt hat und wer nicht in der Lage ist, hier immer wieder zu lieben, der darf hier nicht hassen.«1 Vierzig Jahre später hören wir ein ähnliches Bekenntnis: »Es ist zwar etwas daran, dass ich ein Antipode zu Schleiermacher geworden bin. Aber bitte, Schleiermacher ist ein von mir sehr respektierter und geliebter Antipode.«2 Zur Kennzeichnung seiner Haltung zu Schleiermacher zitiert Barth aus Mozarts Figaro: »Immer sprach zu seinem Vorteil eine innere Stimme schon«3.

In Barths ersten Jahren als Universitätslehrer ist diese innere Stimme noch nicht hörbar. Er meint, er könne Schleiermacher »leider nicht«4 lieben. Doch der Widerspruch wird bereits von einer relativen Würdigung, die Schleiermacher von anderen theologischen Richtungen zu Beginn des 20. Jh.s abhebt, begleitet: »Schl. macht intelligent, lehrreich und großzügig, was das unnütze Volk der Neuern dumm, ungeschickt, inkonsequent und furchtsam macht. Will man schon ein modernes Christentum, dann wäre es wohl am besten, mit Schl. durch dick und dünn zu gehen, wo die Sache wenigstens neu ist und Schmiss hat.«5 Barth kennzeichnet Schleiermacher als Hauptverantwortlichen für die »erschütternde« Situation der Gegenwart, zugleich ist ihm diese Diagnose ein »fast erdrückender Gedanke«6. Er wisse, »wie leicht es ist, hier mit Worten Nein! zu sagen, wie schwer dagegen mit der Tat, nämlich mit der positiven Gegenleistung«7.

Dass es nicht ausreicht, das Nein zu Schleiermacher bloß zu behaupten, bleibt Barths lebenslange Überzeugung. Seine vertiefte Beschäftigung mit der neuzeitlichen Geistes- und Kulturgeschichte in den folgenden Jahren kommt zu dem Ergebnis, dass die unkritische Anpassung der protestantischen Theologie an die allgemeine »Fortschrittsbewegung«8 bereits vor Schleiermacher begann: »Es war […] die am Anfang des 18. Jahrhunderts moderne Richtung der sog. ›vernünftigen Orthodoxie‹, in der die Katastrophe sich ereignete und der Neuprotestantismus seine eigentliche und öffentliche Geburt erlebte.«9 In dieser Perspektive stelle Schleiermachers Betonung des frommen Gefühls, als Kontrast zu Kants Ethisierung des Christentums, eher den End- als den Ausgangspunkt eines theologischen Niedergangs dar. Außerdem warnt Barth seine Studenten nun vor der Erwartung, »am Ende des langen Irrweges« des modernen Pro-tes­tantismus »endlich und zuletzt bei der sogenannten dialek-tischen Theologie als der längst erwarteten und geahnten, aber im­mer wieder verfehlten Rettung aus aller Not herauszukommen«10.

Diese Haltung stieß zuweilen auf Widerwillen, wie Helmut Gollwitzers anschaulicher Bericht aus Barths Bonner Sozietät im Sommer 1931 zeigt:

Wir rüsteten uns auf eine große Metzelei und freuten uns auf den Leichenschmaus. Aber nichts dergleichen wurde uns gegönnt. Die ersten Sitzungen verliefen mit liebevollen Schilderungen von Schleiermachers Leben und Persönlichkeit; in der Sozietät wurde das noch durch viel Detail ergänzt. Schließlich lief K. G. Steck eines Nachts wütend […] nach Hause: er streikte; diesen Dilthey-Salat habe er satt.11

Tatsächlich nennt Barth zunehmend auch entlastende Gesichtspunkte. So wird Schleiermacher als löbliches Beispiel einer »chris­tozentrischen« Gegenbewegung genannt, wenngleich diese zu spät erfolgt sei, weil man schon »so viel natürliche Theologie in sich aufgenommen hatte, daß man Joh. 1,14 gar nicht mehr genuin zu verstehen in der Lage war.«12 Darum werde in Schleiermachers Bestimmung des Gegenübers von Gott und Mensch offensichtlich der Mensch das alleinige Subjekt und Christus »sein Prädikat«13.

Barth entfaltet dieses Urteil in mehreren Schritten und findet es in Schleiermachers Christologie bestätigt. Zugleich erwägt er mehrfach, ob man Schleiermachers Denken besser gerecht werde, wenn man es im Sinne einer Theologie des Heiligen Geistes versteht. Diese Erwägungen sollen im Folgenden rekonstruiert und ausgewertet werden. Zunächst werden wir Barths Position im Kontext der wichtigsten Etappen seiner Auseinandersetzung mit Schleiermacher darstellen. Darauf folgt eine systematische Vertiefung von zwei Aspekten. Am Schluss stehen vier Thesen.

I Theologie des Heiligen Geistes


Barths bis heute wirkmächtigster Text über Schleiermacher entstand im Sommer 1968.14 Er schließt mit einer grundsätzlichen Reflexion über die Möglichkeit einer »Theologie des 3. Artikels«, die Barth zur Klärung seines Verhältnisses zu Schleiermacher »gelegentlich in Erwägung gezogen und unter guten Freunden wohl auch da und dort schon angedeutet habe«15. Damit meint er eine Theologie, die das gesamte dogmatische Spektrum, einschließlich der Aussagen zum ersten und zweiten Artikel, »in seiner Grundlegung durch Gott den Heiligen Geist« betrachten und so das »ganze Werk Gottes für die Kreatur, für und in und mit dem Menschen […] in seiner einen, alle Zufälligkeit ausschließenden Teleologie sichtbar«16 machen würde.

Barth denkt, mit einem solchen Ansatz dem Anliegen Schleiermachers gerecht werden und zugleich dessen Defizite vermeiden zu können. Was er nicht erwähnt, und was in der Barth-Forschung zumeist übersehen wird, ist die Tatsache, dass er diese Möglichkeit bereits im Winter 1929/30 erwogen hatte. Es handelt sich nicht um einen neuen Einfall, sondern um eine Überlegung, die »regelmäßig«17 im Zusammenhang seiner Beschäftigung mit Schleiermacher auftritt. Neu ist jedoch der systematische Akzent, den Barth mit dem Stichwort der »Teleologie« des Werkes Gottes ins Spiel bringt. Seine früheren Überlegungen in diese Richtung, denen wir uns zuerst zuwenden, bezogen sich eher auf fundamentaltheologische Fragen.

1 Religion und Offenbarung: Pneumatologie in Barths Prolegomena zur Dogmatik


Die drei Versionen der Prolegomena von 1924, 1927 und 1932 haben denselben Aufbau und dasselbe Thema. Das gilt auch für den jeweiligen pneumatologischen Abschnitt, dessen Struktur trotz der erheblichen Ausweitung von 37 und 55 Seiten (1924 und 1927)18 auf 282 Seiten (1938) gleichbleibt. Dort geht es um die Frage nach der Antwort des Menschen auf Gottes Offenbarung, die Barth als Werk des Heiligen Geistes versteht. Auch die Hauptbegriffe bleiben dieselben: es geht um die subjektive Möglichkeit und Wirklichkeit der Offenbarung, im Anschluss an die Christologie als Frage nach der objektiven Möglichkeit und Wirklichkeit der Offenbarung. Exemplarisch für Barths Ansatz ist diese Äußerung von 1927:

Ein erneuter Rekurs auf die Wirklichkeit Gottes kann ja selbstverständlich auch hier die allein mögliche Antwort sein, und die Wirklichkeit Gottes in dieser Beziehung ist eben der heilige Geist. Er ist der Inbegriff der Aufmerksamkeit, Aufgeschlossenheit, Aufnahmefähigkeit des Menschen für die Offenbarung. Er ist der Grund und die Wahrheit des Glaubens und des Gehorsams, in dem der Mensch Gott begegnet, wie Gott in Jesus Christus ihm begegnet.19

Der menschliche Glaube äußert sich für Barth nicht als unmittelbare Beziehung zu Gott, sondern als »das durch Offenbarung an Offenbarung, durch den heiligen Geist an das Wort, an Jesus Christus gebundene Verhalten des Menschen zu Gott.«20 An diesem Punkt stelle Schleiermachers Theologie die »große Verwechslung«21 dar, denn ihr Religionsbegriff identifiziere den Glauben direkt mit der göttlichen Möglichkeit und Wirklichkeit der Offenbarung, indem der Mensch die »göttliche Subjektivität« sich selbst zuschreibe und »kein Gegenüber« mehr habe.22 Für Barth sollen Gott und Mensch zur Geltung kommen, und genau das sei bei Schleiermacher nicht der Fall. Dort werde die Aktivität des Menschen im Verhältnis zu Gott nicht als »wirkliche Tat«, sondern als etwas bloß »Sekundäres« vorgestellt. Das Gottesverhältnis sei ein »nur durch sich selbst bestimmtes, sich selbst gleiches ruhendes Sein«. Die Annahme, dass Gott und Mensch »von Haus aus in einem Zusammenhang« stünden, führe dazu, dass »von einer wirklichen Zuwendung Gottes zum Menschen, von einer im Glauben stattfindenden Zuwendung des Menschen zu [Gott] nicht die Rede sein« könne. 23

Barth versteht das Gottesverhältnis von menschlicher Seite her immer als Gespräch und Drama, deren Konstanz nur in Gott zu suchen sei. Schleiermacher kenne zwar auch einen Gegensatz von Sünde und Gnade:

Aber nun rächt sich die unheimliche Indifferenz des vorausgesetzten systematischen Zentralbegriffs: Das fromme Gefühl nimmt nach § 5 [der Glaubenslehre] an diesem nur das gegenständliche Bewußtsein berührenden Gegensatz nicht teil, und auch dort besteht er nur relativ, nur quantitativ als das mehr oder weniger leichte oder schwierige, freiere oder gehemmtere Hervortreten des an sich kontinuierlichen Gottesbewußtseins in den einzelnen Momenten des gegenständlichen Bewußtseins, nie und nirgends als prinzipieller, vollständiger, exklusiver, unverträglicher Gegensatz. Niemand stirbt an der Sünde, und niemand wird gerettet durch die Gnade, sondern es bleibt bei einer fließenden Differenz, bei einem äußeren Oszillieren desselben, selbst nie in Frage gestellten Gefühls zwischen zwei äußersten Grenzpunkten. 24

Entfaltet Barth sein pneumatologisches Hauptthema zunächst im Kontrast zu Schleiermachers Religionsverständnis, spielt dieses in den entsprechenden Abschnitten von KD I/225 keine Rolle mehr. Barths Religionskritik kommt nun ohne direkte Bezugnahmen auf seinen Antipoden aus.

Dieser Befund überrascht, denn der kritische Grundsatz, die Religion streng von der Offenbarung her zu verstehen, bleibt un­verändert in Kraft. Allerdings haben wir bereits in der Einleitung gesehen, dass Barth zunehmend bereit war, in seiner Kritik an Schleiermacher mildernde Umstände anzuerkennen. Es ist anzunehmen, dass die Veränderungen zwischen 1927 und 1935/36 auf Barths Beschäftigung mit Schleiermacher im Wintersemester 1929/30 zurückgehen, wobei es im ersten Teilband der Kirchlichen Dogmatik (KD I/1) nochmals zu einer Modifizierung kommt. Diese These soll in den beiden folgenden Abschnitten erhärtet werden.

2 Christologie und Pneumatologie in Barths Vorlesung zur


Protestantischen Theologie des 19. Jahrhunderts (1929/30)


Barths kritische Darstellung stimmt weitgehend mit seinen früheren Äußerungen überein. Ein markanter Unterschied besteht je­doch darin, dass sie jetzt eine positive Aufnahme des Anliegens Schleiermachers enthält.

Barth resümiert, das »primäre und charakteristische sachliche Motiv« in Schleiermachers Theologie sei der glaubende Mensch: »Das christlich fromme Selbstbewußtsein betrachtet und be­schreibt sich selbst«26. Dieses Selbstbewusstsein sei allerdings keine in sich bleibende Einheit, sondern unterscheide sich selber »von einem anderen außer ihm«, und nur in dieser Unterscheidung oder »Vermittlung« habe es seine Wirklichkeit. Schleiermacher kenne also durchaus ein »zweites Motiv« seiner Theologie: »Gott, Christus, die Offenbarung oder wie man das nennen will«27. Ebenso wie die reformatorische Theologie, die für Barth den kritischen Maßstab darstellt, wolle Schleiermacher den Gottesgedanken sowohl auf das Tun Gottes gegenüber dem Menschen als auch auf das Tun des Menschen gegenüber Gott hin entfalten. Dass er dabei als moderner Theologe beim Tun des Menschen gegenüber Gott ansetze, dürfe man ihm »nicht zum vornherein übel nehmen«, denn immerhin habe die Möglichkeit bestanden, dem Anliegen seiner Zeit durch eine angemessene Lehre vom Heiligen Geist als subjektiver Wirklichkeit des »durch Gnade begnadigten Menschen« gerecht zu werden und damit die Freiheit des Menschen für Gott so überzeugend auszusagen, wie es die Reformatoren vermochten; Barth ist überzeugt, dass Schleiermacher es »mindestens so meinte (wenn auch vielleicht nicht durchführte)«28. Im Zentrum der Kritik steht daher nicht mehr das theologische Programm als solches, sondern dessen Durchführung und damit die Frage, ob Schleiermacher seiner Absicht gerecht geworden sei.

Um dies zu prüfen, überlegt Barth zunächst, ob die Gottheit des Logos ebenso zur Geltung komme wie die Gottheit des Heiligen Geistes, die Schleiermachers »eigentliches Zentrum« sei oder zu­mindest »bei dem, was er als sein eigentliches Zentrum ausgibt, offenbar gemeint ist.«29 Sollte dies der Fall sein, wäre erwiesen, dass das Zentrum der Theologie Schleiermachers tatsächlich nicht nur das fromme Bewusstsein sei, und es wäre sichergestellt, dass im Gegenüber von Gott und Mensch die eine Größe nicht von der anderen absorbiert würde.

Zur Veranschaulichung bezeichnet Barth Schleiermachers Theo­logie als eine Ellipse mit zwei Brennpunkten; diese sind der Christ und Christus bzw. der Mensch und Gott. Das Problem liege dabei nicht in der Annahme zweier Brennpunkte, sondern in der Tendenz, dass die Ellipse zu einem Kreis mit nur einem Zentralpunkt werde. Genau das solle vermieden werden. Barth meint, es bleibe bei Schleiermacher unklar, ob Christus »entscheidend mehr als eine besondere, allerdings wichtigste Näherbestimmung des Zustandes des Christen« sein könne. Der Wille zur »Überordnung Christi über den Christen« sei zwar erkennbar, werde aber nicht konsequent ausgeführt, denn es gebe einen »Indifferenzpunkt« über beiden Momenten, von dem aus die Unterscheidung vorgenommen werde und der ein fragwürdiges Gleichgewicht anstatt einer bestimmten Über- und Unterordnung impliziere.30 Auf diese Weise werde die dynamische Bewegung und »Labilität«31 in der Begegnung von Mensch und Gott stillgestellt.

Barth kritisiert also die Auflösung des objektiven Moments im subjektiven, bleibt aber ebenso skeptisch gegenüber dem umgekehrten Vorgang.32 Damit verbunden ist die Ablehnung der Vorstellung eines Gleichgewichts zwischen Mensch und Gott bzw. dem Christen und Christus. Schleiermacher konzentriere sich auf das subjektive »Erlebnis« als psychologische Größe, und von daher verstehe er das zweite, objektive Moment als historische Größe: Christus sei die besondere Wirkursache oder »das Prinzip der Individuation«33 des christlich frommen Bewusstseins. Fatal sei daran, dass beide Faktoren, das Geschichtliche und das Psychologische, als sich gegenseitig bedingende Glieder einer Kausalreihe bestimmt werden, denn damit könnte eine quantitative, aber keine qualita-tive Überordnung des Wortes bzw. der Würde und Bedeutung Christi über den Glauben bzw. die Christlichkeit des Menschen ausgesagt werden.

An dieser Stelle entsteht nun ein semantisches Problem. Barth verwendet die Bezeichnungen »objektiv« und »subjektiv« einerseits für das Verhältnis von Gott und Mensch bzw. Christus und den Christen, andererseits für das heilsökonomische Wirken des Logos und des Heiligen Geistes. Dadurch kommt es zu einem Changieren. Die Differenz objektiv-subjektiv beschreibt sowohl die »ultimative Gegenüberstellung«34 zwischen Gott und Mensch als auch das gleichrangige Verhältnis der zwei trinitarischen Personen Lo­gos und Geist. Zugleich geht es Barth in beiden Fällen darum, dass die Unterscheidung zwischen Gott und Mensch gewahrt bleibt und es nicht zu einer Auflösung des einen Moments im an­deren kommt. Gerade die Vorstellung einer Theologie des Wortes Gottes, die das menschliche Handeln gegenüber Gott nicht mehr berücksichtigt, wird konsequent zurückgewiesen: Offenbarung kann »subjektiv nur wirklich sein in voller Aktion«, als »wirkliche Tat« des Menschen.35 Eine »rechtschaffene« evangelische Theologie kann »nicht bloß ein Zentrum, einen Gegenstand haben wollen, gerade indem [scil. weil] sie Gott zum Gegenstand hat.«36 Denn wäre ihr Zentrum nur das Handeln Gottes und das Wort, würde sie zur Metaphysik, und wäre ihr Zentrum nur das Handeln des Menschen und der Geist, würde sie zur Mystik.37

Barths Diagnose, dass in Schleiermachers Theologie das objektive Moment im subjektiven »aufgehen und verschwinden«38 müsse, ist daher weniger selbstverständlich, als es scheint. Denn das tatsächliche Problem besteht darin, dass sowohl die subjektive Rolle des Heiligen Geistes als auch die objektive Rolle des Wortes auf subjektive Weise (miss-)verstanden werden. Es geht also nicht bloß um den Gegensatz zwischen subjektivem und objektivem Mo­ment, sondern um die zweifache Überordnung im subjektiven Moment (der Heilige Geist im Verhältnis zum religiösen Erleben) und im objektiven Moment (der Logos/Jesus Christus im Verhältnis zum geschichtlich Wirksamen). Wie in den Prolegomena von 1924 verbürgt der Heilige Geist als die subjektive Wirklichkeit der Offenbarung gemeinsam mit dem Wort oder Sohn Gottes auch deren objektive Geltung und damit die wahre menschliche Gotteserkenntnis.
Zugleich wird Schleiermachers Anliegen nun bejaht. Dass dessen Theologie »anthropozentrisch« sei und mit einem »Vermittlungsprinzip« arbeitete, solle man ihr nicht zum Vorwurf machen.39 Das Problem liege vielmehr in der Ausarbeitung: Die Vermittlung zwischen dem anthropologischen und dem christologischen Brennpunkt sei Schleiermacher nicht gelungen. Barth spricht nun nicht mehr, wie noch 1927, von einer Antithese zwischen theozentrischem und anthropozentrischem Ansatz.40 Hier deutet sich vielmehr ein Modell an, das er später als ›The-anthropologie‹ würdigen wird.41

3 Eine trinitarisch-pneumatologische Akzentveränderung


Barths Verständnis der trinitarischen Subjektivität Gottes erfährt zwischen 1924 und 1932 eine wichtige pneumatologische Akzentveränderung, die einhergeht mit der Ausweitung des Subjekt-Objekt-Schemas zum Schema von Subjekt-Prädikat-Objekt, das zwischen 1927 und 1932 nochmals umformatiert wird.

Zunächst formuliert Barth, der »Inhalt der Offenbarung« sei »Gott allein, Gott ganz, Gott selber«42. Dabei gebe es keine Unterscheidung zwischen dem offenbarenden Subjekt und dem offenbarten Objekt, denn sonst würde die Einheit der Offenbarung infrage gestellt. Aus dem Bemühen, den Inhalt der Offenbarung zu verstehen, habe die »junge Christenheit […] die Formel Vater, Sohn, Geist« gebildet, mit dem zweiten Moment als »Kristallisationspunkt«43. Die Trinitätslehre sei aus dem Bekenntnis zu Jesus dem Kyrios und Christus erwachsen, als Versuch einer Antwort auf die Frage, was oder wer uns in diesem Jesus begegne. Die Antwort lautete: In Jesus begegne uns Gott der Vater als das erste Subjekt der Offenbarung. Der Inhalt der Offenbarung des Vaters sei wiederum ein zweites Subjekt, Gott der Sohn, dem Vater gleich, und der Inhalt der Offenbarung des Vaters und des Sohnes sei schließlich als drittes Subjekt Gott der »ewige Geist des Vaters und des Sohnes«. Das Gewicht der Argumentation liegt hier auf der Subjektivität Gottes, über die hinaus nichts »Objektiveres« denkbar sei.44 Subjekt und Objekt der Offenbarung – Gott als Offenbarer und Gott als der Offenbarte – seien trotz der trinitarisch-begrifflichen Differenzen als identisch zu denken. Gelegentlich kann Barth auch das Subjekt-Prädikat-Schema benutzen, wenn er in der Entfaltung der Lehre von der immanenten Trinität erklärt, dass Gott »sich selbst setzt« und dabei sowohl »Subjekt« als auch »Prädikat« sei,45 ohne dass das Changieren zwischen den Dualen Subjekt-Objekt und Subjekt-Prädikat eigens reflektiert wird.

Insgesamt wird noch nicht deutlich, inwiefern der prädizierende Aspekt der Offenbarung auch im Hinblick auf die ökonomische Trinität, d. h. auf die Wirkung oder die missio des Geistes relevant ist. Obwohl Barth sich um ein lebendiges Verständnis des Geistes als Ausdruck der Zuwendung Gottes zur Welt bemüht, verhindert das Bild vom »Kreis«46, der sich in der Offenbarung des Geistes, deren Inhalt die Gemeinschaft des Vaters und des Sohnes ist, schließe, eine genauere Entfaltung des mitteilenden Wirkens Gottes des Geistes ad extra. Zudem scheint die um­standslose Verwendung des Offenbarungsbegriffs für die Lehre von der immanenten Trinität die Differenz zwischen ökonomischer und immanenter Trinität zu unterlaufen.

In der Christlichen Dogmatik von 1927 verwendet Barth zur Grundlegung der Trinitätslehre das dreigliedrige Schema von Subjekt-Prädikat-Objekt. Er betont weiterhin die Einheit Gottes in seiner Offenbarung, unterscheidet nun aber genauer zwischen Inhalt (gründend in Gott dem Sohn als »Prädikat« des Vaters) und Ereignis (gründend in Gott dem ewigen Geist als »Objekt« des Vaters und des Sohnes) der Offenbarung. Der Ausgangspunkt der Trinitätslehre ist wie zuvor das Bekenntnis zu Jesus dem Kyrios und Christus, das aber nicht mehr in der Formel »Gott allein, Gott ganz, Gott selber« als »Inhalt der Offenbarung« aufgeht, sondern sofort trinitarisch perspektiviert wird: »Gott offenbart sich als der Herr. Er allein ist der Offenbarer. Er ist ganz Offenbarung. Er selber ist der Offenbarte.« 47 Der Geist ist hier als Telos der Offenbarung nicht länger nur Gabe, sondern Mitteilung. Zudem differenziert Barth genauer zwischen der Offenbarung Gottes als Schöpfer, Versöhner und Erlöser (ökonomische Trinität) und deren Begründung in Gottes innerem Leben (immanente Trinität).

In KD I/1 erfolgt dann die entscheidende Änderung. Das dritte Moment ist nicht mehr der oder das Offenbarte, sondern Gottes Offenbarsein. Der grundlegende Leitsatz lautet: »Gott offenbart sich als der Herr und das bedeutet nach der Schrift für den Begriff der Offenbarung, dass Gott selbst in unzerstörter Einheit, aber auch in unzerstörter Verschiedenheit der Offenbarer, die Offenbarung und das Offenbarsein ist.«48 Das dritte Moment wird nun konsequent auf die »Wirkung am Menschen«49 und damit auf die ökonomische Trinität hin angelegt. Somit erfährt die gesamte Trinitätslehre eine stärkere pneumatologische Öffnung.

Außerdem modifiziert Barth das Schema von Subjekt-Prädikat-Objekt und betont damit die christologische Begründung der Trinitätslehre. Zwar hält er daran fest, dass die Reihenfolge Offenbarer–Offenbarung–Offenbarsein der »logisch-sachlichen Ordnung sowohl der biblischen Offenbarung als auch der Trinitätslehre«50 entspreche. Doch zugleich stellt er das Prädikat des Satzes »Was tut Gott?« als das zentrale Thema des biblischen Zeugnisses an den Anfang und entfaltet es mit den Stichworten der Gestalt der Offenbarung und der Selbstenthüllung Gottes, bevor er an zweiter Stelle den formal ersten Aspekt, Gottes Verhüllung, betrachtet. Daraus ergibt sich folgender Satz: Gott offenbart sich (1.) als der Sohn, (2.) als der Vater des Sohnes, (3.) als der Geist des Vaters und des Sohnes. Der dritte Aspekt ist wie zuvor Gottes Mitteilung, die nun als die »besondere Geschichtlichkeit«51 der Offenbarung bezeichnet wird. Das biblische Verständnis von Offenbarung impliziere stets eine »konkrete Beziehung zu konkreten Menschen«52.

Die Hervorhebung der konkreten Beziehung zwischen Gott und Mensch bezeichnet auch das (laut Barth) zentrale Anliegen Schleiermachers. Barths Absicht, dieses Anliegen besser als Schleiermacher zur Geltung zu bringen, trägt hier erste Früchte. Dementsprechend resümiert er am Schluss der Trinitätslehre, dass das »Dabeisein des Menschen bei Gottes Offenbarung, das Deus in nobis, wenn es gehaltvoll ausgesagt sein soll, nur vom göttlichen Subjekt […] her verstanden werden kann. […]. Rechtfertigung und Heiligung sind Taten jenes göttlichen Subjektes, auch und gerade indem dieses sich uns zu eigen gibt.«53 Diese Stoßrichtung stellt im Vergleich zu den Prolegomena von 1924 und 1927 ein neues Element dar und entspricht der Schleiermacher-Vorlesung von 1929/30.

II Systematische Erwägungen


Wir haben es mehrfach gehört: Barth meint, Schleiermachers theologisches Anliegen könne auch in anderer Weise aufgenommen und durchgeführt werden, als Schleiermacher selbst es unternahm. Seit dem Winter 1929/30 bezeichnet Barth diese andere Weise als eine Theologie des Heiligen Geistes, die mit der zweifach subjektiven Wirklichkeit der Offenbarung (Heiliger Geist – Glaube und Gehorsam) deren zweifach objektive Wirklichkeit (Jesus Chris­tus – Geschichte) einschließen und von daher auch die Subjektivität der Glaubenden besser zur Geltung bringen würde. Von einer grundsätzlichen »Verwerfung«54 Schleiermachers kann keine Rede mehr sein.

Allerdings stellt sich die Frage, wie der Ansatz beim Heiligen Geist als subjektive Wirklichkeit der Offenbarung deren objektive Wirklichkeit einschließen und das gesamte Gebiet der Dogmatik bestimmen könnte. Grundsätzlich müsste dazu die Wirklichkeit des Menschen vor Gott in zwei Richtungen, von Gott her zum Menschen und eben vom Menschen her auf Gott hin, entfaltet werden. Es ist nun bemerkenswert, dass Barths Versöhnungslehre (KD IV/ 1–4) tatsächlich beide Richtungen im Blick hat, denn sie integriert die »subjektive Realisierung der Versöhnung«55 durch den Heiligen Geist in die objektive Geschichte Jesu Christi. Offenbar versucht Barth selber damit das »ganze Werk Gottes für die Kreatur, für und in und mit dem Menschen […] in seiner einen, alle Zufälligkeit ausschließenden Teleologie sichtbar«56 werden zu lassen, wobei er vom Grund dieser Teleologie ausgeht, während eine Theologie des Heiligen Geistes eher das Ziel bedenken würde, ohne dass beides sich widersprechen muss.

Ferner könnte genauer untersucht werden, ob und inwiefern Schleiermachers Theologie als »Christo-morph«57 gelten kann. Im­merhin hat sie in der Soteriologie einen teilweise noch engeren christologischen Fokus als Barth. So werden die Gnadenwirkungen und die »Gemeinschaft mit der Vollkommenheit und Seligkeit des Erlösers«58 durch die Selbstvergegenwärtigung Christi vermittelt, ohne dass von der Gegenwart oder Mitteilung des Heiligen Geistes die Rede wäre.

Hier soll das Augenmerk aber auf einen anderen Aspekt gelenkt werden: die Fraglichkeit von Barths Kritik, die sich auch seiner bleibenden Unsicherheit über den geeigneten Ansatz zum Gespräch mit Schleiermacher verdankt und grundlegende Gemeinsamkeiten verdeckt. Diese Einschätzung soll exemplarisch an zwei Aspekten verdeutlicht werden.

1 Barths Kritik an Schleiermachers Bewusstseinsbegriff


Barths Kritik an Schleiermachers Glaubenslehre orientiert sich hauptsächlich an deren Einleitung.59 Dabei kommt es in der Analyse des Bewusstseinsbegriffs zu einer Grundspannung. So erkennt Barth, dass 1. das fromme Bewusstsein für Schleiermacher nur in Verbindung mit einem Wissen und Tun wirklich ist, meint aber auch, dass es 2. »nicht in dieser Verbindung, sondern nur in seiner Reinheit als das völlig passive Insichbleiben des Subjektes Frömmigkeit ist«60, weshalb 3. der Gegensatz von Sünde und Gnade nur das gegenständliche Bewusstsein bestimme, während das Gottesverhältnis als »qualitätsloses, nur durch sich selbst bestimmtes, sich selbst gleiches ruhendes Sein«61 an ihm nicht teilhabe. Doch nur die erste Aussage entspricht der Überzeugung Schleiermachers, dass das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit bzw. das Gottesbewusstsein62 niemals in abstrakter Form auftritt, sondern inhärent verbunden ist mit dem sinnlich-gegenständlichen Selbstbewusstsein und damit teilhat am Gegensatz des Angenehmen und Unangenehmen bzw. von Lust und Unlust.63 Barths zweite und dritte Aussage dagegen widersprechen dem Abschnitt der Glaubenslehre, auf den er sich hier bezieht (§ 5).

Während die Gegensätze im sinnlich-gegenständlichen Be­wusstsein für Schleiermacher fließend und relativ bleiben, tritt das fromme Selbstbewusstsein in einen Konflikt mit der ausschließlichen Bindung an das sinnlich-gegenständliche Bewusstsein und zielt darauf, dass sich die »höhere Richtung«64 gegen diesen Gegensatz entfalten kann. Christliche Frömmigkeit ist also kein »passives In-sichbleiben«, sondern sie widerspricht dem Gegensatz von Sünde und Gnade, zielt auf dessen Auflösung und begnügt sich, anders als Barth meint, nicht mit einem »äußeren Oszillieren«65. Das fromme Bewusstsein nimmt an den »Ungleichheiten des zeitlichen Lebens« teil, doch dabei geht es nicht bloß um eine »fließende Differenz«66, sondern um den tatsächlichen Gegensatz von Sünde und Gnade, der, anders als Barth meint, nicht von einem höheren »Indifferenzpunkt«67 her aufgelöst, sondern nur durch die Gnade, welche die Sünde aufhebt, überwunden werden kann. Dabei ist die Sünde als Abwendung von Gott die »ursprüngliche That«68 des Menschen, während die Gnade als Gemeinschaft mit Gott auf einer Mitteilung des Erlösers als einer »fremden That«69 beruht. Die gesamte Argumentation ist anti-pelagianisch orientiert und be­tont, dass die Differenz zwischen Sünde und Gnade und der Begriff der Erlösung aufgelöst würden, wenn man »die Einheit des sinnlichen und des höheren Selbstbewußtseins« und damit den Glauben an Christus als »natürlichen Gemütszustand«70 des Menschen postulierte.

Schleiermachers Soteriologie bleibt daher zurückhaltend ge­genüber dem Begriff der menschlichen Mitwirkung (cooperatio) und meint, das faktische Wirken des Menschen zugunsten der Gnade werde »durch die vorbereitende Gnade« gesetzt.71 Der freie Wille trage wohl dazu bei, dass ein Mensch das Wort Gottes hört und bewusst aufnimmt, doch damit dieses Wort wirksam werde und seinen Zweck erreicht, könne man »keine natürliche Mitwirkung des Menschen zugeben«72. Zugleich betont Schleiermacher, dass der Mensch im »Bekehrungsgeschäft« nicht den »leblosen Dingen« gleiche und differenziert zwischen bloßer Passivität und »lebendiger Empfänglichkeit«, die durch die vorbereitende Gnade ermöglicht, aber erst durch die »zur Bekehrung wirksame Gnade« in »belebte Selbstthätigkeit verwandelt« werde.73 Damit unterstreicht er, dass die Bekehrungsgnade dem Werk des Erlösers entspringt.74 In seiner Pneumatologie bezeichnet er die Mitteilung des Heiligen Geistes in der Bekehrung bzw. Wiedergeburt sogar als ein »Wunder«, insofern sie sich ereigne als »ein plözliches Ueberspringen aus der fragmentarisch erregten Empfänglichkeit in die zusammenhängende gemeinsame Selbstthätigkeit«75.

Auch Barth denkt die Gemeinschaft mit Gott anti-pelagianisch als unverfügbare Tat Gottes. Dennoch wirft er Schleiermacher vor, dass dieser den Gegensatz »nie und nirgends« als prinzipiellen und unverträglichen Gegensatz bestimme: »Niemand stirbt an der Sünde, und niemand wird gerettet durch die Gnade«76. Einige Jahre später heißt es: »Ein gegensatzloses, absolutes Verhältnis zu Gott im negativen oder positiven Sinn hält Schleiermacher für keine Möglichkeit, mit der im Ernst zu rechnen wäre.«77 Barth bestimmt das Verhältnis von Sünde und Gnade also als absoluten Gegensatz, betont aber auch das Verhältnis von Gott und Mensch als gegensatzloses und absolutes Verhältnis. An dieser Stelle bleiben begriffliche Unschärfen. Barth verkennt offensichtlich die bei Schleiermacher vorhandenen Elemente dialektischen Denkens im Hinblick auf das Gegenüber von Gott und Mensch. Das bringt uns zum zweiten Punkt.

2 Der Offenbarungsbegriff bei Barth und Schleiermacher


Für Schleiermacher besteht das Wesen des Christentums darin, dass alles in ihm »bezogen wird auf die durch Jesum von Nazareth vollbrachte Erlösung«78. Diese Definition wird von Barth mehrfach erwähnt. Allerdings übergeht er die ergänzende Äußerung, dass der christliche Glaube durch die »Selbstverkündigung Christi«, dem »Subject der göttlichen Offenbarung«, entsteht; Schleiermacher spricht hier von einem »eigentlichsten Anfang«79. Es geht ihm nicht um den Glauben als historisch-psychologische Größe, sondern um das Wesen des Christentums, wie es in der real existie-renden Frömmigkeit (und Dogmatik) sprachlich zum Ausdruck kommt.80 Zudem erklärt Schleiermacher, in der geschichtlichen Erscheinung des Erlösers als »göttliche Offenbarung«81 werde das Übernatürliche natürlich,82 ohne dass damit die göttliche Ursächlichkeit vom Naturzusammenhang absorbiert würde. Zudem be­tont er gegen spekulative Ansätze, dass der christliche Erlösungsbegriff ein relativ übervernünftiges Element enthalte, denn die frommen Gemütszustände der Erlösung gehen auf die Einwirkung Christi zurück.83 Der zweite Teil der Glaubenslehre nimmt dies auf und erklärt, die göttlichen Gnadenwirkungen seien übernatürlich, sofern sie »wirklich ausgehn« von dem Sein Gottes in der Person Christi; zugleich seien sie geschichtsbildend und daher natürlich, insofern ihr Werk »an den geschichtlichen Zusammenhang aller Wirkungen Christi anknüpft«84.

Schleiermachers Begriff der Offenbarung enthält also ein ›übernatürliches‹ und ›übervernünftiges‹ Element, und hier zeigt sich die vielleicht überraschendste Gemeinsamkeit mit Barth. Weder ist Gottes Offenbarung eine frei verfügbare Größe des frommen Menschen, noch ist der Glaube ein passives In-Sich-Bleiben des auf Gottes Selbstoffenbarung antwortenden Menschen. Vielmehr sind sowohl das objektive als auch das subjektive Moment unverzichtbar. Denn die Erschaffung des christlichen Glaubens (und der Ge­meinschaft der Glaubenden) ereignet sich »durch das Christusgeschehen, d. h. durch Gottes eigene schöpferische Offenbarungstat, die als solche dann die antwortende Tat des Menschen ermöglicht und verlangt« 85.

Die Bedeutung beider Momente für Schleiermacher bleibt in Barths Kritik zunächst unterbestimmt, doch seit 1929/30 kommt es mit dem Begriff der Theologie des Heiligen Geistes zu einer Neuorientierung. Barth nimmt nun ein positives Anliegen bei Schleiermacher wahr, kommt aber aufgrund seiner »Fehlrezeption«86 zu keinem befriedigenden Ergebnis. Die Theologie des Heiligen Geis­tes erscheint ihm wie ein Fremdkörper in Schleiermachers Denken. Doch das Thema hält ihn fest, und in seinem letzten Kolloquium im Sommer 1968 thematisiert er nochmals Schleiermachers Reden über die Religion mit den Zentralbegriffen Anschauung und Gefühl sowie der Frage nach der subjektiven und objektiven Wirklichkeit der Offenbarung. Die Anschauung sei für Schleiermacher »begründet in der Aktivität des Universums«, das sich dem Menschen offenbart. Das Gefühl sei die mit der Anschauung konfrontierte »Selbsttätigkeit des Menschen«, so dass »ein Dialog zwischen außen und innen« stattfinden könne. Barth erklärt: »Heute sagt man, man müsse das Subjekt-Objekt-Schema überwinden. Das hat Schleiermacher längst gewusst. Aber er geht behutsamer zu Werke. Er geht aus vom Objekt und kommt dann zum Subjekt«87, also zum Menschen. In der Glaubenslehre spricht Schleiermacher dann nicht mehr von Anschauung, sondern nur noch vom Gefühl, doch das sei nicht vorschnell als »Subjektivismus oder Gefühlsreli-gion«88 zu verurteilen. Vielmehr solle man an die frühere Terminologie denken. Die schlechthinnige Abhängigkeit der Glaubenslehre umschreibe das, was in den Reden Anschauung genannt wird.

Bemerkenswerterweise antizipieren Barths Erwägungen eine De­batte, die in der Schleiermacher-Forschung erst einige Jahrzehn­te später angestoßen wird. Dabei stehen sich eine offenbarungstheoretische und eine deutungstheoretische Interpretation ge-genüber. In der ersten Version bringt das Universum sich im Menschen selber zur Anschauung, in der zweiten Version ist die deutende Tätigkeit des Subjekts konstitutiv für die Entstehung religiöser Anschauungen.89 Barth steht der ersten Variante nahe, aber er sieht zugleich deren problematische Tendenz zur Ausblendung des tätigen Subjekts. Er betont, dass der Mensch für Schleiermacher in der Anschauung des Universums nicht einfach »aufgeht«, sondern seinerseits aktiv wird. Dabei geht es nicht um be­sondere Handlungen: »Religion ist eine Antwort des Menschen, die als solche noch gar nichts zu tun hat mit speziellen Akten. Die Religion begleitet all das Tun des Menschen.«90 Ähnlich betont eine aktuelle Interpretation der Reden, dass »der Ursprung der religiösen Anschauung sich allein dem Offenbarungshandeln des Universums verdankt und sich zugleich jede dieser passiv empfangenen reli-giösen Anschauungen dem aktiv-deutenden Zugriff des Subjekts gegenüber als offen erweist.«91

Barths Verhältnis zu Schleiermacher kristallisiert sich schließlich in fünf Fragesätzen.92 Dabei geht es um vier Alternativen: Theologie oder Philosophie, Gegenständlichkeit oder Einheit, An­satz beim Besonderen oder beim Allgemeinen, Heiliger Geist oder säkularer Geist. Der fünfte Satz spitzt noch einmal zu: Sind die vier Alternativen Schleiermachers Denken angemessen? Die fünf Fragesätze sind auch in Barths »Nachwort«, das während des Kolloquiums entstand, enthalten. Dort betont Barth allerdings: »Meines Weges und meiner Sache bin ich gewiss.« 93 Eine letzte Unsicherheit bestehe in der Frage, ob er Schleiermacher richtig verstanden habe.

Barths Grundverdacht, Schleiermacher treibe nur scheinbar Theologie, hängt mit dem dritten der erwähnten fünf Fragesätze zusammen. Barth versteht das »Besondere«, d. h. die Christologie Schleiermachers, im Licht des »Allgemeinen«, d. h. der Einleitung zur Glaubenslehre und ihren Überlegungen zum frommen Be­wusstsein. Doch Barth übersieht, dass für Schleiermacher auch das fromme Bewusstsein nur als »Besonderes«, also in Verbindung mit dem sinnlich-gegenständlichen Bewusstsein existiert und durchweg eine geschichtlich geprägte Form hat. In der spezifisch christlichen Frömmigkeit bestehe »immer eine Beziehung auf Chris-tum«, so dass es eine »bloß monotheistische Frömmigkeit, in welcher das Gottesbewußtsein an und für sich schon der Inhalt der frommen Lebensmomente wäre, gar nicht giebt« 94. Barths Ja zu seinem eigenen Weg impliziert daher nicht notwendigerweise ein Nein gegenüber dem Weg Schleiermachers, und dessen Theologie ist keine ihrer Zeit bloß angepasste »christlich indifferente Philosophie«95. Schleiermacher bejaht zwar die Gleichursprünglichkeit von Frömmigkeit und Vernunft,96 unterscheidet aber deutlich zwischen Theologie und Philosophie.97

III Vier Thesen


1. Insgesamt gibt es in Barths Kritik an Schleiermacher nicht nur eine »Fehlrezeption«98, sondern zwei Interpretationsstränge: einen Strang, der tatsächlich wichtige Differenzierungen in Schleiermachers Theologie verfehlt, weil er ihr ein naturalisiertes Verständnis des Gefühls der schlechthinnigen Abhängigkeit und damit des Glaubens unterstellt; aber eben auch einen Strang, der Schleiermachers Theologie sachgemäß zur Geltung bringen und ihr Anliegen mit dem Konzept einer Theologie des Heiligen Geistes aufnehmen möchte. Dieses Konzept lässt sich als Versuch der Vermeidung einseitiger Schleiermacher-Interpretationen, die entweder das subjektive oder das objektive Moment vernachlässigen – wie es auch in Barths früheren Schriften zuweilen geschieht –, verstehen. Entlang seines zweiten Interpretationsstrangs betont Barth, dass der Mensch im Rahmen der Selbsterschließung oder Selbstoffenbarung Gottes nicht nur passiv bleibt, sondern immer auch zu einer deutenden Antwort veranlasst wird.

2. Barths Antwort auf seine Frage, ob Gottes Offenbarung für Schleiermacher mehr als nur eine Bestimmung des frommen Selbstbewusstseins sei, ist weniger eindeutig, als es zunächst scheint. Die Tatsache, dass er diese Frage immer wieder aufs Neue stellt, kann als Anfrage an seinen eigenen Einwand, der Mensch bleibe bei Schleiermacher das alleinige Subjekt der Theologie und Christus sei nur ein Prädikat des Glaubenden, gelesen werden. Diese Anfrage geht aber keineswegs mit einer späten Neuausrichtung von Barths Theologie einher. Vielmehr begleitet sie ihn seit 1929/30 und wird zu verschiedenen Zeiten mit unterschiedlicher Lautstärke und Deutlichkeit geäußert. Dabei gibt es gute Gründe für die Annahme, dass Barth sich seiner Kritik an Schleiermacher nicht so sicher war, wie oft behauptet wurde (und wird), und dass er ahnte, dass Schleiermacher auch in der Christologie mehr zu sagen hatte, als er zu hören bereit war.

3. Mit der Idee einer »Theologie des Heiligen Geistes« will Barth das »christiano-zentrische« Anliegen Schleiermachers durch eine »pneumatozentrische« Orientierung sachgemäßer zur Geltung bringen.99 Wie verhält sich diese Absicht zu der christologischen Konzentration, die oft mit Barths Denken verbunden wird?100 Barth weiß, dass auch die von ihm kritisierte Theologie des 19. Jh.s auf ihre Weise »christozentrisch« geprägt war. Seine eigene christologische Konzentration ist daher nicht zu verwechseln mit einer »christiano-zentrischen« Theologie, in der das Erleben Jesu Christi oder die persönliche Beziehung zu Jesus den Ausgangspunkt bildet.101 Zudem betont er, dass »rechtschaffene« Theologie nicht nur ein Zentrum, z. B. nur das Handeln Gottes oder nur das Handeln des Menschen, kenne.102 Bereits zu Beginn der Kirchlichen Dogmatik hat er eine Theologie vor Augen, in der Christozentrik und Pneumatozentrik sich ergänzen und die Christologie auch dem Dritten Artikel die gebührende Aufmerksamkeit schenkt.

4. Der Offenbarungsbegriff von Barth und Schleiermacher ist »kritisch und dialektisch«103, er setzt die grundsätzliche Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf, Offenbarung und Erfahrung sowie Gott und Religion voraus. Beide Theologen betonen, dass Gott und Gottes Gegenwart als unverfügbar, der direkten Beobachtung entzogen und an das Ereignis der kontingenten Selbstvergegenwärtigung Gottes gebunden zu denken seien.104

Abstract


The article traces the development of Karl Barth’s reception of Friedrich Schleiermacher. It focuses on the pneumatology of Barth’s prolegomena and on the Schleiermacher essay in Barth’s book on Protestant Theology in the 19th Century. This essay, originally written in 1929/30, offers the first evidence of Barth’s idea of a »Theology of the Third Article«, which he brings into play as conceptual frame for a fair assessment of Schleiermacher. Thus, Barth abandons his early one-sided negative assessment of Schleiermacher before he begins to work on the Church Dogmatics. Our article then discusses Barth’s partial misunderstanding of central concepts of Schleiermacher’s thought. It argues that it is simplistic and misleading to say Barth favours a theology »from above« as opposed to Schleiermacher’s theology »from below«. The conclusion offers four theses as basis for further discussion.

Fussnoten:

1) K. Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, Zürich (1946) 31960, 380 f. Die dort veröffentlichten Vorlesungen von 1932/33 und 1933 basieren auf einer Vorlesung von 1929/30, von der ein Durchschlag des Typoskripts im Karl Barth-Archiv Basel erhalten ist. Die jeweiligen Kapitel über Schleiermacher sind bis auf wenige minimale Abweichungen identisch.
2) E. Busch, Meine Zeit mit Karl Barth. Tagebuch 1965–1968, Göttingen 2011, 556 (Eintrag vom 4.5.1968).
3) K. Barth, Nachwort, in: Schleiermacher-Auswahl, GTB 419, hrsg. v. H. Bolli, Gütersloh 31983 (1. Aufl. München/Hamburg 1968), 290–312, 298. Vgl. zu Barths Schleiermacher-Rezeption insgesamt S. H. Oh, Karl Barth und Friedrich Schleiermacher 1909–1930, Neukirchen-Vluyn 2005.
4) K. Barth, Die Theologie Schleiermachers: Vorlesung Göttingen Wintersemester 1923/24, hrsg. v. D. Ritschl, Zürich 1978, 9.
5) K. Barth, Rundbrief 20.12.1923, in: Karl Barth – Eduard Thurneysen: Briefwechsel, Bd. 2: 1921–1930, hrsg. u. bearb. v. E. Thurneysen, Zürich 1974, 205–211, 207. Das »Volk der Neuern« wird für Barth repräsentiert durch G. Wobbermin, R. Otto, E. Schaeder und C. Stange. Vgl. Barth, Die protestantische Theologie (s. Anm. 1), 598.
6) Barth, Die Theologie Schleiermachers (s. Anm. 4), 461.
7) A. a. O., 462 f.
8) Barth, Die protestantische Theologie (s. Anm. 1), 117.
9) K. Barth, Die Kirchliche Dogmatik [KD] I/2, Zollikon-Zürich 1938, 313.
10) Barth, Die protestantische Theologie (s. Anm. 1), 8.
11) Zitiert nach Karl Barth – Eduard Thurneysen: Briefwechsel, Bd. 3: 1930–1935, hrsg. v. C. Algner, Zürich 2000, 142 f., Anm. 9. Barths Seminar im Sommersemester 1931 befasste sich mit der Einleitung zu Schleiermachers Glaubenslehre, die Sozietät besprach Schleiermachers Kurze Darstellung des theologischen Studiums. Bei der biographischen Einführung bezog Barth sich hauptsächlich auf W. Diltheys klassisches Werk Leben Schleiermachers, Bd. I (2. Aufl., hrsg. v. H. Mulert, Berlin/Leipzig 1922).
12) KD I/2, 135, vgl. 385. In diesem Sinne ist auch Barths idealtypische Deutung der Bekennenden Kirche zu verstehen: »Man widersprach den Deutschen Christen, indem man der ganzen Entwicklung widersprach, an deren vorläufigem Ende die Deutschen Christen standen.« Der Widerspruch richtete sich nicht nur gegen Schleiermacher, sondern gegen »die Grundtendenzen des ganzen 18. und 19. Jahrhunderts und damit gegen geheiligte Überlieferungen auch aller anderen Kirchen« (K. Barth, KD II/1, Zollikon-Zürich 1940, 197).
13) Barth, Die protestantische Theologie (s. Anm. 1), 424.
14) Barth, Nachwort (s. Anm. 3). In den folgenden Abschnitten I.1, I.2 und II.1 werden Überlegungen aufgenommen aus: M. Gockel, Eine »große Verwechslung«? Anfragen zu Barths Kritik an Schleiermacher, in: M. Beintker u. a. (Hrsg.), Karl Barth als Lehrer der Versöhnung (1950–1968). Vertiefung – Öffnung – Hoffnung, Zürich 2016, 239–262.
15) Barth, Nachwort (s. Anm. 3), 310.
16) A. a. O., 311.
17) J. Dantine, Zu Karl Barths Traum von einer Theologie des Heiligen Geis­tes, in: ThLZ 111 [6/1986], 402–408, 403.
18) Vgl. K. Barth, ›Unterricht in der christlichen Religion‹, Bd. I: Prolegomena 1924, hrsg. v. H. Reiffen, Zürich 1985; K. Barth, Die christliche Dogmatik im Entwurf (1927), hrsg. v. G. Sauter, Zürich 1982. Beide Versionen stimmen oft bis in den Wortlaut überein.
19) Barth, Die christliche Dogmatik (s. Anm. 18), 380 f.
20) A. a. O., 418.
21) A. a. O., 402.
22) A. a. O., 405.
23) A. a. O., 409 f.
24) A. a. O., 411 f.
25) Die Dogmatik-Vorlesungen, aus denen KD I/2 (§§ 13–24) hervorging, erstreckten sich aufgrund der juristischen Auseinandersetzung um Barths Absetzung von seinem Lehrstuhl in Bonn über drei Jahre. Als Barth im November 1934 entlassen wurde, trug er gerade den ersten Paragraphen zur Pneumatologie (§ 16) vor. Die Fortsetzung seiner Lehrtätigkeit – und damit der Vortrag der beiden anderen Paragraphen zur Pneumatologie (§§ 17–18) – erfolgten erst ein Jahr später in Basel, im Winter 1935/36.
26) Barth, Die protestantische Theologie (s. Anm. 1), 409.
27) A. a. O., 409 f.
28) A. a. O., 411 f.
29) A. a. O., 412.
30) A. a. O., 416 f.
31) Barth, ›Unterricht‹ (s. Anm. 18), Bd. I, 233.
32) »Es wäre trostlos, wenn alles im Objektiven bliebe. Es gibt auch ein Subjektives und man kann die moderne Überwucherung dieses Subjektiven, die schon in der Mitte des 17. Jahrhunderts eingesetzt hat und von Schleiermacher in systematische Ordnung gebracht wurde, als […] Versuch verstehen, die Wahrheit des dritten Artikels in Geltung zu bringen.« K. Barth, Dogmatik im Grundriss‚ Zürich (1947) 81998, 161.
33) Barth, Die protestantische Theologie (s. Anm. 1), 419.
34) A. a. O., 423 f.
35) Barth, ›Unterricht‹ (s. Anm. 18), Bd. I, 231, und Barth, Die christliche Dogmatik (s. Anm. 18), 409.
36) Barth, Die protestantische Theologie (s. Anm. 1), 410.
37) Barths Mahnung gilt also gleichermaßen einer exklusiven Theologie des dritten und des zweiten Artikels.
38) Barth, Die protestantische Theologie (s. Anm. 1), 422.
39) A. a. O., 414 f.
40) So auch Oh, Barth und Schleiermacher (s. Anm. 3), 255.
41) Vgl. K. Barth, Einführung in die evangelische Theologie, Zürich 1962, 18. In KD IV/3.2 (Zollikon-Zürich 1959), 572, betont Barth, dass Schleiermachers Ansatz weniger anthropozentrisch als vielmehr ›christiano-zentrisch‹ sei: es gehe um den menschlichen Glauben und die subjektive Geltung des subjektiven Pols, unter Absehung von dessen objektivem Grund.
42) Barth, ›Unterricht‹ (s. Anm. 18), Bd. I, 105.
43) A. a. O., 120 f.
44) A. a. O., 108.
45) A. a. O., 147.
46) A. a. O., 121.
47) Barth, Die christliche Dogmatik (s. Anm. 18), 165, Leitsatz zu § 9.
48) K. Barth, KD I/1, München 1932, 311. Schon 1929 betonte Barth, dass Offenbarung nicht »Offenbartheit« bedeute. K. Barth, Schicksal und Idee in der Theologie, in: Ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1925–1930, hrsg. v. H. Schmidt, Zürich 1994, 344–392, 366.
49) KD I/1, 315.
50) A. a. O., 331 f.
51) A. a. O., 345.
52) A. a. O., 343.
53) A. a. O., 513. Barths Kritik an Schleiermachers Sündenlehre nennt ebenfalls das Stichwort der »Theologie des Heiligen Geistes« (K. Barth, KD III/3, Zollikon-Zürich 1950, 370 f.). Dabei spricht er aber nicht von einer pneumatologischen, sondern einer christologischen Absicht Schleiermachers, wenn dieser die Sündenlehre von Jesus Christus als geschichtlichem Bezugspunkt des christlich frommen Bewusstseins her entfalten wollte. Auch hier bleibe der Ansatz beim frommen Bewusstsein mit der Betonung der objektiven Wirklichkeit der Gnade vereinbar – wenn er denn nicht, wie bei Schleiermacher, historisch-psychologisch, sondern von Gottes Wort her entfaltet würde. Gerade im Hinblick auf den Bereich des subjektiven Erlebens und des Glaubens »hätte dann von der Sünde mit ganz anderer Erschütterung und von der Gnade mit ganz anderer Freudigkeit geredet werden dürfen« (K. Barth, KD III/3, Zollikon-Zürich 1950, 383). Vgl. Gockel, Eine »große Verwechslung«? (s. Anm. 14), 251–257.
54) J. Rohls, Karl Barth und die liberale Theologie, in: M. Beintker u. a. (Hrsg.), Karl Barth in Deutschland (1921–1935). Aufbruch – Klärung – Widerstand, Zürich 2005, 285–312, 308.
55) K. Barth, KD IV/1, Zollikon-Zürich 1953, 719.
56) Barth, Nachwort (s. Anm. 3), 311.
57) R. R. Niebuhr, Schleiermacher on Christ and Religion: A New Introduction, New York 1964, passim. Vgl. die kritischen Rückfragen von R. Sherman, The Shift to Modernity. Christ and the Doctrine of Creation in the Theologies of Schleiermacher and Barth, New York/London 2005, 223–227.
58) F. Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1830/31), hrsg. von R. Schäfer, KGA I/13, Berlin/New York 2003, Bd. 2, 164, Überschrift zu §§ 106–112.
59) Barths frühe Einschätzung bleibt für ihn maßgeblich: die Einleitung biete »den eigentlichen Inhalt dieser Dogmatik, zu dem sich Alles, was nachher kommt, nur noch als Analyse […] verhält«. Barth, Die Theologie Schleiermachers (s. Anm. 4), 375.
60) Barth, Die christliche Dogmatik (s. Anm. 18), 409. Vgl. Barth, Die protes­tantische Theologie (s. Anm. 1), 389, und seine Würdigung der Idee des Christentums als Typus teleologischer Frömmigkeit in § 9 der Glaubenslehre, die Barth aufgrund seiner einseitigen Lesart der §§ 3–6 aber nur als Widerspruch zu Schleiermachers vermeintlicher Mystik des passiven In-Sich-Bleibens auffassen kann.
61) Barth, Die christliche Dogmatik (s. Anm. 18), 410 (s. o. Anm. 23).
62) Schleiermacher nennt das »Gefühl« auch »unmittelbares Selbstbewusstsein«. Das führt zur Frage, ob das »Woher« der schlechthinnigen Abhängigkeit, d. h. Gott, immer schon ein (zumindest impliziter) Inhalt dieses Bewusstseins ist. Vermutlich umfasst der Begriff »Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit« sowohl die prä-reflexive Intuition absoluter Rezeptivität als auch das reflexive Bewusstsein der Abhängigkeit von Gott. Vgl. M. Gockel, Barth and Schleiermacher on the Doctrine of Election: A Systematic-Theological Comparison, Oxford 2007, 39–44. Die Begriffe »Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit« und »Gottesbewusstsein« werden in vielen Interpretationen synonym verwendet, sie sind aber nicht identisch. Im Übrigen sind Schleiermachers Gefühlsbegriff und seine Bedeutung für die kognitiven und sozialen Dimensionen von Religion bzw. Frömmigkeit zwischen englischsprachigen und deutschsprachigen Interpreten hoch umstritten. Vgl. B. W. Sockness/W. Gräb, Schleiermacher, the Study of Religion and the Future of Theology. A Transatlantic Dialogue, TBT 148, Berlin/New York 2010, XII (Vorwort).
63) Schleiermacher, Der christliche Glaube (s. Anm. 58), Bd. 1, 40 f., § 5 (Leitsatz), und 391, § 62 (Leitsatz).
64) A. a. O., 47, § 5.3.
65) Barth, Die christliche Dogmatik (s. Anm. 18), 412.
66) Schleiermacher, Der christliche Glaube (s. Anm. 58), Bd. 1, 392, § 62.1.
67) Barth, Die protestantische Theologie (s. Anm. 1), 417 (s. o. Anm. 30). Daher sind unter geschichtlichen Bedingungen sowohl die »absolute Seligkeit« als auch die »absolute Nullität« des Gottesbewusstseins ausgeschlossen. Schleiermacher, Der christliche Glaube (s. Anm. 58), Bd. 1, 392, § 62.1.
68) A. a. O., 394 f., § 63, Leitsatz.
69) A. a. O., 396, § 63.2.
70) A. a. O., 397, § 63.2.
71) Schleiermacher, Der christliche Glaube (s. Anm. 58), Bd. 2, 188, § 108.6.
72) Ebd. Die Mitteilung des stetig kräftigen Gottesbewusstseins Christi geschieht also nicht »durch die bloße Kraft des Gemeingeistes«, sondern sie ist eine Selbstmitteilung Gottes und darin eine »That mit Motiv, oder Handlung, Liebesthat«. Andernfalls hätte die Menschheit »sich selbst erlöst«. I. A. Dorner, Über die richtige Fassung des dogmatischen Begriffs der Unveränderlichkeit Gottes, in: Ders., Gesammelte Schriften aus dem Gebiet der systematischen Theologie, Exegese und Geschichte, Berlin 1883, 188–377, 297 f.
73) Schleiermacher, Der christliche Glaube (s. Anm. 58), Bd. 2, 190, § 108.6. Dazu aus katholischer, post-thomistischer Perspektive: J. A. Lamm, Schleiermacher’s Treatise on Grace, in: Harvard Theological Review 101 (2/2008), 133–168, 161 f. Zum Begriff der »lebendigen Empfänglichkeit« vgl. jetzt S. Schmidtke, Schleiermachers Lehre von Wiedergeburt und Heiligung. ›Lebendige Empfänglichkeit‹ als soteriologische Schlüsselfigur der Glaubenslehre, DoMo 11, Tübingen 2015.
74) Der soteriologische Bezug auf den Erlöser und das damit verbundene anti-pelagianische Interesse Schleiermachers bleiben in der Analyse von Lamm (s. Anm. 73) unterbelichtet.
75) Schleiermacher, Der christliche Glaube (s. Anm. 58), Bd. 2, 298, § 124.3.
76) Barth, Die christliche Dogmatik (s. Anm. 18), 412.
77) Barth, Die protestantische Theologie (s. Anm. 1), 423.
78) Schleiermacher, Der christliche Glaube (s. Anm. 58), Bd. 1, 93 (§ 11, Leitsatz).
79) A. a. O., 131, § 16.2.
80) Christi Selbstverkündigung ist der Ursprung der dogmatischen Sätze, d. h. der Glaubenssätze »von der darstellend belehrenden Art, bei welchen der höchst mögliche Grad der Bestimmtheit bezwekkt wird« (a. a. O., 130, § 16, Leitsatz). Zu beachten ist die Erläuterung, dass Christi eigene Aussagen von der darstellend belehrenden Art keine dogmatischen Sätze sind, »sondern nur gleichsam den Text dazu [her]geben« (a. a. O., 132, § 16.2). Damit betont Schleiermacher die bleibende Verschiedenheit zwischen Erlöser und Erlösten.
81) A. a. O., 106 (§ 13, Leitsatz).
82) A. a. O., 106–110 (§ 13.1).
83) A. a. O., 110–112 (§ 13.2). Die Übervernünftigkeit ist relativ, da die menschliche Seite integraler Teil des Erlösungsprozesses ist: fromme Gemütszustände könnten nicht »an einer vernunftlosen Seele« (ebd.) sein.
84) Schleiermacher, Der christliche Glaube (s. Anm. 58), Bd. 2, 187, § 108.5.
85) E. Herms, Karl Barths Entdeckung der Ekklesiologie als Rahmentheorie der Dogmatik und seine Kritik am neuzeitlichen Protestantismus, in: Beintker u. a., Karl Barth in Deutschland (s. Anm. 54), 141–186, 185. Für Barth ist also das Bestimmtwerden des unmittelbaren Selbstbewusstseins »die vom Wort Gottes bestimmte Selbstbestimmung« (KD I/1, 241). Vgl. D. Korsch, Wort Gottes oder Frömmigkeit? Über den Sinn einer theologischen Alternative zwischen Karl Barth und Friedrich Schleiermacher, in: Ders., Dialektische Theologie nach Karl Barth, Tübingen 1996, 109–129.
86) Herms, Karl Barths Entdeckung der Ekklesiologie (s. Anm. 85), 184, im Anschluss an Bruce McCormack. Demnach übersehe Barth das kritische Element in Schleiermachers Theologie, weil er diese wie sein Lehrer W. Herrmann als Erlebnis-Theologie missverstehe. Barth nennt drei zentrale Einwände Herrmanns gegen Schleiermachers Glaubenslehre, die genau seinen eigenen Vorbehalten entsprechen: 1. die Gegebenheit des Gefühls der schlechthinnigen Abhängigkeit (das psychologistisch-historistische Missverständnis), 2. die Gegenstandslosigkeit und das reine In-sich-selbst-Sein dieses Gefühls (das mystisch-subjektivistische Missverständnis), 3. das Missverständnis der schlechthinnigen Abhängigkeit von der Welt. Vgl. K. Barth, Die dogmatische Prinzipienlehre bei Wilhelm Herrmann (1925), in: Ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1922–1925, hrsg. v. H. Stoevesandt, Zürich 1990, 545–603, 563 f.
87) Busch, Meine Zeit mit Barth (s. Anm. 2), 575 (Eintrag vom 25.5.1968). 1927 klang es ganz anders: Es geht »das Universum, die Offenbarung, die Wahrheit, Gott oder wie man es nennen will, bei Schleiermacher wie eine ungeheure Walze über alles und jedes«. Barth, Die christliche Dogmatik (s. Anm. 18), 411.
88) Busch, Meine Zeit mit Barth (s. Anm. 2), 586 (Eintrag vom 8.6.1968).
89) Vgl. C. König, Unendlich gebildet. Schleiermachers kritischer Religionsbegriff und seine inklusivistische Religionstheologie anhand der Erstauflage der Reden, CM 16, Tübingen 2016, 265–270.
90) Busch, Meine Zeit mit Barth (s. Anm. 2), 575 (Eintrag vom 25.5.1968).
91) König, Unendlich gebildet (s. Anm. 89), 268. Allerdings bleibt zu beachten, dass der Begriff der Anschauung in der Glaubenslehre seine Zentralstellung verliert.
92) Busch, Meine Zeit mit Barth (s. Anm. 2), 557 f. (Eintrag vom 4.5.1968).
93) Barth, Nachwort (s. Anm. 3), 307.
94) Schleiermacher, Der christliche Glaube (s. Anm. 58), Bd. 1, 205, § 32.3.
95) Barth, Nachwort (s. Anm. 3), 307.
96) Vgl. C. Albrecht, Schleiermachers Theorie der Frömmigkeit. Ihr wissenschaftlicher Ort und ihr systematischer Gehalt in den Reden, in der Glaubenslehre und in der Dialektik, SchlA 15, Berlin/New York 1994, 306–318.
97) Vgl. Ingolf U. Dalferth, Theology and Philosophy, Oxford/New York 1988, 99–111.
98) S. o. Anm. 86. Alternativ sei auf die Schleiermacher-Rezeption von Isaak A. Dorner hingewiesen. Hier wird Schleiermacher nicht bloß als Bewusstseinstheologe, sondern in Anknüpfung an seinen Begriff der Selbstmitteilung Gottes als Theologe, der das reformatorische sola gratia neu zu Ehren bringen wollte, verstanden. Dorner, Unveränderlichkeit Gottes (s. Anm. 72), 296–299.
99) S. o. Anm. 41. Vgl. Ph. J. Rosato, The Spirit as Lord. The Pneumatology of Karl Barth, Edinburgh 1981, 43.
100) Im Anschluss an Barths autobiographischen Bericht »How My Mind Has Changed« (Teil 1) von 1939 (Englisch) bzw. 1949 (Deutsch). K. Barth, »Der Götze wackelt«. Zeitkritische Aufsätze, Rede und Briefe von 1930 bis 1960, hrsg. v. K. Kupisch, Berlin (West) 1961, 186.
101) Bereits in seiner ersten Dogmatik-Vorlesung 1924 mahnt Barth, die Dogmatik müsste wieder »etwas weniger christozentrisch und dafür etwas sachlicher« werden, indem sie den Fokus auf die objektive Bedeutung der geschichtlichen Erscheinung Jesu von Nazareth für Gott und damit auf den Gottesbegriff legt. K. Barth, ›Unterricht in der christlichen Religion‹. Bd. I: Prolegomena, hrsg. v. H. Reiffen, Zürich 1985, 110.
102) Barth, Die protestantische Theologie (s. Anm. 1), 410 (s. o. Anm. 36).
103) E. Herms, Karl Barths Entdeckung der Ekklesiologie (s. o. Anm. 85), 183, Anm. 187.
104) Zu Barth vgl. G. Thomas, Die Aufgabe der Evangelischen Theologie im Ensemble universitärer Religionsforschung. Eine Zumutung, in: Zeitschrift für Dialektische Theologie 28 (2/2012), 4–28, 16 und 19. Dass dies ebenfalls für Schleiermacher gilt, wird angedeutet bei Dalferth, Theology and Philosophy (s. Anm. 97), 104 und 110.