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Ausgabe:

März/2018

Spalte:

288–290

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Söding, Thomas, u. Uwe Swarat [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Heillos gespalten? Segensreich erneuert?500 Jahre Reformation in der Vielfalt ökumenischer Perspektiven.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2017. 328 S. = Quaestiones disputatae, 277. Kart. EUR 34,99. ISBN 978-3-451-02277-7.

Rezensent:

Christian Bogislav Burandt

Die Reformation war »ein gesamtkirchliches Ereignis«, die Diskussion darüber kann daher nicht nur von der EKD und von der rö­misch-katholischen Kirche geführt werden. »Ökumene in Deutschland ist heute multilateral« (11). Die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (ACK) hat sich über ihren Deutschen Ökumenischen Studienausschuss (DÖSTA) zu Wort gemeldet und die Vorträge eines mehrtägigen Symposiums in München aus dem Frühjahr 2015 veröffentlicht. Das Buch umfasst 327 Seiten, Register fehlen, ein Verzeichnis der Autorinnen und Autoren gibt es. Das Buch ist Friedrich Weber, dem ehemaligen Braunschweiger Landesbischof, Catholica-Beauftragten der VELKD und Vorsitzenden der ACK (von 2007 bis 2013) gewidmet. Friedrich Weber war 2011/12 Mitglied im DÖSTA und seit 2012 geschäftsführender Präsident der Gemeinschaft evangelischer Kirchen in Europa (GEKE). Er hatte für die Münchener Tagung als Redner zugesagt, war aber am 19.1.2015 nach schwerer Krankheit gestorben.
Die beiden Herausgeber Uwe Swarat und Thomas Söding, die Vorsitzenden des DÖSTA, erläutern in ihrem Vorwort (11–13) die Gliederung des Bandes: Damit die im Zentrum stehenden theologischen Fragen eine tragende geschichtswissenschaftliche Basis bekommen, beginnt der Band mit einem Vortrag von Heinz Schilling über »Luther und die Reformation 1517–2017«. Es schließen sich ökumenische Zukunftsvorstellungen von evangelischer (Landesbischof Karl-Hinrich Manzke) und katholischer Seite (Bischof Gerhard Feige) an. Die theologische Fachdiskussion gruppiert sich um vier Themenzentren: die Diskussion über Einheit und Vielfalt der Kirche, die Frage nach der Rechtfertigung durch den Glauben in multilateraler Perspektive, die Freiheitsthematik und die Konzepte von Kirchenreformen in den verschiedenen Konfessionen (12). – Im Rahmen einer Rezension ist es unmöglich, die 19 verschiedenen, teilweise sehr kompakten und dichten Beiträge angemessen zu würdigen. Im Folgenden sollen wenigstens ein paar Eindrücke vermittelt werden:
Heinz Schilling beobachtet mit Blick auf das Jahr 1517, dass die geläufige Abfolge Reformation – Gegenreformation nicht der historischen Wirklichkeit entspricht. Er hält fest, dass auf der Iberischen Halbinsel bereits vorreformatorisch das geleistet worden sei, »was andernorts erst der reformatorische Aufstand und die tridentinische Reaktion darauf erzwangen« (22). In sieben Thesen bündelt Schilling seine Beobachtungen: 1) »Luthers Wirkungsgeschichte war dialektisch von Scheitern und langfristigem ›Erfolg‹ bestimmt.« 2) »Die wichtigste allgemeingeschichtliche Konsequenz aus der Reformation Luthers ist m. E. der grundlegende Beitrag zur religiösen, später auch allgemein weltanschaulichen Differenzierung Europas« (26). 3) »Durch Luther kam es zur Reaktivierung von Religion als … tief in die Gesellschaft hineinwirkendem Glauben.« 4) »Mit der Reformation wurde der Glaube ›welthaft‹.« 5)  Von der »lutherischen Zentrierung auf die Religion profitierte schließlich auch die römische Kirche« (27). 6) »Luther als Garant neuzeitlicher Religiosität« könne von allen christlichen Kirchen 2017 gewürdigt werden. 7) Die römische Kirche sollte die mit Luther zum Durchbruch gelangte neuzeitliche Differenziertheit Europas anerkennen »als Freiheit, die dem Christentum eingeboren war und ist.« (28) Karl-Hinrich Manzke macht aus lutherischer Sicht in seinem gleichnamigen Beitrag das Modell »Einheit in versöhnter Verschiedenheit« stark und erwägt eine Weiterentwicklung durch den Gedanken der »Sichtbaren Einheit in gestalteter Vielfalt«. Gerhard Feige (»Sichtbare Einheit in der Fülle des Glaubens«) hält aus katholischer Perspektive an der »Wiederherstellung der vollen sichtbaren Einheit« als Ziel der ökumenischen Bewegung fest, wobei s. E. die ›Einheit in versöhnter Verschiedenheit‹ ein Modell sein kann. Ein fertiges Modell, wie diese Einheit konkret aussehen soll, gäbe es auf katholischer Seite nicht. Sein Wunsch und seine Hoffnung sind, dass noch intensiver als bisher an den Grundfragen der Ekklesiologie gearbeitet wird. Konstantin Nikolakopoulos (»Exegese für die Kirche«) beschäftigt sich mit dem reformatorischen Schriftprinzip aus orthodoxer Sicht. Dabei könnte eine Synthese von orthodoxer »ekklesialer« Hermeneutik mit ihrem Achtgeben auf die Kirchenväter und westlicher Hermeneutik helfen, »Übertreibungen und extreme exegetische Positionen« (68) zu vermeiden. Martina Böhm (»Einheit und Spaltung der Kirche im Neuen Testament«) bedenkt exegetisch den Begriff »Kirche« und lotet auf dem paulinischen Hintergrund Grenzen und Chancen des ekklesiologischen Konzepts vom ›Leib Christi‹ aus. Dorothea Sattler (»Einheit und Spaltung der Kirche[n]«) trägt Thesen zur Ökumene aus (einer) römisch-katholischen Sicht vor. Sie beobachtet bei ökumenischen Begegnungen vorrangig das Anliegen, »eine ge­meinsame Erneuerung der einen Kirche anzustreben. Wir müssen noch werden wer wir sind.« »Durch Martin Luther geschah eine Zentrierung des Evangeliums auf die Botschaft von der Annahme, der Bejahung, der bleibenden Beziehungswilligkeit Gottes uns Sünderinnen und Sündern gegenüber.« (87)
Die evangelisch-methodistische Professorin Ulrike Schuler (»Christliche Einheit in Zeugnis und Dienst«) stellt Aussagen und Anliegen von John Wesley heraus, die auf Verständigung mit anderen Christen zielen. Sie macht darauf aufmerksam, dass die Mitgliedskirchen der Vereinigung Evangelischer Freikirchen in Deutschland (VEF) in einer Stellungnahme 2011 unter dem Titel »Evangelisch Sein« dem »Verständnis des Evangeliums, wie es in der Leuenberger Konkordie zum Ausdruck kommt, in allen Punkten zustimmen« (111). – Peter Neuner (»Luther – katholisch gesehen«) berichtet von den Wandlungen des Lutherbildes und von der Diskussion um die Rechtfertigungslehre. Er hofft, dass die Besinnung auf Luther als Reformator auch dazu dient, Reformimpulse des II. Vatikanums aus der Versenkung zu holen. »Ich sehe Luther als einen Repräsentanten der christlichen Botschaft und damit als Lehrer im Glauben.« (135) Werner Klän (»Fortschritte und Hemmnisse auf dem Weg zur Gestaltung der Einheit«) setzt sich aus evangelischer Sicht mit dem Tridentinum auseinander. Er wirft die Frage auf, wie die »Kontinuität und Identität der historisch gewordenen Kirchentümer« behauptet werden kann, wenn die identitätsstiftenden Unterscheidungsmerkmale heute so gedeutet werden, dass sie ihre trennende Wirkung gegenüber dem Partner verloren haben (156). »Die ›Gemeinsame Er­klärung zur Rechtfertigungslehre‹ [GER] heute gelesen« lautet der Titel des Vortrags von Thomas Söding. Er legt eine exegetische Kritik in ökumenischer Absicht vor, in dem er Entstehen, Zielsetzung, Methode und die vorgebrachte Kritik an der GER referiert. Als Schwachpunkte an der GER macht er die Fixierung der Debatte auf das 16. Jh. aus sowie die vorgelegte dünne biblische Basis. Als Aufgaben sieht er die Notwendigkeit, das biblische Zeugnis breiter und tiefer als in der GER geschehen zu erschließen, die neueren Ansätze der Paulusforschung kritisch zu integrieren und mit Grundtexten der Rechtfertigungslehre so zu vernetzen, »dass die kanonische Stellung der Schrift erhellt wird« (177). Die paulinische Rechtfertigungslehre stärkt s. E. den ökumenischen Konsens.
Petra von Gemünden (»Die paradoxe Freiheit der Christinnen und Christen nach Paulus«) arbeitet exegetisch mit Bezug auf Gal und 1Kor/Röm 14 die zwei Gesichter der christlichen Freiheit nach Paulus heraus: um des Evangeliums willen den Konflikt in Galatien und den »Verzicht auf – per se durchaus legitime – Freiheitsrechte um des schwachen Mitchristen« willen. (199) Bernd Oberdorfer denkt systematisch-theologisch über »Glaubensgewissheit, Glaubensgemeinschaft, Bürgerfreiheit« bei Luther und der Reformation nach. Die Reformation gehöre nicht zur Vorgeschichte des Parlamentarismus. »Gleichwohl hat die reformatorische Deliberationskultur, wie sie sich etwa in öffentlichen Disputationen artikulierte, der Entstehung einer gebildet-bürgerlichen Öffentlichkeit vorgearbeitet, in der Fragen allgemeinen Interesses ohne Zugangsbeschränkungen ungehindert behandelt werden können.« (215) Gerd Häfner (»Freiheit zum Streit«) thematisiert aus katholischer Perspektive das paulinische Freiheitsverständnis und die als Kompromiss gedachten Jakobus-Klauseln des Apostelkonzils (Apg 15,20.29). Schon im Neuen Testament schließe Freiheit in der Kirche die Freiheit zur Auseinandersetzung ein. Er beklagt, dass der Preis für die Freiheit der katholischen Exegese ihre Folgenlosigkeit in der kirchlichen Rezeption sei. Burkhard Neumann (»In Freiheit glauben«) bedenkt die theologischen Grundlagen der Anerkennung der Religionsfreiheit durch das II. Vatikanische Konzil. »Ein Respektieren der Freiheit als einer Leitkategorie der Moderne« beinhaltet für ihn auch eine wirkliche ›Kritik der Freiheit‹ von Seiten der Kirche, die in aller Vorläufigkeit »neben Möglichkeiten und Chancen auch die Missverständnisse und Fehlformen moderner Freiheit benennt« und versucht, modellhaft die wahre menschliche und christliche Freiheit in der Gemeinschaft der Glaubenden darzustellen.« (248) Marianus Bieber (»Glaube als Gewissensfrage – zur Notwendigkeit der Freiheit im Geschehen der Rechtfer-tigung des Sünders«) mustert philosophische Anfragen im Blick auf die Rechtfertigung. Er hält fest: »Eine Theologie muss m. E. heute gegen strikt heteronomisch ausgerichtete Konzepte aus der Naturwissenschaft, der Soziologie oder der analytischen Philosophie von einer phänomenologischen oder existenzphilosophischen Subjektivitätsphilosophie her argumentieren, wenn sie Glauben noch einsichtig machen will im derzeitigen rationalen Diskurs.« (262)
Daniel Munteanu (»Die polyphonische Musikalität der Neuschöpfung«) bedenkt theologische Aspekte des orthodoxen Freiheitsverständnisses anhand von Maximus Confessor, Gregor Palamas und Dumitru Staniloae. – Uwe Swarat (»Reformation einst und immer?«) beleuchtet aus evangelisch-freikirchlicher Perspektive die Formel ecclesia semper reformanda. »Ziel jeder Reformation muss ja sein, dass die äußere Kirche dem geistlichen Geschehen von Kirche dient und diesem Geschehen Ausdruck verleiht.« (290) Der entscheidende Impuls zur Reformation der Kirche liege in der Heiligen Schrift. Aber ob und wie sie zum Impulsgeber einer Reformation werden kann, »bleibt also eine ökumenisch noch offene Frage« (306). Bertram Stubenrauch (»Kirchenreform aus römisch-katholischer Sicht«) legt unter den Überschriften »Umkehr«, »Einkehr« und »Hinkehr« die Reformbedürftigkeit von Gläubigen und Kirche selbst dar. Die persönliche Bußfertigkeit der Getauften sei nicht nur eine Privatangelegenheit, sondern eine genuin ekklesiale Haltung. »Wahre Reform der Kirche bedeutet also, das institutionelle Moment in einer Weise freizulegen und zu pflegen, dass es für Gott transluzid bleibt.« (311) Kirchenreform auf der Basis der Bezeugungsinstanzen des christlichen Glaubens fordere den fortwährenden Dialog ein. Die wissenschaftliche Theologie müsse wieder ein größeres Gewicht bekommen sowohl bei der Basis als auch bei den Kirchenleitungen. Athanasios Vletsis (»Irreformable Kirche?«) wehrt sich gegen das Missverständnis, als hätte die orthodoxe Kir-che grundsätzlich mit dem Stichwort »Reform« nichts zu tun oder als wären »Reformen« nicht notwendig. Er bezieht sich auf die orthodoxe Ekklesiologie bei Georg Florovsky, belegt Reformen in der Vergangenheit und fordert in einem 6-Punkte-Katalog gegenwärtige Reformen im kirchlichen Leben der Ortho-doxie. Die Christen heute sind aufgerufen, »ihre Gestalt stets zu erneuern (vgl. Kol 3,10)«, ohne sich von den Kirchen abzuspalten, damit diese glaubhaft von ihrem Auftrag Zeugnis ablegen können (324).
Einige wenige Orthographie-Fehler sind stehen geblieben. – Dem anregenden und reichhaltigen Buch, das weit über das Reformationsjubiläum hinaus von Bedeutung ist, sind viele Leserinnen und Leser aus allen Konfessionen zu wünschen!