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Ausgabe:

März/2018

Spalte:

286–288

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Müller, Sabrina

Titel/Untertitel:

Fresh Expressions of Church. Ekklesiologische Beobachtungen und Interpretationen einer neuen kirchlichen Bewegung.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2016. 338 S. m. CD-ROM. Kart. EUR 58,00. ISBN 978-3-290-17854-3.

Rezensent:

Martin Reppenhagen

Mit den Stichworten »mission-shaped church«, »fresh expressions of church« und »mixed economy« lassen sich die wesentlichen Leitbegriffe der neueren Reformbestrebungen in der Church of England beschreiben, wie sie im Bericht für die Synode benannt und 2004 unter dem Titel »Mission-shaped Church« (dt. »Mission bringt Gemeinde in Form«, 4. Aufl. 2015) veröffentlicht wurden. Der Be­richt stieß auf ein überraschend großes Echo, so dass die Pflanzung von neuen Netzwerkgemeinden zu einem (fast) flächendeckenden Phänomen innerhalb der anglikanischen Kirche wurde und Nachahmer in vielen europäischen Ländern fand.
Mit der 2015 an der Universität Zürich angenommenen Dissertation von Sabrina Müller liegt nun eine erste umfängliche qualitativ-empirische Untersuchung zu dieser neuen kirchlichen Bewegung in deutscher Sprache vor. Dabei greift sie vor allem auf eigene Untersuchungen, aber auch auf Veröffentlichungen empirischer Untersuchungen, die in den letzten Jahren in England selbst entstanden sind, zurück. Für die Porträts von ausgewählten freshX (so die in Deutschland übliche Abkürzung; in England fxC) bediente sich M. einer Methodentriangulation aus »unstrukturierter teilnehmender Beobachtung, Gesprächen mit Teilnehmenden, Integration der Homepages und schon veröffentlichten Berichten und Dokumentationen« (25). Ergänzend wurden Experteninterviews durchgeführt, »um zusätzliche Perspektiven auf die Ekklesiologie der fxC zu erschließen« (33). Für das Codieren wurde hier in Anlehnung an die Grounded Theory gearbeitet (37 f.).
In Kapitel 4 (41–64) verweist M. auf die Definition(en) von freshX und schlüsselt die verschiedenen Schritte der Entstehung einer freshX auf. Hier werden vor allem die Standardwerke zu freshX sowie Internetseiten herangezogen, so dass eine gute Zusammenfassung der Charakteristika von freshX entsteht. Als eine wichtige Erstinformation zu freshX bietet sich dieses Kapitel besonders an. Besonders hervorzuheben ist hier, »dass im Schnitt 76,7 Prozent der in fxC involvierten Personen nicht in einer anderen Kirche integriert wären und keine andersweitigen kirchlichen Bezüge aufweisen« (59). Hier zeigt sich das missionale Potenzial von freshX, die durchaus als Biotope des Wachsens beschrieben werden könnten. Gerade eine Kirche, die nicht bei sich selbst bleiben will, wird hier aufmerksam schauen. Während sich eine Vielzahl kirchlicher Angebote vor allem an kirchlich Sozialisierte richtet, gelingt hier mit einem milieusensiblen Ansatz der Kontakt mit Konfessionslosen und Kirchendistanzierten. Ein Überblick über die Entstehung und Entwicklung besonders seit dem Aufkommen von Gemeindepflanzungen folgt (65–104). Auch kritische Stimmen werden aufgenommen, wobei diese und die Reaktion der Vertreter von freshX nur dargestellt werden (99–104).
Den Hauptteil und den Schwerpunkt des Buches nehmen die fünf Beispiele von fxC (105–144) sowie die Analyse der Experteninterviews ein (145–267). Die beschriebenen Beispiele stehen dabei stellvertretend für die am häufigsten vorkommenden Typen von freshX in England: Messy Church, New Monasticism, Alternative Worship, Café Church, Youth Church, Cell Church, Community development plant, Network Church (106). Dabei unterliegt jede Darstellung der gleichen Gliederung. Nur die Darstellung von Messy Church weicht ab, da es sich hier nicht um ein lokales Beispiel handelt, sondern um eine bestimmte Gattung. Schön zu erkennen sind die hohe Beteiligungskultur sowie die Diversität dieser neuen Sozialformen von Kirche, die sich eher unspektakulär und als low budget-Gemeinden zeigen: »God is the source of our motivation. We are ordinary people, doing extraordinary things, beacues of an extraordinary God.« (143)
Die Namen der ausgewählten Experten lesen sich wie das Who-is-who der FreshX-Bewegung in England. M. benennt gleich zu Beginn die besondere Herausforderung für eine traditionelle Ekklesiologie, dass freshX beanspruchen, Kirche zu sein, und diesen Status kirchenrechtlich anstreben können (145). Mit ihrer ekklesiologischen »mixed economy« hat die Church of England Innovationsräume geschaffen, die vielfältig genutzt werden und sich durch ein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein zeigen. Man weiß sich in der Sendung Gottes (missio Dei). Dabei wird Kirche als kontextorientierte Gemeinschaft gedacht, die gottesdienstlich geprägt und diakonisch ausgerichtet ist. M. macht deutlich, wie selbstverständlich die unterschiedlichen kontextsensiblen Ausdrucksformen von Kirche in der Church of England geworden sind. Außerdem zeigt sich mit den Feldforschungen und den Experteninterviews, wie sich eine kirchliche Basisbewegung mit kirchenleitenden Strategien der Kirchenentwicklung verbinden kann. Gleichzeitig bleiben diese vor allem kleinen und dynamischen Sozialformen mit ihrer Potenz und dem kirchlichen Recht zur Gemeindewerdung eine stete Herausforderung.
Mit ihrer theologischen Deutung der Ergebnisse (269–296) fasst M. ihre Forschungsergebnisse systematisch zusammen und orientiert sich an der Trinität Gottes. Immer wieder wird der dialogische Charakter des Missions- und Kirchenverständnisses von freshX hervorgehoben. Hier folgt M. einer eigenen Systematik, die sich durchaus mit den vier Attributen einer freshX von Michael Moynagh verbinden lässt: missional, kontextuell, lebensverändernd, gemeindebildend. Dass M. durchweg den Begriff discipleship un­übersetzt lässt und nur offen umschreibt, zeigt ein Desiderat im deutschsprachigen Kontext, in dem eine Kirchenmitgliederorientierung weitgehend ohne Bezug auf eine persönliche und gemeinschaftliche Glaubenspraxis auskommt.
Die Stärke der Arbeit liegt eindeutig im Bereich der Darstellung und qualitativ-empirischen Forschung. Besonders die Ergebnisse der teilnehmenden Beobachtungen sowie die Analyse der Experteninterviews sind hier zu nennen. Diese machen den Hauptteil des Buches aus. Diesem Fokus mag auch geschuldet sein, dass eine stärkere Einbindung und theologische Diskussion der mittlerweile reichlich vorhandenen Literatur zu freshX eher begrenzt erfolgt. Dessen unbenommen ist die hier rezensierte Veröffentlichung ein wichtiger und wesentlicher Beitrag für die zunehmende Suche nach neuen Sozialformen von Kirche gerade im deutschen Sprachraum und damit für das weitere Entstehen von freshX. Ein Blick u. a. nach Holland oder in die Evangelische Kirche Mitteldeutschlands mit ihren Erprobungsräumen zeigt, wie dieser aus der anglikanischen Kirche kommende Gemeindeentwicklungsansatz auch in anderen Kontexten und Ländern fruchtbar aufgenommen werden kann.
Es bleibt zu hoffen, dass die hier vorgestellten Forschungsergebnisse für den praktisch-theologischen Diskurs zur Kirchenentwicklung sowie für kirchenleitendes Handeln aufgenommen werden und es bald zu einer vergleichbaren Studie über deutschsprachige freshX kommt.