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Ausgabe:

März/2018

Spalte:

284–286

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Kyrleschew, Alexander

Titel/Untertitel:

Die russische Orthodoxie nach dem Kommunismus. Das byzantinische Erbe und die Moderne. Übers., komm. u. hrsg. v. A. Briskina-Müller u. D. Heller.

Verlag:

Herne: Gabriele Schäfer Verlag 2014. 467 S. = Studien zur Kirchengeschichte und Theologie, 9. Kart. EUR 27,00. ISBN 978-3-944487-16-8.

Rezensent:

Stefan Reichelt

Bei diesem Buch handelt es sich um eine Sammlung von Aufsätzen publizistischer Art – nicht ohne theologisch-wissenschaftlichen Anspruch –, die über einen längeren Zeitraum hinweg (über mehr als einundeinhalbes Dezennium) entstanden. Alle erschienen in kirchlichen und allgemein-gesellschaftlichen Periodika und Sammelbänden. Anliegen ist die Identitätsfindung der russischen Orthodoxie unter den neuen postsowjetischen Bedingungen, wie in Titel und Untertitel angegeben (vgl. auch K.s Vorwort für die deutsche Ausgabe, 12).
Eine generelle Feststellung sei vorausgeschickt: Im heutigen Russland gibt es ein starkes gesellschaftliches Bedürfnis nach Religion bei gleichzeitig weitgehender religiöser Ignoranz.
So finden sich im Sammelband der Aufgabenstellung entsprechend historische Ereignisse und Personen thematisierende Aufsätze, u. a. »Die frühchristliche Kirche und die Transformation des christlichen Bewusstseins«, »Der radikale Traditionalismus des Priesters Alexander Schmemann«, »Das Jubiläum der Russischen Christlichen Studentenbewegung (1923–1998)«, »Ein Mystiker in der Welt: in memoriam Metr. Anthony von Sourozh«, systematisierende, u. a. »Bemerkungen zu den verschiedenen Typen religiösen Bewusstseins«, »Die Kirche und die Sozialkonzeption der ROK«, »Die Frage nach den Grenzen der Kirche in den jüngsten Dokumenten der Römisch-Katholischen und der Russischen Orthodoxen Kirche«, »Liberale Tendenzen in der russischen Orthodoxie. Eine Problemanzeige«, »Probleme der Kirchenordnung der modernen Orthodoxie«, »Was ist Theologie?« sowie stärker sozialwissenschaftlich-soziologisch und eschatologisch orientierte, wie »Das Phänomen der ›Orthodoxen Ideologie‹«, »Die politische Identität der Kirche«, »Die Kirche und die Sozialkonzeption der ROK«, »Die Russische Orthodoxe Kirche vor dem Problem der Modernisierung«, »Die postsäkulare Epoche: Einige Beobachtungen zur religiös-kulturellen Situation« und »Die eschatologische Dimension des Christentums«.
Theologische Ressourcen für einen Neubeginn nach dem Kommunismus fehlten nahezu gänzlich. Eine Ausnahme bilden die hervorragenden Denker der kirchlichen Diaspora des 20. Jh.s (u. a. Nikolaj A. Berdjaev [1874–1948], Sergej N. Bulgakov [1871–1944], Georgij V. Florovskij [1893–1979] und Vasilij V. Zen’kovskij [1881–1962] werden namentlich erwähnt). Die gemachten Erfahrungen sind jedoch kontextuell, folglich nicht ohne Interpretationsaufwand im postsowjetischen Russland rezipierbar. Zunehmend wächst das Interesse an den »Exiltheologen«.
In neuerer Zeit kennzeichnen das russische kirchliche Milieu gegensätzliche Positionen. Ein Versuch der ›Goldenen Mitte‹ sind »Die Grundlagen der Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kirche« aus dem Jubiläumsjahr, dem Milleniumsjahr 2000. In ih­nen begann die Russische Orthodoxe Kirche eine neue Sprache zu sprechen. Die ROK ist politischer Partner eines autoritären Staates, Kirche der Mehrheit. Ihre kulturhistorische Rolle gewinnt an Be­deutung in einer stark säkularisierten Gesellschaft. So besteht eine d er vordringlichsten Aufgaben darin, eine russische orthodoxe Theologie zu entwickeln, ohne die die Wiedergeburt der Kirche nicht möglich ist. Pauschalisierend konstatiert K.: Die »russische Theologie brachte bisher keinen einzigen kreativen, originellen und christlichen Denker hervor, der mit jenen Philosophen und Theologen der Vergangenheit vergleichbar wäre« (17). Ob dieses Gesamturteil zutreffend ist, darf bezweifelt werden.
Gegenwärtige Aufgabe nach K. ist es, Kirche neu zu denken, die universale Mission Russlands hör- und erlebbar zu machen (136). Diesem Anliegen sind auch die bemerkens- und nachdenkenswerten Beiträge dieses Sammelbandes gewidmet (18). Kritisch angemerkt seien, wie bereits exemplarisch angedeutet, die nicht seltenen grellen Übertreibungen. Drei Beispiele seien angeführt:
1. Die Kirche existiere als ein freiwilliger Verband von Privatpersonen (44). Dem widersprechen jahrhundertealte Traditionen des Kirchenrechts.
2. In der Neuzeit habe Religion ihre Rolle und Bedeutung bei Entscheidungen der politischen, sozialen und kulturellen Sphäre verloren (252). Hier wäre es wohl angemessener, von Einbußen statt vom gänzlichen Verlust zu sprechen.
3. Niemand im orthodoxen Russland hätte nach 1991 das Erbe der russischen Religionsphilosophie angetreten, so dass es zu ihrem historischen Tod gekommen sei (292). Ungeachtet dessen wird ein Bedürfnis nach neuer Religionsphilosophie festgestellt. Gegenargument dieser Übertreibung sind u. a. K. selbst, die Editionen der »Klassiker« und ihnen gewidmete Konferenzen und Tagungen.
Stilistisch muss eine gewisse Ungelenkigkeit konstatiert werden, wenn – etwa auf S. 44 f. – von objektiver Mitteilung göttlicher gnadenhafter Energien mittels heiliger Handlungen an die Gläubigen oder von Teilnahme am objektiven Gottesdienst die Rede ist, oder auf S. 19 f., wo Sprachbilder zu harmonisieren wären. Das mag sprachlich-kulturell bedingt sein, wirkt im Deutschen jedoch eigenartig und erschließt sich dem Leser nur mit Mühe und hohem Interpretationsaufwand.
Bezüglich der Form des Sammelbandes von ursprünglich russischen Aufsätzen in deutscher Sprache darf auf eine respektable Übersetzungsleistung hingewiesen werden. Weniger gewichtige Monita seien dennoch benannt: Ein Aufsatz ist im Inhaltsverzeichnis nicht angegeben: »Die politische Identität der Kirche« (137–144). Über die Umschrift des Russischen ist zu lesen: »Wir entschieden uns bewusst gegen die wissenschaftliche Umschrift russischer Na­men und Begriffe, sondern wählten eine einfachere Form, die für ein nicht in die Slawistik eingeweihtes Leserpublikum zugänglich ist.« (Vorwort der Herausgeberinnen, 10) Die Entscheidung wirkt jedoch eigenwillig für einen Band (9.) der Reihe »Studien zur Kirchengeschichte und Theologie«.
Abgesehen von den bereits angemerkten publizistischen Übertreibungen und Überspitzungen ist das Buch für deutschsprachige Forscher des östlichen Christentums und der russischen Orthodoxie nützlich und sehr zu empfehlen. Es lässt neue Horizonte aufscheinen und ermöglicht faktengesättigtes, wissenschaftlich fundiertes Anteilnehmen an einer höchst spannenden, gänzlich neuen Entwicklung, die auch Europa und die westliche Welt nicht unbeteiligt lässt und deren Ausgang prinzipiell offen ist.
Sehr gedankt wird den Übersetzerinnen, den Kommentatorinnen sowie den beiden Herausgeberinnen Anna Briskina-Müller und Dagmar Heller für ihre beachtliche Arbeit. Dem Werk sind viele aufmerksame Leser und eine möglichst weite Verbreitung zu wünschen.