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Ausgabe:

März/2018

Spalte:

276–278

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Stadelmann, Helge, u. Stefan Schweyer

Titel/Untertitel:

Praktische Theologie. Ein Grundriss für Studium und Gemeinde.

Verlag:

Gießen: Brunnen Verlag 2017. 492 S. Geb. EUR 50,00. ISBN 978-3-7655-9568-4.

Rezensent:

Eberhard Winkler

Hiermit liegt erstmalig im deutschen Sprachraum ein Lehrbuch der Praktischen Theologie vor, das von einer evangelikalen Position geprägt ist. Die Autoren lehren Praktische Theologie an den Freien Theologischen Hochschulen Gießen (Stadelmann) bzw. Basel (Schweyer) und verantworten den gesamten Text gemeinsam. Sie verstehen Praktische Theologie als »die biblisch normierte Theorie kirchlicher Praxis im gesellschaftlichen Kontext« (2). Ziel und Leitmotiv des Konzeptes ist der Gemeindeaufbau. Die Subdisziplinen der Praktischen Theologie werden diesem Leitmotiv so zugeordnet, dass der Abschnitt »Gemeinde bauen« die Oikodomik und Kybernetik enthält, während unter der Überschrift »Gemeinde sammeln« die Liturgik, Homiletik, Kasualien, Aszetik, Poimenik und Gemeindepädagogik (in je einem Kapitel für Kinder und Erwachsene) entfaltet werden. Der Abschnitt »Gemeinde senden« behandelt die Evangelistik, Diakonik, Religionspädagogik und Publizistik.
Das Leitmotiv des Gemeindeaufbaus und die evangelikal-freikirchliche Position führen keineswegs zu einer Horizontverengung. Dafür sorgen die im ersten, grundlegenden Teil dargelegte kritische Kontextualisierung, die durchgehende Beachtung der empirischen Aspekte und die dazu notwendige Bezugnahme auf die Referenzwissenschaften, wobei neben der Soziologie auch die Psychologie mit ihren verschiedenen Richtungen gebührende Berücksichtigung findet. Der zweite Teil (»Kontext«) reflektiert religiöse und gesellschaft liche Entwicklungen in der nachchristlichen Gesellschaft, wobei auch auf Prognosen eingegangen wird.
Die entsprechende Literatur wird umsichtig verarbeitet und in der für ein Lehrbuch notwendigen Auswahl nachgewiesen. Dabei rezipieren die Autoren die ganze Bandbreite praktisch-theologischer Positionen, wobei Publikationen mit missionarischer Intention wie z. B. von M. Herbst und entsprechende Stimmen aus dem englischsprachigen Raum angemessen zur Geltung kommen, während um­gekehrt die evangelikal und missionarisch orientierten Veröffentlichungen im Mainstream der deutschsprachigen Praktischen Theologie kaum Beachtung finden.
Die Autoren gehen davon aus, dass sich mittel- und langfristig eine Annäherung zwischen den kleiner werdenden Großkirchen und den Freikirchen vollzieht. Ihre Praktische Theologie spiegelt diese Annäherung wider, indem sie auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten beider Kirchentypen Bezug nimmt und das verbindende reformatorische Erbe betont. Die differentia specifica dieses Entwurfs gegenüber der gegenwärtig im deutschen Sprachraum dominanten Praktischen Theologie liegt darin, dass sie konsequent als biblisch normierte und motivierte Theorie verstanden wird. Die Autoren zeigen in beeindruckender Weise, dass und wie dieser Ansatz auf alle Gebiete der Praktischen Theologie anwendbar ist.
Damit gewinnt das hermeneutische Problem eine grundlegende Bedeutung. Die Autoren kritisieren die seit den 60er Jahren erfolgende emanzipatorische Wende, »in deren Verlauf sich der Sinngebungsprimat vom biblischen Text hin zum Leser bzw. Hörer verschob« (60). Sie fordern eine »Hermeneutik des Respekts« vor der Aussageintention des jeweiligen biblischen Textes, so dass dieser »sich selber Geltung verschaffen kann« (63). Das Hören auf die Heilige Schrift hat Vorrang vor den Interessen der sie auslegenden Person oder Gemeinschaft. Damit fordern die Autoren im Jahr des Reformationsgedenkens das fundamental reformatorische Schriftprinzip ein. Sie ziehen daraus viele praktische Konsequenzen, die weithin einleuchten, zum Teil auch diskutiert werden müssen. Zum Beispiel nötigt der Grundsatz, den biblischen Aussagen die Priorität einzuräumen, nach Meinung der Autoren dazu, die Übertragung von Leitungs- und Lehrautorität auf Frauen in Frage zu stellen (180 f.). Sie werden dafür in der EKD und auch in manchen Freikirchen Widerspruch ernten, der jedoch biblisch und nicht nur unter Berufung auf soziale oder kulturelle Veränderungen begründet werden muss. Die Priorität biblischer Aussagen gilt in Verbindung mit dem hermeneutischen Prinzip, dass die Schrift »ihre eigene Auslegerin« ist. Es gelingt den Autoren, den Reichtum des biblischen Potenzials für die Praktische Theologie so zu erschließen, dass die Praxisrelevanz des Schriftbezugs eindrucksvoll zur Geltung kommt.
Das in der gegenwärtigen deutschsprachigen Praktischen Theologie weithin anerkannte Leitmotiv »Kommunikation des Evangeliums« nehmen die Autoren positiv auf, fordern aber die inhaltliche Füllung des Begriffs »Evangelium« im Sinne des Schriftprinzips. Da­mit Kommunikation gelingt, sind alle mit Hilfe der Referenzwissenschaften zu erlangenden menschlichen Möglichkeiten einzusetzen im Wissen darum, dass sie nur durch Gottes Geist zu ihrem Ziel kommen kann. Was R. Bohren im Blick auf die Predigt als »theonome Reziprozität« erläuterte, gilt für alle Subdisziplinen der Praktischen Theologie. Alle Handlungsfelder sind nach der Trias »Sehen – Urteilen – Handeln« zu reflektieren. Die Theorie zielt auf eine Veränderung der Praxis, die in die »Missio Dei« eingebettet ist. Der missionarische Im­petus prägt das Werk. Dass »Evangelistik« eine eigene Subdisziplin bil det, zeigt die Dringlichkeit missionarischer Kommunikation im nachchristlichen Europa und im globalen Horizont so­wie die Notwendigkeit, diese Aufgabe nicht auf Evangelisationen im traditionellen Stil einzuengen. Dabei kommt mehrfach auch das In­ternet in den Blick.
Der freikirchliche Hintergrund wird dafür verantwortlich sein, dass keins der 22 Kapitel und keiner der 20 beigefügten Exkurse dem Kirchen- und Staatskirchenrecht gewidmet ist. Rechtliche Informationen erfolgen allerdings in entsprechenden Zusammenhängen, z. B. bei der Begründung des schulischen Religionsunterrichtes. In freikirchlicher Sicht scheint auch Diaspora kein Thema darzustellen, weil Freikirchen immer in der Diaspora leben. Gemeindeaufbau als Ziel der Praktischen Theologie bedeutet für die Autoren nicht, ein bestimmtes Konzept zu propagieren, sondern auf Grund der Heiligen Schrift zu fragen, wie individuelles und gemeinsames Leben im Glauben an den Dreieinigen Gott zu gestalten ist. Man kann fragen, ob Gemeindeaufbau dann wirklich als Ziel oder eher als Weg zu diesem Ziel zu verstehen ist.
Das Buch ist klar gegliedert und graphisch übersichtlich gestaltet. Jedes Kapitel mündet in Repetitionsfragen und eine Bibliographie. Je ein Namen- und ein Sachregister runden das Werk ab, das nicht nur gut neben den vorhandenen praktisch-theologischen Lehrbüchern besteht, sondern sie auch ergänzt und hoffentlich gebührende Be­achtung finden wird.