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Ausgabe:

März/2018

Spalte:

273–276

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Polak, Regina

Titel/Untertitel:

Migration, Flucht und Religion. Praktisch-theologische Beiträge. 2 Bde.

Verlag:

Ostfildern: Grünewald-Verlag (Verlagsgruppe Patmos im Schwabenverlag) 2017. Bd. 1: Grundlagen. 286 S. Kart. EUR 28,00. ISBN 978-3-7867-3088-0. Bd. 2: Durchführungen und Konsequenzen. 334 S. Kart. EUR 32,00. ISBN 978-3-7867-3104-7.

Rezensent:

André Ritter

Die in zwei Bänden nunmehr vorliegende Publikation von Regina Polak, Institut für Praktische Theologie an der Katholisch-Theolo-gischen Fakultät der Universität Wien, stellt eine Sammlung von Beiträgen ihrer bisherigen praktisch-theologischen Forschung zum Themenbereich »Migration, Flucht und Religion« dar. P. möchte all jenen, die sich für geflüchtete Menschen und Migranten einsetzen und mit ihnen gemeinsam lernen wollen, wie Menschen in einer Migrationsgesellschaft friedlich miteinander leben können, »Bausteine« für eine praktisch-theologische Reflexion ihrer Erfahrungen zur Verfügung stellen. So versuchen die einzelnen Beiträge, die in jeweils unterschiedlichem Kontext entstanden und teilweise bereits anderenorts veröffentlicht worden sind, Flucht und Migration in ihrem theologischen Sinn zu erschließen und Perspektiven für deren Wahrnehmung und Deutung sowie Handlungsperspektiven zu entwi-ckeln. Auf diese Weise soll ihre Publikation neue Hoffnung stiften.
Das Spektrum reicht weit und umfasst viele Aspekte des Themas Migration, Flucht und Religion. Der erste Band widmet sich theologischen und sozialwissenschaftlichen Grundlagenfragen und gliedert sich in zwei Teile: Der erste Teil befasst sich zunächst mit dem Phänomen Migration als einem »Ort der Theologie« und bietet eine Fülle theologischer Zugänge zum besseren Verständnis des Phänomens. Der zweite Teil des ersten Bandes wiederum bietet sozialwissenschaftliche Perspektiven und vertieft so den empirischen Einblick in das Phänomen Migration. Dementsprechend fragt der zweite Band schließlich nach den theologischen und praktischen Konsequenzen, die daraus gezogen werden können, und führt so die Argumentation des ersten Bandes fort, wobei vor allem die Frage nach dem Zusammenleben in Verschiedenheit und Gerechtigkeit im Zentrum steht. Laut P. sind Migration und Flucht für Kirchen und Theologie »Zeichen der Zeit«. Doch wie lassen sich diese »Jahrhundertherausforderungen« aus christlicher Sicht wahrnehmen? Wie können Europäer in einer kulturell und religiös pluralen Gesellschaft friedlich zusammenleben? Was können die Kirchen in den Migrationsgesellschaften Europas beitragen? Diesen und anderen Fragen geht P., eine anerkannte Expertin in Fragen zu religiösen Transformationsprozessen in Europa, zu Religion im Kontext von Migration oder zum interreligiösen Dialog mit dem Judentum und dem Islam, aus interdis- ziplinärer Perspektive nach. Sie eröffnet empirische Einblicke in migrantische Lebensräume und -erfahrungen und innovative Zu­gänge zu biblischen Migrationstheologien. Migration und Flucht gehören zum Kern des christlichen Glaubens und können für Europa zum Weg in die Freiheit werden.
Bereits bei ihren Ausführungen zu »Migration als Ort der Theologie« wird deutlich, dass die Autorin einen eigenen (praktisch-theo-logischen) Ansatz wählt, der vor dem aktuellen Hintergrund der sogenannten »Flüchtlingskrise« – P. zufolge eine fahrlässig selbst verschuldete Krise der politischen Institutionen der Europäischen Union sowie Ausdruck eines Mangels an Solidarität und Gemeinwohlorientierung der Nationalstaaten (vgl. Bd. 1, 33) – keineswegs nur die Rolle von (römisch-katholischer) Theologie und Kirche, sondern zugleich auch das zivilgesellschaftliche Engagement würdigen soll: »Theologisch geht es um das schöpfungs- und heilsgeschichtlich ausgerichtete (Wieder)Erlernen, dass die Menschheit eine ist und als solche nur gemeinsam überleben und leben kann, sowie mit Blick auf die Verantwortung der Kirche in diesem Kontext um ein Verständnis von Katholizität als universaler und heilsgeschichtlicher Kategorie. Es geht um das Zusammenleben von Menschen verschiedener kultureller und religiöser Traditionen in versöhnter Einheit« (31). Mehr noch gelte: »Migration hat eine ekklesiologische Bedeutung: Sie dient dem Aufbau der Kirche.« (40) Denn »Migration ist auch für die Kirche ein Spiegel, in dem sie ihre eigenen Probleme wahrnehmen kann.« (41) Deshalb betreffe dieses Faktum auch und gerade die Theologie, die durch Migration vor völlig neue Herausforderungen gestellt wird:
»Insofern Migration die Weltkirche konkret vor Ort bringt, eröffnen sich z. B. mit Blick auf kontextuelle Christologien oder Ekklesiologien neue systematisch-theologische und ökumenische Fragestellungen. Heterogene Zugänge zu Bibelexegese oder Liturgie fordern ebenso heraus wie in einer religiös pluralen Gesellschaft der interreligiöse Dialog und dessen Reflexion komplexer werden. Nicht zuletzt gewinnt die politische Dimension der Theologie an Relevanz.« (45)
Im Rahmen des zeitgenössischen Migrationsdiskurses sei aber nicht nur die oftmals unspezifische Verwendung des Begriffs der Migration bemerkenswert. Trotz der Tatsache, dass es sich bei Migrationen um altbekannte Sachverhalte und menschheitsgeschichtliche Phänomene handelt, gerate nicht zuletzt auch der Zusammenhang von Migration und internationaler Entwicklung immer wieder aus dem Blick. Zumal die gegenwärtige Situation konfrontiere die Gesellschaften mit den Fragen nach politischer Partizipation, Leben mit kultureller Pluralität und nationaler Identität und verlange deshalb nach der Entwicklung universaler Konzepte von citizenship. Zwar werde Migration gegenwärtig primär problem- und defizitorientiert wahrgenommen und die Chancen und Potentiale nur selten thematisiert (vgl. 61), gleichwohl eröffnen die globalen Migrationsprozesse der Gegenwart »Orte, an denen sich Theologie bewähren kann und muss. Sie können zu einem Knotenpunkt werden, an dem sich alle theologischen Disziplinen beteiligen.« (78) Mit anderen Worten:
»Wenn die Theologie Menschen mit Migrationsgeschichte zuhört, verändert sie sich. In diesem Sinne kann jede Theologie ›praktisch‹ werden, d. h. der Tatsache Rechnung zollen, dass sich die Wahrheit des Glaubens immer situa-tions- und ortsgebunden, also konkret mitteilt und getan wird. Damit stellt sich zugleich die Frage nach einer migrationssensiblen Theologie.« (80)
Was aber bedeutet dies für Theologie und Kirche nun konkret? Einerseits gelte es, die langjährige Migrationsforschung zur Kenntnis zu nehmen. Andererseits brauche es eine eigenständige praktisch-theologische Forschung, da die Migrationswissenschaft eine einseitige Konzentration auf den Islam aufweise. »Kirchliche Flüchtlingsarbeit, die Auswirkungen von Zuwanderung auf kirchliche Gemeinden und Diözesen, dementsprechende Entwicklungen in der Liturgie, interreligiöser Dialog in einer Migrationsgesellschaft – all dies sind Zu­kunftsthemen, zu denen es bisher im deutschsprachigen Raum nur wenig empirische Forschung und theologische Reflexion gibt.« (89) Gleiches gelte grundsätzlich auch für die öffentliche Wahrnehmung von Religion in unserer Gesellschaft:
»Dabei kommt es auch zur deutlicheren Sichtbarkeit der Religion der MigrantInnen. Dies wird in vielen Ländern zum umstrittenen Politikum (Moscheenbau). Die neue Präsenz von Religion im öffentlichen Raum bietet viele Chancen. Der öffentliche Dialog zwischen Religion und Gesellschaft fördert neue Ideen und Kooperationen. Die Gesellschaft erhält Impulse durch wichtige und vergessene Fragen nach dem Sinn und Grund des Lebens. NeueFormen religiösen Alltagslebens entstehen. Kirchen und Religionsgemeinschaften bekommen im Dialog mit der Gesellschaft Anregungen zur Selbsttransformation und Erneuerung. Religion, die durch Migration mitgebracht wird, kann diesen Prozess beschleunigen.« (104 f.)
Doch gerade hinsichtlich der öffentlichen Wahrnehmung von Religion und Religiosität begegnet ein vielschichtiges Bild. Denn »[f]reilich weckt dieses Sichtbarwerden von religiöser Differenz im öffentlichen Raum in der Mehrheitsgesellschaft nicht nur die Aufmerksamkeit für Religion, sondern auch latente bis manifeste xenophobe Haltungen: Ängste und Aggressionen« (137). In jedem Fall aber haben die Migrationsbewegungen in Europa dazu beigetragen, dass die Vielfalt der christlichen Konfessionen und anderer Religionen in unserer Gesellschaft neu erfahrbar und sichtbar wurde. Das gilt nicht allein im Verhältnis von Migration und Religion, sondern auch und gerade von Religion und Integration.
Damit ist der thematische Übergang zum zweiten Band erreicht, denn auch und gerade hier bildet die Frage nach der Wahrnehmung und dem Umgang mit Diversität einen zentralen Focus. So widmet sich der erste Beitrag »Diversität und Convivenz: Miteinander Le­bensräume gestalten – Miteinander Lernprozesse in Gang setzen« (Bd. 2, 21 ff.) der Entfaltung dieses auf Theo Sundermeier zurückgreifenden Modells der Convivenz. Kirche wird als »Lerngemeinschaft« wiederentdeckt und die konvivialen Dimensionen des Lebens, Lernens und Feierns für die Gegenwart konkretisiert. Der Beitrag »Di­ versität und Convivenz: Zusammenleben in Verschiedenheit. Ein praktisch-theologischer Beitrag zum Narrativ der europäischen Mi­grationsgesellschaft« (63 ff.) wiederum vertieft die Frage nach der Diversität und befragt aus historischer und bibeltheologischer Sicht die christliche Tradition nach Beiträgen zu einem differenzsensiblen Narrativ für die europäischen Migrationsgesellschaften. Religiöse Diversität stellt aber auch die Kirche selbst vor neue Fragen. Der Beitrag »Religiöse Diversität als Herausforderung für die Katholische Kirche« (83 ff.) nähert sich dann der Frage nach der Wirklichkeit von Diversität. Schließlich wird im Beitrag »Migration und Katholizität« (111 ff.) aufgezeigt, wie im Horizont der internationalen Migrationen ein neuer Glaubens-Sinn erschlossen werden kann und neue Wahrnehmungs- und Denkperspektiven für konkretes Handeln in aktuellen Lernfeldern zur Verfügung gestellt werden – für die Fragen nach Identität, die Wahrnehmung »des« Fremden, im Engagement für Gerechtigkeit sowie für das Zusammenleben in Verschiedenheit.
Alles in allem liegt eine gute wie umfassende Orientierung zum komplexen Thema »Migration Flucht und Religion« vor, was die beiden Bände nicht nur zur Lektüre empfiehlt, sondern auch zur eigenen Weiterarbeit anregt und ermutigt.