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Ausgabe:

März/2018

Spalte:

269–271

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Herfarth, Margit

Titel/Untertitel:

»Diakon wurde man, weil man anders war«. Die Geschichte des Kirchlich-Diakonischen Lehrgangs in Berlin-Weißensee (1952–1991).

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2017. 376 S. m. 12 Abb. = Diakonat – Kirche – Diakonie, 3. Kart. EUR 28,00. ISBN 978-3-374-05164-9.

Rezensent:

Heinz Schmidt

Eine »leise Initiative« von Diakonen aus der Brüderschaft der Stephanusstiftung, die 1993 in der Schwestern- und Brüderschaft des Evangelischen Johannesstifts in Berlin aufgegangen ist, hat diese Vorstellung der Entwicklung der Diakonenausbildung im sogenannten Zweitbruderhaus in Weißensee (1952–1991) angeregt, die Margit Herfarth, Dozentin am Wichern-Kolleg des Johannesstifts, kürzlich publiziert hat. Voraus ging eine KDL-Geschichtswerkstatt, die u. a. zahlreiche Interviews mit ehemaligen KDL-Schülern durchgeführt und damit einen intensiven Austausch zwischen den Generationen ermöglicht hat.
Signifikante Interviewauszüge, die das ganze Buch durchziehen, veranschaulichen die verschiedenen Phasen, Entscheidungen und Konflikte in der KDL-Entwicklung und geben darüber hinaus Einblick in die Motive und persönlichen Schicksale der Lehrgangsteilnehmer und ihrer Lehrer, die als nonkonforme Gruppe in der DDR immer einer kritischen Aufmerksamkeit von Partei und Staat sicher sein konnten. Die Interviews, die zu einem kleineren Teil auch in schriftlicher Form in den Jahren 2013–2017 geführt wurden, wurden von der Vfn. mit den Ergebnissen einer gründlichen Analyse von schriftlichen Quellen (Chroniken, Akten, Briefen, Schülerzeitungen, Berichten, Protokollen u. a.) zu einer aspektreichen und lebendigen Darstellung des pluralen Andersseins im kirchlich-diakonischen In­nenraum der KDL samt seiner Außenbeziehungen verbunden, die insgesamt kohärent und informativ und streckenweise sogar spannend geschrieben ist.
Die erste Phase des KDL, die mit der Gründung als Ableger des Johannesstifts 1952 zur Sicherung einer Diakonenausbildung in den Ostgebieten begann und mit dem Mauerbau 1961 endete, ist sachgerecht mit »von Improvisationstalenten und Notlösungen« betitelt. Hier sind die Struktur und die Inhalte der Ausbildung sowie das gemeinsame Leben im Haus mit seinen Regeln und Festen beschrieben. An den Konflikten und Repressionen der 50er Jahre zeigt sich das prekäre Verhältnis der jungen Institution zum DDR-Staat, der auch den regen Austausch zwischen Johannesstift und Weißensee misstrauisch betrachtete. Die konfliktträchtige Existenz des »Arbeiter-D iakons in schwarze Pumpe« Gerhard Seiler, die in der Zeit des Ungarn-Aufstands tragisch endete, beleuchtet die risikobehaftete Position der Diakone und zeigt, wie eine geschichtliche Situation durch Personalisierung anschaulich und spannend dargestellt werden kann (80–88).
Genötigt durch den Mauerbau entwickelte sich der KDL »vom Provisorium zur profilierten Eigenständigkeit« (Kapitel 3). Aus der regelmäßigen Lehre von Dozenten aus Westberlin wurden gelegentliche Gastauftritte. Das Hin und Her der Studierenden war unterbunden. Besuche von Diakonenanwärtern aus dem Westen ermöglichten noch einen gelegentlichen Ideenaustausch und Büchertransfer. Dabei fielen schon sehr bald deutliche Unterschiede im Auftreten und den Mentalitäten von West- und Ost-Studierenden auf. Dennoch gelang es, die »besondere Gemeinschaft« zwischen den evangelischen Kirchen der DDR und West-Berlins durch Begegnungen aufrechtzuerhalten.
1968 wurde der KDL als eigenständige Ausbildungsstätte anerkannt und von verschiedenen Ostkirchen auch finanziert. Ergreifend sind die Berichte von Studierenden über ihre Versuche, mit dem monatlichen Taschengeld von 24,90 Mark (bei freier Kost und Logis) über die Runden zu kommen bzw. dieses aufzubessern. Das Buch schildert unter dem Titel »Umbrüche und Übergänge« die Veränderungen in der Leitung des Hauses, den Ausbau der Strukturen des KDL, Konflikte um bestehende Verhaltensregeln und die Gestaltung des gemeinschaftlichen Lebens sowie Erwartungen der Brüderschaften und die Ansprüche des Stephanusstifts. Anfang der 70er Jahre entzündete sich die Kritik an den Arbeitseinsätzen der Studierenden in den Einrichtungen der Stiftung, die unter dem Etikett »Praxis-Lernen« teilweise auf Kosten des Unterrichts dazu dienten, die Schwierigkeiten der Mangelwirtschaft in der DDR auszugleichen. Es kam sogar zum Streik und zum Ausschluss einiger Schüler, mit denen sich dann die anderen solidarisierten. Die Konflikte brachten zutage, dass sich – etwas zeitverzögert – bei den jungen Menschen im Osten antihierarchische Einstellungen durchgesetzt hatten. Außerdem brachte eine zunehmende Zahl von Diakonenaspiranten Erfahrungen aus der »Offenen Arbeit« der Kirchen mit, die angesichts des herrschenden SED-Erziehungsmodells »zur sozialistischen Persönlichkeit« wegen ihrer nicht-autoritären Formen zunehmend Jugendliche anzog. Der veränderten Zusammensetzung der Studierenden kam auch eine grundlegende Umstrukturierung der Ausbildung entgegen, die zwischen Grundausbildung und Spezialausbildung unterschied und beides mit entsprechenden Praxiserfahrungen verband. Infolgedessen wurden seit den 1970er Jahren in den verschiedenen Bruderhäusern unterschiedliche Spezialausbildungen angeboten (z. B. in Neinstedt Heilerziehungspflege, in Lüssow Altenarbeit usw.), zwischen denen die Studierenden wählen konnten. In Berlin-Weißensee einigte man sich auf eine »Spezialausbildung […] für Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, insbesondere mit behinderten im körperlichen, geistigen und sozialen Bereich und deren Eltern« und berücksichtigte damit auch die Ansprüche der Stephanusstiftung. Der Weg zur sogenannten Doppelqualifikation, die heute Standard ist, war damit geöffnet.
Mit einer informativen Schilderung der Lehrsituation und Lernerfahrungen beginnt das Kapitel, das die Veränderungen und die Konfrontationen der Jahre 1975 bis 1989 schildert. Trotz einer chronischen Knappheit und Überbelastung des Lehrpersonals konnten Studierende von zutiefst prägenden und ermutigenden Lernerfahrungen berichten. Belastend und ermüdend waren hingegen die Konflikte um die Zulassung von Liebesbeziehungen und von Frauen zur Ausbildung. Ursprünglich erwartete man von den angehenden Diakonen eine zölibatäre Lebensführung. Gegen Ende der 1960er Jahre gab es dann Bräuteseminare, und die zukünftigen Ehefrauen waren dem Hausvater vorzustellen. Bis Mitte der 1980er Jahre waren sexuelle Beziehungen tabuisiert. Freundinnen zu Besuch mussten pro forma im Gästezimmer übernachten. Bis 1986 zogen sich die Auseinandersetzungen über die Zulassung von Frauen zur Ausbildung hin. Den nachhaltigsten Widerstand gegen die Koedukation leistete die Brüderschaft, d. h. die Vereinigung der bereits eingesegneten Diakone, die ein männliches geistliches Leben bewahren wollte. Trotz dieser hartnäckigen Beziehungskonflikte fühlten sich die meisten Studierenden des KDL wie in einem kleinen freien Land »mitten in einem Land, wo gar nichts ging« (Kapitel IV.3) angesichts der Zwänge des DDR-Sozialismus und der Überwachung durch die Staatssicherheit – ein Verdienst der Leitung und Dozentenschaft des Seminars und der Kirchenleitung, wie die Vfn. darlegt. Es gelingt weitgehend, Begegnungsmöglichkeiten für die Friedensgruppen zu gewährleisten und die Wehrdienstverweigerer zu unterstützen. Dass die meisten Diakonenschüler sich in der Friedlichen Revolution engagierten und deshalb dem Unterricht fernblieben, spricht nicht gegen den KDL.
Nach 1989 wird der KDL recht schnell aufgelöst. Der Abschied aus der Stephanusstiftung wird 1991 mit einem denkwürdigen Gottesdienst gefeiert, der Trauer, Dank und Neuanfang in Gottes Hände legte. Was bleibt, fragt die Vfn. abschließend und verweist auf die im KDL ausgebildeten Diakone, die sich bis heute für Menschen einsetzen, die am Rande stehen. Dass sich viele nach der Wende in der Kommunalpolitik erfolgreich engagiert haben, sei kein Zufall. Denn die Ausbildung habe sie auch in den Regeln und Prozessen der Demokratie geschult durch die dort praktizierte gemeinschaftsbezogene Verantwortung und den Einsatz für Veränderungen. Es ist der Vfn. zu danken, dass sie die facettenreiche Geschichte dieser diakonischen Ausbildung und Existenz mit ihren hilfreichen und problematischen Elementen aus den mündlichen und schriftlichen Quellen verlässlich erarbeitet und so anschaulich dargestellt hat, dass sie auch in Zukunft erinnert werden kann. Im Anhang des Buchs informiert ein kurzer Artikel über das Seminar für Psychiatriediakonie der Samariteranstalten in Fürstenwalde. Außerdem finden sich hier noch eine Zeittafel sowie differenzierte Quellen und ein Literaturverzeichnis, in dem auch die Zeitzeugen genannt sind.