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Ausgabe:

März/2018

Spalte:

267–269

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Bedford-Strohm, Heinrich, u. Volker Jung [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Vernetzte Vielfalt. Kirche angesichts von Individualisierung und Säkularisierung. Die fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2015. 543 S. m. CD-ROM. Kart. EUR 29,99. ISBN 978-3-579-07437-5.

Rezensent:

Christina Aus der Au

Dieser Auswertungsband zeigt schon im Titel, in welche Richtung die Ergebnisse der Kirchenmitgliedschaftsstudie von 2012 aufgenommen werden. Verkündete jene »Engagement und Indifferenz« als zentrales Ergebnis der Polarisierung der Menschen im Blick auf ihre Kirchenverbundenheit, sucht dieser Band nun mit dem Titel »Vernetzte Vielfalt« zusammenzuhalten, was doch in einer Volkskirche zusammengehören sollte – auch wenn auf der Titelgrafik ausgerechnet die beiden Punkte in der Mitte traurig und unvernetzt in­mitten kreuz und quer verbundener Punkte stehen.
Die Vernetzung besteht in der religiös-kommunikativen Praxis, wie die Kirchenmitgliedschaft verstanden wird, geprägt von »Zugehörigkeit und Distanz, von parochialer Persistenz und punktuell-selektiver Teilnahme« (31). Um diese Dynamik zusammenzuhalten »ist und bleibt [es] die Aufgabe der kirchlichen Organisation, dieses plurale, in sich vielfältige Nebeneinander zu verbinden und immer wieder neu zu vernetzen« (ebd.), will sagen, den Kommunizierenden Orte und Gelegenheiten anzubieten, dies auch im kirchlichen Rahmen zu tun.
Vielfalt ist der Schlüsselbegriff dieser Studie. Auch in den Beiträgen spiegelt sich eine positionelle Vielfalt, die sich auf unterschiedliche religionssoziologische Voraussetzungen zurückführen lässt. Ist die Säkularisierung der Gesellschaft als Rückgang von Kirchlichkeit und Religiosität zu verstehen, oder hat sich das Christentum in eine eigenständig verantwortete Religiosität transformiert? Letzteres hätte den Vorteil, dass man damit wieder »eine religiöse Renaissance jenseits der Kirchenmauern« (44) entdecken und damit den Verlust der Kirchen verschmerzen bzw. verschleiern könnte. Der Systematiker Martin Laube legt mit der Metapher des Spiels einen dritten Zugang zugrunde: Kirche und Religion fallen nicht zusammen, aber ohne Kirche keine Religion (48 f.). Es ist als Drittes die soziale, kommunikative Praxis, die die abstrakten Spielregeln und den individuellen Spieler zusammenbringt, denn Spieler sind nur so lange Spieler, »wie sie zusammen mit den anderen auch tatsächlich spielen« (49). Damit ist nicht nur der Religion als kommunikativer Praxis ihre theoretische Grundlage gegeben, sondern auch der Fokus auf den Ort gelegt, wo diese kommunikative Praxis realisiert wird: die Kirchgemeinde. Es ist dann auch keine Überraschung, dass die Ortsgemeinde immer noch eine wichtige Rolle spielt. Online wird dies denn auch gleich als »das wichtigste Ergebnis der 5. Kirchenmitgliedschaftsstudie« gefeiert: »Die Zeit des ›Ortsgemeinde-Bashing‹ in der kirchlichen political correctness sollte also endlich vorbei sein.« Allerdings ist diese Ortsgemeinde sehr unterschiedlich anschlussfähig. Die meisten Mitglieder interessieren sich nicht für deren Gemeinschaft, sondern ihr Kontakt geschieht über familiäre oder lebensweltliche Anknüpfungspunkte. Dazu gehört nicht der Gottesdienst: Gut die Hälfte der be­fragten Mitglieder finden ihn »eher« oder »gar nicht wichtig«, fast zwei Drittel der unter 29-Jährigen gehen weniger als einmal im Jahr hin. Dennoch sprechen die Autoren von »einem hohen symbolischen Stellenwert des GD« (111), da sich in der gefühlten Teilhabe – die immer noch höher ist als die tatsächlichen Zahlen – das Verhältnis zur Kirche im Ganzen symbolisiere.
Das Verdikt von Tabea Spieß und Gerhard Wegner fasst die Am-bivalenz zusammen: »Ohne Gemeinden wird Evangelische Kirche nicht sein können, aber ob das überkommene System der Ortsgemeinden wirklich zukunftsträchtig ist, muss sich noch zeigen.« (58) Kristian Fechtner zieht in seinem Kommentar den Schluss, dass es darauf ankommt, in möglichst anschlussfähiger Reichweite zu bleiben, während Isolde Karle der Ansicht ist, »dass die neue Kirchenmitgliedschaftstudie die Kirche weithin in dem bestätigt, was sie ohnehin schon tut« (172).
Dem entgegen steht allerdings der Befund der Religionssoziologen von einem dramatischen Abbruch der religiösen Sozialisation. »Je jünger, desto weniger Religiosität« (157), und auch die selbstverständliche Kirchenverbundenheit bröckelt schon bei den »jungen Alten« unter Siebzig. Relevanz wird zur Schlüsselkategorie, aber die Kirche ist nicht als eigene Sozialform relevant, sondern nur dann, wenn sie lebensgeschichtliche Vollzüge begleitet. Sie ist dabei allerdings vorwiegend auf traditionelle Familienkonstellationen ausgerichtet, und so kritisiert Michael Domsgen, dass Kirchlichkeit »deutlich mit habituellen Ausschließungen einherzugehen scheint« (173). Thomas Schlag bemängelt dagegen, dass nirgends etwas über den Prägefaktor des Religions- und des Konfirmandenunterrichtes ge­sagt wird und dass die Begriffe »Religion« und »religiöse Erziehung« nirgends genauer gefasst werden.
Generell erstaunt das gleichbleibend hohe Maß der Kirchenverbundenheit. Die Mitglieder verstehen ihre Kirchenbindung, so Ge­rald Kretschmar, nicht als Teilnahme am Gottesdienst oder an ge­meindlichen Veranstaltungen, sondern unter den Bedingungen mediatisierter Kommunikation im Modus der Distanz. Nur wenn sie über das Maß an Nähe und Verbindlichkeit frei entscheiden, können sie bei »Themenpassung« (216) punktuell auf Nähe um­schalten. Auch Schulz, Spieß und Hauschildt deuten die Diskrepanz zwischen niedriger Teilnahme und hoher Verbundenheit als Nebeneinander unterschiedlicher konträrer Eigenlogiken: wachsende religiöse Indifferenz bei Traditionsfernen und Kinderlosen, punktuelle Themenpassung bei Bildungsaffinen und volkskirchliche Beteiligungspraxis bei Familien (235).
Radikal anders argumentiert Wolfgang Huber, nämlich nicht em­pirisch, sondern er vertraut der »anthropologisch begründete[n] Transzendenzoffenheit der menschlichen Existenz« (267), auch bei Konfessionslosen. Und so sieht er Gott vor allem in den religiösen und spirituellen Erfahrungen außerhalb kirchlicher Praxis und Semantik am Werk, während er den Kirchen »vorwiegend eine dienende Funktion« (276) zukommen lassen will.
Gert Pickel argumentiert für das Sozialkapital der Kirchen. Es sei häufig »nicht das religiöse Element, welches ein Engagement im Umfeld der Kirche motiviert«, sondern Zugehörigkeit, Zusammengehörigkeit und Identität (300). Aber von den (selbst-)säkularisierten Rändern her resultierten »nicht zu unterschätzende Nutzenaspekte für die evangelische Kirche«, die jedenfalls »mit den hochdifferen-zierten spätmodernen Zivilgesellschaften und ihren Anforderungen an selbstbewusste Akteure hochkompatibel« sind (300 f.). Auch Birgit Weyel zeigt auf, dass nicht Kirche, wohl aber Religion (»communal values«, 313) positiv mit Lebenszufriedenheit korreliert. Der Syste-matiker Ulrich H. J. Körtner hingegen sieht die Kirche als Werte-vermittlerin sehr viel kritischer und verweist auf die Tyrannei der sogenannten »christlichen Werte« und die Ambivalenz eines Chris­tentums mit Überlegenheitsanspruch. Nötiger wäre für ihn die theologische Reflexion einer Kirche in einer Minderheitensituation, was auch dem Wesen des christlichen Glaubens entspräche.
Im Schlusskapitel zur Methodik wird nochmals der Fokus auf religiöse Kommunikation als Voraussetzung für die Kommunikation des Evangeliums (339) gelegt. David Plüss erinnert an Schleiermachers »Circulation des religiösen Bewusstseins« (438) von religiös eigenständigen Akteuren und betont den »hohe[n] Stellenwert des Gottesdienstes«, was allerdings »nur von wenigen durch regelmäßige Teilnahme zum Ausdruck gebracht wird« (445).
In den »Perspektiven für die kirchenleitende Praxis« wird schließlich ausgeführt, wie Kirche verwirklicht werden soll: als eine pluralismusfähige Großkirche, welche die geistliche Dimension ihres Grundauftrages profiliert vorträgt, als eine zivilgesellschaftliche Instanz in einem Mit- und Nebeneinander von parochialen und nichtparochialen Orten, und dies mit der Strahlkraft von Hochverbundenen, auf die die kaum Verbundenen vertrauen sollen (456).
Ein gewisses Unbehagen bei der Rezensentin bleibt allerdings. Haben wir das nicht schon längst? Der Verdacht lässt sich nicht ganz ausräumen, dass hier Kirche lediglich »in Nuancen veränderter ›In­stitutionalisierung‹« (160) im Blick bleibt. Andeutungsweise spricht Domsgen von der Notwendigkeit eines »Konversionsparadigmas«, das dem Sozialisationsparadigma zur Seite gestellt werden soll (174). Die theologische Auseinandersetzung mit »missionaler Kirche«, wie sie z. B. in freikirchlicher Frömmigkeit oder den »fresh expressions« geführt wird, bleibt ausgespart.