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Ausgabe:

März/2018

Spalte:

265–266

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Becker, Reinhold

Titel/Untertitel:

Beruf Pfarrperson. Eine Untersuchung zu Berufsbild und Ausbildung.

Verlag:

Göttingen: V & R unipress 2016. 559 S. m. 29 Abb. = Arbeiten zur Religionspädagogik, 62. Geb. EUR 75,00. ISBN 978-3-8471-0511-4.

Rezensent:

Volker A. Lehnert

Mit dieser Arbeit legt Reinhold Becker, ein seit über fünfunddreißig Jahren in der Schweiz tätiger Gemeindepfarrer, einen wissenschaftlichen Beitrag zur Pfarrbilddiskussion vor. Sie wurde 2015 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien als Dissertation angenommen.
Die Arbeit setzt nach einigen einführenden Überlegungen ein mit einem biographischen Zugang. B. beschreibt seine Erfahrungen als Pfarrer in zwei Schweizer Dorfgemeinden und konstatiert die bleibende Rolle der Pfarrperson als Repräsentant der Kirche in einer pries-terlichen Funktion, der eine Verschiebung der Leitungsaufgaben zu den Leitungsorganen korrespondiert, wodurch die Pfarrperson eher »Angestellte eines Betriebes« wird. Durch die Segmentierung des Pfarrberufes und den öffentlichen Relevanzverlust der Kirche werde das Amt zunehmend durch die Person getragen: »Das erhöht den Druck auf die Person – eine paradoxe Folge der Professionalisierung, die zunächst eine Entlastung der Person versprach« (45).
Es folgen Wahrnehmungen religiöser Lebenswelten in der Großstadt am Beispiel von Wien mit den wenig überraschenden Ergebnissen von Wandel, Pluralisierung, Differenzierung etc. und der Schlussfolgerung, dass die »Aufgaben des Pfarrberufs neu zu bestimmen« seien (91).
Kapitel 3 handelt vom Leben in der Entwickelten Moderne. Skizziert werden die Konzepte von N. Luhmann (Differenzierung und Reduktion von Komplexität), U. Beck (Risikogesellschaft und Individualisierung), P. Gross (Optionierung) und G. Schulze (Erlebnisorientierung). Auch hier sind die Ergebnisse wenig überraschend. Individualisierung und De-Institutionalisierung sind bekannt, ebenfalls das selbstbestimmte »Konstruieren des je eigenen Glaubens« (134) und der Verlust der Deutungskraft einer »monotheistisch verstandenen göttlichen Offenbarung« und der Leitvorstellungen »Sündenvergebung und Auferstehung« (135).
Kapitel 4 reflektiert Kirchliche Handlungsperspektiven für die Entwickelte Moderne. Vorgestellt werden die Konzepte »Offen Evan-gelisch« (EKÖ), »Kirche der Freiheit« (EKD) und »Die Zukunft der Reformierten« (SEK). Im Ergebnis konstatiert B. als Grundlage der Kirchenkrise eine »Glaubenskrise« (226), die rückläufige Kirchenbindung, die Individualisierung und ein undeutlich gewordenes »Bild der evangelischen Kirche« (227), aber auch die entscheidende Rolle, die die Pfarrpersonen in den gegenwärtigen Veränderungen nach wie vor spielen. Sie gehören zu den »signifikanten Akteuren« (228).
Kapitel 5 befasst sich mit der Frage, wie der aktuelle Wandel zu gestalten sei. B. findet in den Reformpapieren einen Paradigmenwechsel im kirchlichen Selbstverständnis: »von der Innenorientierung zur Außenorientierung«, Kirche wird zum »Dienstleistungsunternehmen« (230), kirchliches Leitungshandeln zur Managementaufgabe, Bürokratie zur »Service-Orientierung« (234). Dabei gerät die Kirche in die »Spannung zwischen dem biblisch begründeten bleibenden Auftrag und der drängenden Notwendigkeit zur Einpassung in gewandelte Lebensverhältnisse« (242).
Kapitel 6 fragt nach dem Pfarrberuf. Diskutiert werden die Positionen von P. B. Rothen (Das Amt trägt die Person), Ch. Grethlein (Pfarrberuf als theologischer Beruf), I. Karle (Pfarrberuf als Profession) und das Pfarrbild der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck.
Die Kapitel 7, 8 und 9 reflektieren die Ausbildung zum Pfarrberuf: den Gesamtplan der EKD von 1978, die Grundsätze der EKD von 1988, die Überlegungen der EKD zur Modularisierung, das Berner Modell von 2005/6. Es folgt eine Darstellung des Berufsbildes Pfarrperson in den Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn. Inhaltlich stehen hier die Glaubensüberzeugung (»Sie stehen in einer lebendigen Be­ziehung zu Jesus Christus«, 331) und der Dienst am Wort (»Die spezifische Aufgabe der Pfarrpersonen liegt in der gemeinsamen Er­schliessung der biblischen Botschaft mit den Menschen der Gegenwart«, 332) in dialogischer und prozesshafter Weise im Vordergrund. Strukturell werden Dienstanweisungen, Stellenbeschreibungen und Mitarbeitendengespräche empfohlen. Im Anschluss beschreibt und würdigt B. das konsekutive Studium an der Uni Bern, das praktische Semester, das Lernvikariat und dessen didaktisches Konzept – bemerkenswert ist der obligatorische Weiterbildungsstudiengang zur Zertifizierung von Ausbildungspfarrern –, die Beratung und Supervision, die Portfolio-Arbeit, das Qualifikationsverfahren, die Ordination und die Weiterbildung.
Als Gesamtbefund konstatiert B. die Auflösung der »Einheit des Pfarramtes in der kirchlichen Praxis« (505), die in Spannung steht zu den Erwartungen der Mitglieder.
Ein Ausblick schließt die Untersuchung ab: Zur Disposition steht die Organisationsgestalt der Kirche: Parochie oder Region? Gefunden werden muss eine Verständigung über den »Auftrag und die Berufsrolle von Pfarrpersonen« (512). Die Privatisierung des Glaubens marginalisiert das Predigtamt. Gleichwohl ist der Grundauftrag des evangelischen Pfarrberufes theologisch zu begründen: »Der befreiende Zuspruch der göttlichen Gnade an den in seiner Sünde befangenen Menschen ist im reformatorischen Verständnis die zentrale Aufgabe der christlichen Verkündigung« (515). Theologischer Bildung kommt daher ein hoher Stellenwert zu.
B.s Untersuchung trägt in großem Fleiß sehr viel Material zur gegenwärtigen Situation von Kirche und Pfarrberuf zusammen. Die aktuelle Pfarrbilddiskussion wird in ihrer Breite leider nicht aufgenommen. Positionen von A. Grözinger, M. Herbst, A. Deeg, U. Wagner-Rau, J. Hermelink, M. Josuttis, M. Klessmann, U. Pohl-Patalong, N. Schneider/V. Lehnert oder seinem Namensvetter Dieter Becker, um nur einige zu nennen, finden bedauerlicherweise keine Beachtung. Gleichwohl leistet diese Arbeit als Materialfundgrube und Materialaufarbeitung einen hilfreichen Beitrag für die Weiterarbeit an einem Pfarrbild der Zukunft.