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Ausgabe:

März/2018

Spalte:

262–265

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Lindenlauf, Herbert

Titel/Untertitel:

Königsherrschaft Christi und politische Entscheidung. Untersuchungen zum christozentrischen An­satz der politischen Ethik.

Verlag:

Saarbrücken: Fromm Verlag (Omni-scriptum) 2016. 456 S. Kart. EUR 59,80. ISBN 978-3-8416-0635-8.

Rezensent:

Marco Hofheinz

Mit dem jüngsten Erscheinen scheint das traurige Schicksal dieser Untersuchung abgewendet zu sein. Nachdem sie fast 25 Jahre lang im Dunkel der Bibliothek des Landeskirchenamtes der Evangelischen Kirche im Rheinland lagerte, hat sie nun doch noch das Licht der Öffentlichkeit erblickt (vgl. 13). In gewisser Weise bildete das vermeintliche Schicksal dieses lange Zeit in der Versenkung verschwundenen Buches das Schicksal seines Gegenstandes ab: Nachdem die (gewiss fragwürdige) Alternative von Zweireichelehre oder Königsherrschaft Christi die politisch-ethischen Diskurse der Nachkriegszeit dominiert hatte und diese in den 1980er Jahren vorläufig kulminiert waren, verschwand diese konzeptionelle Alternativkonstellation gleichsam über Nacht mit dem Ende der Ost-West-Blockkonfrontation und ihrem Systemantagonismus. Der Mantel der Vergessenheit breitete sich aus.
Mit dem neuen, vordergründig unzeitgemäßen Erscheinen dieses Bandes versucht Herbert Lindenlauf nun keineswegs in längst erloschene Vulkane zu husten und die kontroverstheologische Konstellation vergangener Tage wiederzubeleben. Diese Option entspräche keineswegs seinem Untersuchungsergebnis. Denn L. zeigt, dass eine ausschließlich differenzhermeneutische Lesart des Paradigmas der Königsherrschaft Christi zu kurz greift, da bereits Barth das legitime Anliegen der Zweireichelehre integrierte, und zwar auf der Linie des geistlichen Charakters der Herrschaft Chris-ti, des »eschatologischen Vorbehalts« und der theologia crucis als Präventionen gegenüber theokratischen Versuchungen. L. setzt beide Konzeptionen in ein komplementäres Verhältnis: »Die zwischen Zwei-Reiche-Lehre und christozentrischem Ansatz bestehende ›Komplementarität‹ stellt sich nicht als pragmatischer Ergänzungs-, sondern als qualifizierter Wechselbezug auf verschiedenen, theologisch differenzierten Sachebenen dar; in dieser Differenzierung erscheint die Inklusion des einen Modells durch das andere nicht als einseitige, sondern als gegenseitige« (393).
Der nun vorliegende Band bildet die Fortsetzung der Wuppertaler Dissertation L.s, die 1988 unter dem Titel »Karl Barth und die Lehre von der ›Königsherrschaft Christi‹. Eine Untersuchung zum christozentrischen Ansatz der Ethik des Politischen im deutschsprachigen Protestantismus nach 1934« (Spardorf: Verlag René F. Wilfer) erschien. Die beiden Untersuchungen bilden gewissermaßen ein Diptychon. Hatte L. im ersten Band ausgehend von der zweiten und fünften These der Barmer Theologischen Erklärung Barths christozentrischen Ansatz entfaltet und dabei eine genaue Exegese von Barths politisch-ethischen Traktaten sowie den Fragment gebliebenen ethischen Passagen der Versöhnungslehre (KD IV) vorgelegt, so greift er nun gewissermaßen deren Wirkungsgeschichte auf. Andere Vertreter eines christozentrischen Ansatzes politischer Ethik treten hier in den Blick, und zwar vor allem im zweiten Teil der Untersuchung.
Zunächst jedoch skizziert L. im ersten Teil (16–92) den Forschungsstand, wie er sich zu Abschluss der Untersuchung 1992 dargestellt hatte (vgl. 16–32), und deren Aufgabe (32–38), um sich sodann den Ursprüngen des christozentrischen Ansatzes, sprich: dessen historischem Ort und der Motivlage seiner Entstehung, zu widmen (39–65). L. entfaltet noch einmal im Überblick den christozentrischen Ansatz Barths (66–92) und fasst damit die Ergebnisse seiner Dissertation bündig zusammen. So gewissenhaft L. hier wie im weiteren Verlauf der Untersuchung auch vorgeht, so fällt doch auf, dass er die theologiegeschichtlichen Voraussetzungen (39–42) recht stiefmütterlich behandelt. Hier zeigt sich ein Versäumnis, das bereits aus seiner Dissertation resultiert. Dort wurde zwar der biblisch-theologische Hintergrund (Königsprädikation im Alten Testament, christologische Herrschaftsaussagen des Neuen Testaments) skizziert, die weitere theologiegeschichtliche Entwicklung bis ins 20. Jh. hinein jedoch bis auf wenige Hinweise zum könig-lichen Amt Christi bei Calvin und in der altprotestantischen Or­thodoxie (vgl. 41; in der Dissertation: 32–36) ausgespart. Hinsicht lich der traditionsgeschichtlichen Bezüge vermisst man etwa Hinweise auf die durchaus pluriforme Zürcher Tradition bei Huldrych Zwingli, Leo Jud und Heinrich Bullinger (auf Martin Bucer, De regno Christi, 2 Bde., 1551, wird indes verwiesen; vgl. 23; 42). L.s Narrativ setzt erst mit dem Kirchenkampf und der Barmer Theologischen Erklärung ein und betrachtet diese recht isoliert.
Im zweiten Teil (94–318), dem Hauptteil der Untersuchung, treten nun in der mehr oder weniger expliziten Rezeption Barths weitere Modifikationen bzw. Transformationen des christozentrischen Ansatzes hinzu. Zunächst werden zwei reformierte Vertreter in den Blick genommen: der Neutestamentler Oscar Cullmann, der die Königsherrschaft Christi heilsgeschichtlich pointiert entfalte (94–124), und der Berner Ethiker Alfred de Quervain (125–171), der die Königsherrschaft Christi als Norm staatlicher Autorität ver-stehe und dessen Ansatz L. im Anschluss an Josep Castanyé als »politische Theologie« (125) charakterisiert, was angesichts neuerer Untersuchungen (u. a. von Werner Göllner) zu diskutieren wäre. In L.s Darstellung folgen die beiden Lutheraner Dietrich Bonhoeffer (172–218) und Ernst Wolf (219–264). Wolfs »apologetische Theologie« (vgl. 220; auch diese Charakterisierung ist m. E. zu diskutieren) verstehe die Königsherrschaft Christi als Entmetaphysizierung des Staates (vgl. 244 ff.). Nachdem diese vier Positionen etwas schematisch einander gegenübergestellt wurden, schließt L. eine flächigere Darstellung der Ansatz-Profilierung im bundesrepublikanischen Kontext der Nachkriegszeit an (265–318). Lose chronologisch geordnet kommt der christozentrische Ansatz im Blick auf die po-litische Verantwortung der Kirche (Hans Joachim Iwand, Paul Schemp, Otto Weber, Heinz-Dietrich Wendland), die Atomwaffendebatte (Ernst Wolf, die Kirchlichen Bruderschaften, Götz Harbs meier, Helmut Gollwitzer) und schließlich die säkularisierte Ge­sellschaft (Jürgen Moltmann, Jan Milič Lochman, Hermann Dembowski) zur Sprache. Damals sei der Ansatz als Ermächtigung zu politischem Handeln verstanden worden.
Im dritten und letzten Teil (320–420) erfolgt die Auswertung der Darstellung. L. versucht das theologische Profil des christozentrischen Ansatzes zu ermitteln. Hinsichtlich der Ausformungsvarianten konstatiert er zunächst eine Pluriformität (besonders 344 ff.). Sodann kommt er auf die systematische Struktur des Ansatzes als Denkmodell und Handlungskonzept zu sprechen. Die Untersuchung schließt mit einer Profilierung des Ansatzes im kontroverstheologischen Gespräch (382–408), wobei L. einerseits auf das keineswegs unvermittelbar-antagonistische Verhältnis zur Zweireichelehre und andererseits auf die politische Theologie der 1970er und 1980er Jahre zu sprechen kommt, die den christozentrischen Ansatz schließlich abgelöst habe.
Mit L.s Diptychon liegt nun erfreulicherweise nicht nur eine der wenigen gründlichen Untersuchungen der politischen Ethik Barths vor, sondern auch eine systematische Gesamtdarstellung der »Lehre von der Königsherrschaft Christi«. Allein schon aus theologiegeschichtlichem Interesse ist dies verdienstvoll. L. sei ausdrücklich für seine mutige Entscheidung gedankt, diese Untersuchung doch noch zu veröffentlichen. Wenn man heute eine solche theologiegeschichtliche Untersuchung schreiben wollte, so wären sicherlich nicht nur die theologischen Begründungszusammenhänge nachzuzeichnen, wie L. dies in souveräner Manier tut, sondern in ungleich stärkerem Maße die Entdeckungszusammen-hänge der zeitgeschichtlichen Entstehung jenes Ansatzes politik- und sozialgeschichtlich sensibilisiert zu berücksichtigen.
Indes ist L. in seiner Einschätzung zweifellos Recht zu geben: Die politische Situation hat sich in den letzten 30 Jahren geändert, und auch die theologische Diskussionslage ist eine andere geworden. Die Einschätzung, dass vom Bekenntnis zur Königsherrschaft Christi für Theologie und Kirche keine handlungsorientierende Kraft mehr auszugehen vermag (vgl. 14), könnte sich schlicht als ebenso vorurteilsbehaftet wie verfrüht erweisen. L. hat mit seiner theologiegeschichtlichen Untersuchung jedenfalls einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass sich die theologische Ethik im Blick auf ihre Reflexion der gegenwärtigen Herausforderungen von den Vertretern eines christozentrischen Ansatzes neu inspirieren lassen kann. Denn es ging ihnen – wie L. treffend hervorhebt – keineswegs um eine christologische Staatstheorie, sondern vor allem den jetzt dringlichen wie bleibend wichtigen (ideologie)kritischen Einspruch unter eschatologischem Vorbehalt. Der dargestellte Ansatz ist aus dem Bemühen erwachsen, »der Versuchung [zu] widerstehen, die Wahrheit der Herrschaft Christi von ihrer Ausweisbarkeit in der Wirklichkeit abhängig zu machen und so als Verwirklichungsziel menschlichen Handelns zu bestimmen« (418). Diese zentrale Einsicht dürfte stets zeitgemäß sein – unabhängig vom Schicksal von Büchern wie dem vorliegenden, das insofern nur vordergründig zur falschen Zeit erscheint.