Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/2018

Spalte:

261–262

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Gebhardt, Elisabeth

Titel/Untertitel:

Riskante Freiheit(en)? Das Individuum in Karl Barths Ethik. Eine Relektüre anhand Ulrich Becks Individualisierungstheorem.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2016. 228 S. = Christentum und Kultur, 16. Kart. EUR 42,90. ISBN 978-3-290-17864-2.

Rezensent:

Marco Hofheinz

In ihrer Göttinger Dissertation entwickelt Elisabeth Gebhardt an­hand einer Relektüre der Ethik der Gotteslehre (KD II/2) und der Schöpfungslehre (KD III/4) innerhalb von Karl Barths »Kirchlicher Dogmatik« die These, dass Barth wider Willen zum Vorreiter der Individualisierung und Verteidiger des Rechts auf individuelle Subjektivität wurde. Im Lichte des Individualisierungstheorems Ulrich Becks betrachtet, stärke Barth nolens volens das Individuum. Er avanciere damit zum Avantgardisten jener Individualisierungstendenz der Nachkriegszeit, die entgegen sozialethischen Vereinnahmungen der Ethik (»Ethik überhaupt ist Sozialethik«) die Bedeutung des individuellen Handlungssubjektes starkmache. Während in der Vergangenheit vielfach das institutionstheoretische und organisationssoziologische Defizit der Ethik Barths kritisiert wurde (u. a. W.-D. Marsch, E. Lessing, K.-W. Dahm, M. Beintker), macht G. gleichsam aus der Not eine Tugend und sieht in der Betonung des einzelnen Handelnden und der Einräumung größerer Entscheidungsfreiräume für ihn das unabgegoltene Potential der Ethik Barths.
Um diese These zu entwickeln, entfaltet G. nach einer Einleitung (9–22) in Teil I (23–43) die Referenztheorie ihrer Untersuchung, sprich: das in den 1980er Jahren vom jüngst verstorbenen Soziologen Ulrich Beck in seiner Theorie reflexiver Modernisierung dargelegte Individualisierungstheorem – und zwar in seinen drei Dimensionen: Freisetzung des Individuums als die Herauslösung aus Klasse, Stand und Familie (33–35), Verunsicherung und Risikosteigerung durch den Verlust traditionaler Normen (35–40) und Reintegration durch neue Kontrollmechanismen im Zuge der Einbindung in gesellschaftliche Sicherungssysteme (41–43). Zu den Merkmalen des Individualisierungsschubes seit den 1960er Jahren gehört dementsprechend, dass die Normalbiographie zur Wahlbiographie werde und diese sich wiederum als Risikobiographie bzw. institutionenunabhängige Biographie darstelle.
Von Becks Individualisierungstheorem als leitender Interpretationsperspektive ausgehend, widmet sich G. im Teil II (45–158), dem Hauptteil ihrer Untersuchung, einer Relektüre der Ethik Barths. Die drei Dimensionen der Individualisierung aus der Referenztheorie entdeckt sie dort als implizit angelegt, aber noch nicht explizit gemacht, wieder. Es werde so erkennbar, welche Probleme durch bestimmte Inhalte der Barthschen Ethik gelöst werden könnten (vgl. 13). Diese Inhalte nimmt G. mit Barths Freiheits- (46–69) und Gebotsverständnis (69–131) sowie seiner Verhältnisbestimmung von Individuum und Gemeinschaft (132–158) in den Blick und kann sie analog zu den drei Dimensionen des Individualisierungstheorems als a) Erwählungsbiographie und insofern als Freiheitsbiographie, b) tätige Freiheitsbiographie und c) Gemeindebiographie bestimmen, die aber keine institutionenabhängige Biographie sei.
Die Ethik der Versöhnungslehre (KD IV/4), die Fragment geblieben ist, klammert G. ebenso wie die pneumatologischen Passagen der Versöhnungslehre (KD IV/1–3) leider aus, obwohl diese in Gestalt der Sammlung (KD IV/1), Erbauung (KD IV/2) und Sendung der Gemeinde (KD IV/3), also in allen ihren Teilen (anders G., 134), immer auch der Verhältnisbestimmung von Gemeinde und Einzelnem gewidmet sind. Unberücksichtigt geblieben ist, was die Quellenlage betrifft, leider auch Barths so wichtige Schrift »Politische Entscheidung in der Einheit des Glaubens« (1952), die in nuce so etwas wie einen Vorläufer von H. E. Tödts bekanntem Schema ethischer Urteilsbildung darstellt. Stattdessen geht G. im weiteren Gang der Untersuchung nach kurzen Übergangsüberlegungen (159 f.) zu Barth als komplexem Problemanalytiker und zu den bleibenden Spannungen seines Ethikkonzepts im Teil III (161–206) zielstrebig zur Figur des »Grenzfalls« und zur Stellung des Individuums in den materialethischen Passagen von KD III/4 über. Ein kurzer Rückblick und Ausblick im Teil IV (207–218) schließt nach nur 218 Seiten die für eine Dissertation recht kurze Untersuchung mit einer Präsentation der Ergebnisse der Relektüre und einem Ausblick auf Potentiale und mögliche Gesprächspartner für den weiteren Diskurs bündig ab.
Man wird der Untersuchung wohl nicht mit jener wohlfeilen Kritik gerecht, wonach G. Barth gegen den Strich seiner eigenen Intention bürstet und seine kritischen Pointen etwa gegen die Vereinsamung des Individuums in der Moderne etc. verkennt. Genau dies tut G. nämlich nicht, sondern macht ihre »Einseitigkeit« in fairer Weise transparent. Fernerhin wird man auch konzedieren müssen, dass die Dialektik Karl Barths zweifellos die Entdeckung jener individualitätsbezogenen Momente hergibt, die G. zu Recht identifiziert hat. Allerdings gilt dies, da Barth nun einmal Dialektiker ist und nicht zuletzt die Dialektik das Faszinosum seines so bewegten Denkens ausmacht, eben auch für jene anderen, etwa (kirchlich-)kommunitaristischen Lesarten (Charles Taylor spricht be­kanntlich vom »atomistischen Individuum«), wie sie etwa Reinhard Hütter und im angelsächsischen Diskurskontext viele andere vorgelegt haben (vgl. 155. 200.215 ff.). G. beachtet völlig zutreffend, dass sich das Zentrum der aktiven Barth-Forschung und -Rhezeption, insbesondere was Barths Ethik betrifft, längst in den englischsprachigen Raum verlagert hat (9). Umso überraschter ist man allerdings, dass G. diese abgesehen von gelegentlichen Verweisen auf die Untersuchungen Paul T. Nimmos (vgl. 18.90.162.182) und Nigel Biggars (18 f.90.144.162.174.180.182) nicht berücksichtigt. Einschlägige Untersuchungen wie etwa die von Gerald McKenny »The Analogy of Grace« (2010) oder die wichtigen, von Daniel L. Migliore unter dem Titel »Commanding Grace« herausgegebenen »Studies in Karl Barth’s Ethics« (2010) werden ebenso wenig berücksichtigt wie etwa die vielen, nun in dem Band »Karl Barth and Christian Ethics: Living in Truth« (2014) gebündelten Studien von William Werpehowski speziell zur Gebotsethik.
Auch in dieser Hinsicht fällt G.s Studie einseitig aus. Diese Be­merkung möchte indes nicht despektierlich verstanden werden, zumal diese Einsichtigkeit im Sinne einer dezidiert transparenten Einseitigkeit ja durchaus ihre Berechtigung hat, weist sie doch darauf hin, dass die ethische Reflexion sozialen und politischen Handelns nicht das individuelle Handlungssubjekt ausklammern sollte, auch wenn dieses nicht ohne seine Prägung durch das politische, soziale und gewiss auch kirchliche Umfeld zu verstehen ist. Diese dezidiert transparente Einsichtigkeit macht den Charme dieser be­grenzten, wenngleich zupackenden und in der Lektüre ausgesprochen kurzweiligen, ja bisweilen spannenden Untersuchung aus.