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Ausgabe:

März/2018

Spalte:

257–259

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Bonacker, Marco

Titel/Untertitel:

Zwischen Genese und Geltung. Religiöse Identität bei John Rawls als Paradigma einer theologischen Ethik.

Verlag:

Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh 2016. 309 S. = Paderborner Theologische Studien, 56. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-506-78287-8.

Rezensent:

Michael Kühnlein

Bereits der schwerfällige Untertitel der Studie macht die systematische Schwierigkeit des Unterfangens deutlich: Wie lässt sich eine kontingent entstandene Identität überhaupt als Vorbild, als »Paradigma«, für eine wie auch immer aufgestellte Ethik empfehlen, ohne in die Fallstricke eines naturalistischen Fehlschlusses zu geraten? Sein impliziert eben kein Sollen, auch wenn es »paradigmatisch« gemeint sein soll. Und dass als exemplarisches Beispiel für eine solche Hermeneutik » zwischen Genese und Geltung« [Hervorhebung M. K.] ausgerechnet das studentische Frühwerk von John Rawls (Über Sünde, Glaube und Religion, dt. 2010) herangezogen wird, dem späteren Vordenker des politischen Liberalismus des 20. Jh.s und strikten Geltungstheoretiker par excellence, macht die interpretative Ausgangslage von Marco Bonackers Studie gewiss nicht übersichtlicher; doch zweifellos enthält das Ansinnen von B. auch eine interessante ideengenealogische Volte, insofern religiöse Identität und politischer Liberalismus vor dem Hintergrund des frühen theologischen Denkens Rawls’ auf mögliche Übersetzungsachsen hin überprüft werden sollen.
Das systematisch vordringliche Ziel der Studie ist es daher, das oppositionelle Begriffspaar von Genese und Geltung so ineinander zu »übersetzen« bzw. zu »synchronisieren«, dass Gemeinsamkeiten zwischen Normen und Werten erkennbar bleiben. Dieses große »Sowohl-als-Auch« zwischen Genese und Geltung soll dabei die säkularen Ambitionen der politischen Gerechtigkeit mit der Wertarbeit der Moraltheologie hermeneutisch so verknüpfen, dass Identität und Differenz gleichursprünglich bedacht werden können: Denn »auch dort, wo die Genese von absoluten moralischen Werten essentiell unterscheidet, kann es eine gemeinsame Geltung eben jener, für die Moraltheologie von der Vernunft und der Offenbarung ausgehenden Werte geben« (19). B. will also die be­griffliche Trennung zwischen dem Gerechten und dem Guten aufheben, ohne deren intrinsisches Spannungsverhältnis zu leugnen. Er wendet sich damit gleichermaßen sowohl gegen einseitige säkularistische Verstehensvarianten des Gerechten als auch gegen politisch-theologische Indienstnahmen des Guten; vielmehr ergeben Genese und Geltung nur zusammen Sinn – und dieser Sinn wird von B. im Übersetzungsbegriff aufgenommen und reflektiert (21 f.). Zugleich arbeitet B. damit auch die religionsphilosophische Pointe seines Buches heraus: Denn diese Hermeneutik des Sinns lässt sich vom »Paradigma einer theologischen Ethik« her evaluieren: Letzten Endes geht es B. nämlich um die Frage, »ob Gott als denkerische Prämisse nur für die Genese moralischer Normen oder aber auch für ihre Geltung weiterhin notwendige Voraussetzung ist« (38).
Eine Antwort auf diese Frage gibt B. in drei Etappen. Im ersten Kapitel (»Das säkulare Zeitalter als Herausforderung für die theologische Ethik«, 39–92) zeichnet er die historischen Voraussetzungen des säkularen Geltungsdiskurses nach. Das Natur- und Völkerrechtsdenken von Hugo Grotius sieht er dabei als Wendepunkt einer säkularen Emanzipationsentwicklung an, die ihre theonomen Ordnungscodes höchst folgenreich auf immanente Geltungsgrundlagen des Rechts übertragen hat. Mit Grotius verlasse die Metaphysik also endgültig »den Raum des Rechts« (90). Exemplarisch ist diese Universalisierungsleistung nach B. aber erst deshalb zu nennen, weil ihre Genese bei Grotius noch in Gott selbst zu finden sei. Grotius’ Denken wird damit zur authentischen Vermittlungsfigur einer Genese in Geltung übersetzenden Naturrechtslehre:
»Der Delftler argumentierte aus dem Glauben heraus, löste seine Argumentation jedoch aus dem direkten theonomen Zusammenhang: Es ist dieses Vorgehen, das auch für die Gegenwart seine praktische Relevanz bewahrt hat. […] nicht eine Entfremdung von der Genese, sondern eine Rechtfertigung der Genese durch die Geltung.« (92)
Im zweiten Kapitel (»John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit und säkulare Geltung«, 93–172) wird zunächst Rawls’ Philosophie des politischen Liberalismus durchbuchstabiert; interessant sind da­bei nicht so sehr die gewonnenen Erkenntnisse, sondern der systematische Umgang mit ihnen: Denn für B. ist Rawls ein unvollständiger Wiedergänger von Grotius: Für beide ist die Orientierung an rechtlicher Geltung zentral; doch während Grotius eine theonome Letztbegründung immer noch verteidigt, strebt Rawls einen archimedischen Vertragspunkt an, der sub specie aeternitatis und doch zugleich rein immanent eine absolute Geltung von Normen und Grundsätzen verspricht, die in ihrer Autonomie und Vernunft einzig und allein der säkularen Natur des Menschen verpflichtet bleibt. Die theonom-grotianische Genese einer säkularen Ordnung (89–92) wird also bei Rawls transformiert und auf die »säkulare Genese einer säkularen Geltung« (163–172) umgebucht. Das stößt auf die Kritik von B.: »Die Ethik Rawls’scher Prägung hat gerade durch die Betonung der Vernünftigkeit der Argumentationspartner […] kein unbedingtes personales Verständnis ausgebildet, sondern setzt Vernunft als wesentliches Anerkennungskriterium voraus. Das Unbedingte der menschlichen Person wird auch in dieser Hinsicht nicht gewahrt.« (171)
Die weitere Denkrichtung ist damit vorgegeben. So fragt B. im dritten Kapitel (»Der frühe Rawls: Theologisches Denken und die Möglichkeit der Übersetzung«, 173–276) nach den spezifisch religiösen Quellen von Rawls’ unbedingtem, nicht-metaphysischen Liberalismus, wie sie in seinem posthum veröffentlichten Werk dokumentiert vorliegen. Denn vor allem dessen »starke religiöse Prägung« der frühen Jahre erscheint B. nicht nur zu Unrecht wenig beachtet zu werden, sondern er erhofft sich darüber hinaus eine weitere Klärung des Übersetzungsgedankens und überhaupt ein »tiefergehendes Verständnis der Begriffe von Genese und Geltung« (172). Dafür nimmt sich B. im Besonderen die Bachelor-Arbeit von Rawls aus dem Jahr 1942 mit dem beziehungsreichen Titel Eine kurze Untersuchung über die Bedeutung von Sünde und Glaube vor. Doch bis es so weit ist, führt B. den Leser über manche Umwege: Erst einmal wird die Publikationsgeschichte nacherzählt (173–182), um anschließend die amerikanische Rezeption Revue passieren zu lassen (182–194), bis es zum erwarteten Stelldichein mit Habermas kommt (194–197). Und bevor B. endgültig zur moraltheologischen Auseinandersetzung mit Rawls übergeht, wird schnell noch dessen Biographie dazwischengeschoben (198–206). Inhaltlich prägnanter wird die Studie von B. erst wieder da, wo er auf den religiösen Mehrwert von Rawls’ Argumentation zu sprechen kommt (207–276). Hier gelingt es ihm in subtilen Überlegungen, Rawls’ Kritik am Utilitarismus und dessen Verteidigung des politischen Liberalismus so zu rekonstruieren, dass sie wie die säkulare Spitze einer ursprünglicheren Theorie der heiligen Gemeinschaft und der Sünde erscheint. Damit werde Rawls zwar nicht zu einem Theologen gemacht, wie B. richtig an­merkt (288), doch bedeutet es eben auch, dass ohne die Kenntnis seiner frühen Theologie entscheidende Sinnhorizonte der Gerechtigkeitstheorie verloren gehen würden.
Abschließend ist zu sagen, dass B. sicherlich eine ambitionierte Studie vorgelegt hat; in der synoptischen Verknüpfung von »Theologie«, »Übersetzung« und »Rawls« vermag sie hellsichtig das entscheidende Begriffsvokabular post-säkularer Diskurse zu besetzen. Daher wird sie in diesen Kreisen gewiss Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Gleichwohl vermag die Arbeit ihren Dissertationskontext nie ganz abzustreifen: Ein sprachlich schwerfälliger Duktus durchzieht die ganze Arbeit; analytisch wird an vielen Stellen unsauber gearbeitet (was besagt denn eigentlich dieses »Zwischen« von Genese und Geltung?). Vor dem Hintergrund der systematischen Fragestellung erscheint auch die Zentrierung auf Rawls inhaltlich über dimensioniert. Hier wären Autoren wie Hans Joas oder Charles Taylor sicherlich fruchtbarer gewesen – vor allem für die Ausarbeitung eines starken Doppelbegriffs von Genese und Geltung. Für systematisch bedenklich halte ich auch die äußerst kleinteiligen, rein disziplinenbezogenen Schlüsse, die B. zieht – denn Übersetzung steht hier allein im Zeichen arbeitsteiliger Moraltheologie. Sie ist für die Moraltheologen so etwas wie der rettende Kanal in die Diskurse der Öffentlichkeit. Doch ist es für die allgemeine Beruhigung der Moderne allein ausreichend, darauf hinzuweisen, dass in jeder Übersetzung der übersetzte Gott gegenwärtig bleibt (vgl. 290)? Oder müsste man vom systematischen Anspruch her nicht viel eher formulieren, dass Gott derjenige ist, der am Ende jeder Übersetzung übrig bleiben könnte? Aber dafür müsste man das Verhältnis von Gott und Moral anspruchsvoller denken als nur in Bezügen einer herkunftsaffinen Geltungstheorie der Vernunft. Denn auch die Übersetzung hat ihre verborgene Seite: Indem sie übersetzt, relativiert sie bereits. Deshalb ist Unverfügbarkeit auch kein Privileg des religiösen Glaubens.