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Ausgabe:

März/2018

Spalte:

255–257

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schmitt, Arbogast

Titel/Untertitel:

Wie aufgeklärt ist die Vernunft der Aufklärung? Eine Kritik aus aristotelischer Sicht.

Verlag:

Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2016. 472 S. = Studien zu Literatur und Erkenntnis, 7. Geb. EUR 42,00. ISBN 978-3-8253-6461-8.

Rezensent:

Tony Pacina

Mit seiner jüngsten Veröffentlichung legt Arbogast Schmitt ein profundes Werk vor – nicht nur inhaltlich. Bereits haptisch er­scheint das Buch gewichtig: Hardcover, 472 Seiten umfassend, ziert den Umschlag schlicht Juan Gris’ Das Buch und zeichnet damit auch schon den Inhalt vor. Es ist wahrscheinlich nicht das Buch schlechthin, aber wohl das Buch über Vernunft, das unserer Zeit bisher fehlte.
Der emeritierte Professor für Gräzistik gibt bereits zu Beginn Einblick in die Genauigkeit seiner Analysen: sechs Seiten Inhaltsverzeichnis, darauf folgt eine angemessene Einführung und anschließend 21 kurze Kapitel zum Anliegen des Buches. Diese sind kompakt, aber gut verständlich geschrieben.
Zu Beginn des Buches stellt S. die Aufklärung als Ausgangsbasis seiner Untersuchung vor. Sie ist zentral für das Verhältnis zwischen europäischer Denkgeschichte der Moderne und anderen Kulturen. Der Entdeckung der eigenen Vernunft kommt dabei eine Schlüsselrolle zu, die die neugewonnene Selbständigkeit zur Minimalanforderung eines kulturellen Niveaus erklärt. Damit erhebt die Aufklärung den Anspruch, die Vernunft schlechthin entdeckt zu haben. S. kritisiert ebendiesen Anspruch: Zeigt der Vernunftbegriff der Aufklärung nicht vielmehr die Grenzen bereits zuvor geäußerter Behauptungen auf? Werden nicht auch die Annahmen der Aufklärer von den geschichtlichen Vorverständnissen be­herrscht? S.s Diagnose lautet, dass trotz historischer Bedingtheit des aufgeklärten Vernunftbegriffes diese die Vernunft als solche anklagen (im Gegensatz zu einem vielleicht zu engen) und damit die Vielfalt an Lebensformen ihrem Herrschaftsanspruch der Rationalität unterwerfen. Wissen wird nun nicht mehr aus transzendenten Prinzipien gewonnen, sondern aus den unmittelbaren Anwendungen auf empirische Gegenstände. Damit ist die Aufklärung die Epoche, die das Denken von theologisch-dogmatisch vorgegebenen Denkmustern befreit und vermittels der Säkularisierung des Denkens Orientierung durch Vernunft und Methode garantiert.
Das aufgeklärte Vernunftkonzept lässt sich dann auch an Aris-toteles’ Ansätze anknüpfen: Beiden ist z. B. sowohl das empirische und rezeptive Denken als auch die Zurückweisung eines aus transzendenten Begriffen abzuleitenden Wissens gemeinsam. Diese Gemeinsamkeiten sind kein Zufall. So weiß der Gräzist S. um die neuplatonische Rezeption mittelalterlicher Scholastik in der Aufklärung, die aristotelisch geprägt ist. Doch S. unterlässt es nicht, nicht nur seinen zu kritisierenden Untersuchungsgegenstand (den Vernunftbegriff der Aufklärer), sondern ebenfalls die aristotelische Sicht zu kritisieren. Es ist eben der Mensch, das Individuum, das in der Aufklärung ein Selbstbewusstsein erlangt, das zu Entdeckungen von Begriffen wie »Subjektivität« und »Individualität« führt, derer Aristoteles entbehrt. So weist S. nach, dass Aristoteles bspw. nicht über einen Begriff der »Person« verfügt.
S. weist eindrucksvoll nach, dass der Gewinn einer Untersuchung des Aristoteles darin liegt, dass er gar keinen Personenbegriff braucht. Aristoteles’ Vernunftkonzept erhebt sich nämlich nicht über die Erfahrung, sondern beginnt vielmehr mit einer Erfahrungsanalyse, deren einzelne Schritte (beginnend bei der unmittelbaren Wahrnehmung über die Gegenstandswahrnehmung zum Meinen, schließlich zum rationalen Urteil) als Synthesis erfasst werden. Erfahrung ist dann nicht mehr bezogen auf Einzelaspekte, sondern auf die konkrete Verwirklichung als Syntheton – als Zusammengesetztes. Aristoteles benötigt keinen Personenbegriff, weil er von einer allen Menschen gemeinsamen Vernunft ausgeht. Vernunft ohne Leben und Personalität ist demnach für Aristoteles nicht denkbar. Es ist eben die Vernunft, die beim Menschen die Individualität und Personalität ausmacht (und ihn deshalb vom animal abhebt und als animal rationale bestimmt). Aristoteles beachtet weniger die Person als die Rationalität des Gottesbegriffes. Darin reflektiert Aristoteles die Analyse auf die Bedingungen der Möglichkeiten der Rationalität selbst und entwickelt damit eine für alle Denkenden gleichermaßen zutreffende Axiomatik. Es ist eben das aristotelische Syntheton – die einheitsstiftende Erkenntnis –, die den erkennbaren Gegenstand mit dessen Erkenntnis identisch werden lässt, so dass alle Menschen qua Vernunft einen gewissen Anteil an der göttlichen Vernunft haben – der Nous. Eine mögliche Reflexion darauf kommt der Bedingung der Erkenntnisfähigkeit der Rationalität selbst gleich – und ist damit der Grund um ein Wissen der göttlichen Vernunft. – Doch geht damit S. nicht den ihm vorgeworfenen Weg einer Neuverkündung der Metaphysik ein. Er schafft eine »korrektere historische Standortbestimmung«, die die Deutungsmacht der Rationalität in ihre historischen und relationalen Grenzen verweist.
Mit Aristoteles weist S. nach, dass sämtliche Formen sinnlicher Wahrnehmung abhängig sind von vorgegebenen Erkenntnissen, so dass das Bewusstsein auch nur auf diese bereits bekannten Inhalte – und eben nicht auf äußere Gegenstände der Welt – Bezug nehmen kann. Damit richtet Aristoteles die Aufmerksamkeit auf die Komplexität und Vielfalt unserer Bewusstseinsinhalte. Es handelt sich also nicht um unmittelbar gegebene Dinge der Außenwelt, sondern um Produkte verschiedener – und somit individueller – Erkenntnisleistungen. Wahrgenommene Gegenstände werden demnach nicht in ihre Einzelteile zerlegt, sondern als Synthese von anderen Gegenständen unterschieden. Eine dogmatische Benennung von Gegenständen wird damit vermieden. Aufgrund der personabhängigen Wahrnehmung eines Gegenstandes, verbunden mit der erfahrungsspezifischen Synthetisierung des Wahrgenommenen, sind es die unterschiedlichen Weisen der Wahrnehmung von ein und demselben Gegenstand, die hier im Fokus der Leistung des S.schen Werkes stehen sollten. Gewissenhaft, kaum einer Partei zusprechend, zeigt S. deutlich, dass die Vernunft sämtlichen Akten der Menschen inhärent ist, die schlicht aufgrund menschlicher Endlichkeit und »materieller Geteiltheit« (als numerisch distinkte Entitäten?) in unterschiedlichen Formen und Graden erfolgen.
Aufgrund der aristotelischen Annahme einer Teilhabe des Menschen an der göttlichen Vernunft ist Vernunft nicht eine Fähigkeit oder Fertigkeit, die nur bestimmten Menschen zukommt. Vernunft teilen sich die Menschen untereinander als Menschen. Zugleich ist dieses Humanspezifikum die Grundlage der Individualität: Die Verschiedenheit und Komplexität der Wahrnehmungsmodi sind Auswahlkriterium für die Eigenheiten eines Individuums. Je mehr oder weniger Elemente ein Individuum für sich beansprucht, desto mehr oder weniger unterscheidet man sich von anderen. Man wird je individueller, desto mehr man sich dem allgemein Menschlichen nähert.
Es mag sein, dass S.s These nicht jedem zusagt. Allerdings besteht doch die Essenz seiner Untersuchung darin, die Menschheit daran zu erinnern, dass die Grundlage unseres Menschseins die Vernunft ist – auch wenn sie noch so unterschiedlich differenziert scheint. Damit schafft S. nicht nur ein fundamentales Werk europäischer Denkgeschichte, sondern zugleich und vielmehr den Schritt in die Gegenwart. Längst vergangen geglaubtes Denken ist durchaus noch anwendbar. Denn in den heutigen Zeiten scheint eine Wahrnehmungsform dringend nötig, die Menschen vereint, ihnen aber zugleich ihre Individualität lässt.