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Ausgabe:

März/2018

Spalte:

248–250

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Zelle, Ilse

Titel/Untertitel:

Karl Knaake – Begründer der Weimarer Lutherausgabe. Hintergründe zu Person und Werk. Eine Spurensuche in Bildern, Briefen und Begegnungen.

Verlag:

Münster u. a.: LIT Verlag 2017. II, 141 S. = Persönlichkeit im Zeitgeschehen, 5. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-643-13629-9.

Rezensent:

Albrecht Beutel

Die Kritische Gesamtausgabe der Werke Martin Luthers, die man nach ihrem ersten Erscheinungsort »Weimarer Ausgabe« (WA) zu nennen pflegt, stellt eine großartige editorische Pionierleistung des letzten Jahrhunderts dar. Sie debütierte 1883, pünktlich zum 400. Geburtstag des Reformators, und konnte 2009 im Gesamtumfang von 123 Bänden vollendet werden. Der Erfolg dieses Großunternehmens verdankt sich zahlreichen Fachgelehrten, Kommissionen und Institutionen, doch dass er im späten 19. Jh. auf seinen noch unabsehbaren Weg gebracht worden war, geht ausschließlich auf die Lebensleistung des einfachen preußischen Pfarrers Joachim Karl Friedrich Knaake (1835–1905) zurück. Mit dem anzuzeigenden Bändchen hat ihm seine Urenkelin Ilse Zelle ein liebe- und gehaltvolles Ehrendenkmal errichtet.
Das »Vorwort«, das die Bedeutung der Publikation bündig zu­sammenfasst, stammt aus der Feder des Tübinger Kirchenhistorikers Ulrich Köpf, der die WA seit 1986 als Wissenschaftlicher Leiter betreut und 2009 mit dem letzten Band der Register vollendet hat.
Im ersten Kapitel (4–27) berichtet Z. von den Schwierigkeiten, Erfolgen und Abenteuern, die sie »auf den Spuren meines Urgroßvaters« (4) erlebte. Seit ihrer Pensionierung hatte sie beharrlich daran gearbeitet, das selbst in Expertenkreisen weitgehend unbekannte Leben und Werk Knaakes zu erforschen und darzustellen. Ausgehend von der kärglich bemessenen Familienüberlieferung fahndete sie in Archiven und Bibliotheken nach weiteren Spuren, erkundete die Schauplätze seines Wirkens, ersuchte mehrfach Spezialisten um Hilfe und Rat. Dieser sehr persönlich gehaltene Teil erzählt die Geschichte einer bemerkenswerten historischen Expedition und drückt der nachfolgend geleisteten Ergebnissicherung den Stempel eines individuell errungenen Forscherglücks auf.
In wissenschaftlicher Nüchternheit rekonstruiert das zweite Kapitel (28–64) den Lebensweg Knaakes. Der unspektakuläre äußere Zuschnitt seiner Biographie lässt die darin erbrachte Leistung umso erstaunlicher sein. Geboren wurde Knaake am 2. Oktober 1835 als Sohn eines Ackerbürgers im altmärkischen Werben. Nach dem Abitur nahm er in Berlin das Studium der Theologie und Philologie auf und besuchte gleich im ersten Semester eine reformationsgeschichtliche Vorlesung des Privatdozenten Karl Schneider (1821–1895). Offenbar fasste Knaake schon dabei den Plan einer Luther-Gesamtausgabe, den Schneider kurz zuvor wegen unüberwindlicher finanzieller und organisatorischer Schwierigkeiten h atte aufgeben müssen. Seit 1860 frönte Knaake der ihn dann lebenslang bewegenden Leidenschaft, Erstdrucke von Lutherschriften und anderen reformationsgeschichtlichen Quellen aufzustöbern und anzukaufen. Nachdem er 1861 das zweite kirchliche Examen glanzvoll bestanden hatte, arbeitete er zunächst als Gymnasiallehrer und Gemeindepfarrer und trat daneben mit ersten wissenschaftlichen Kleinpublikationen hervor. Im Dezember 1864 kam er als Militärgeistlicher an das Potsdamer Kadettenhaus und damit zugleich in die Nähe der großen Berliner Bibliotheken und Antiquariate, die ihm für sein gigantisches, mit eiserner Disziplin verfolgtes Editionsprojekt von unentbehrlichem Nutzen waren.
Der entscheidende Glücksfall ereignete sich 1880, als der Reformationshistoriker Julius Köstlin (1826–1902) auf Knaake aufmerksam wurde. Ohne im Geringsten über die sachkundige Kritik, die Knaake an seiner 1875 erschienenen Lutherbiographie geübt hatte, verärgert zu sein, gelang es ihm rasch, das preußische Kultusminis-terium und auch Kaiser Wilhelm I. persönlich für den Plan einer Luther-Gesamtausgabe zu interessieren. Ebenfalls auf Köstlins Be­treiben wurde Knaake 1881 in die Pfarrstelle des kleinen, nahe Magdeburg gelegenen Dorfes Dra(c)kenstedt versetzt. In der kaum 800 Seelen zählenden Gemeinde konnte seine editorische Arbeit, die zudem durch mehrfachen wochenlangen Sonderurlaub unterstützt wurde, wesentlich intensiver gedeihen. Die Archivarbeiten, denen sich Knaake in ganz Deutschland, aber auch in England und Dänemark unterzog, wurden durch ein obrigkeitliches Empfehlungsschreiben erleichtert.
Planmäßig war der erste Band der WA 1883 erschienen. Im Folgejahr verlor Knaake seine Frau Juliane; vier der sieben Kinder waren bereits in Potsdam gestorben. Andere Erschwernisse traten hinzu, neben der chronisch beeinträchtigten Gesundheit auch empfindliche pekuniäre Einbußen, die sich Knaake durch die Vernachlässigung seiner pastoralen Verwaltungspflichten eingebrockt hatte (vgl. 50–52). 1897 zog er sich aus der Editionsarbeit zurück, vier Jahre später gab er sein kirchliches Amt auf und übersiedelte nach Naumburg, wo er am 6. April 1905 verstarb. Seine riesige, etwa 4.000 Stücke zählende Quellensammlung wurde versteigert und zerstreut; von den Teilen, welche die Preußische Staatsbibliothek übernommen hatte, ging am Ende des Zweiten Welt­kriegs das Meiste verloren.
Das dritte Kapitel (65–128) widmet sich der Vorgeschichte und den Anfängen der WA, die mit der Biographie Knaakes untrennbar verbunden sind. Damit gewährt es Einblicke in die Möglichkeitsbedingungen eines editionswissenschaftlichen Langfristprojekts, die in der Zeit der Urgroßväter gegeben waren und heute nur noch für den Stoff gegenwartsvergessener Tagträume taugen. Dass der Plan einer Luther-Gesamtausgabe Knaakes eigene Kräfte weit übersteigen würde, lag unmittelbar auf der Hand. Indessen hatte er damit den ursprünglichen Plan, eine vollständige [!] Quellensammlung der Reformationsepoche zu erstellen, bereits massiv reduziert.
Die geistige Stimmungslage in dem eben erst gegründeten zweiten deutschen Kaiserreich, das Luther als Ahnherrn deutscher Nationalidentität zu feiern beliebte, begünstigte das Vorhaben erheblich; Theodor Mommsen brachte mit seiner Bemerkung, die WA sei das »schönste Denkmal, welches die Nation ihrem Befreier zu errichten vermag« (103), die kollektive Gemütsverfassung auf den Begriff. Pikanterweise blieb die WA für viele Jahrzehnte ein staatlich gefördertes Unternehmen, während sich die evangelische Kirche erst 1948 zu finanzieller Unterstützung bereitfand. Die Grundausstattung wurde im Mai 1881 vom Kaiser gewährt, nachdem ihn ein nachdrücklich empfehlendes Gutachten der Preußischen Akademie der Wissenschaften und die sekundierende Fürsprache seines Oberhofpredigers Rudolf Kögel endgültig überzeugt hatten. Von den illusorischen Bedingungen, die mit der kaiserlichen Zu­wendung von 40.000 Mark verknüpft waren – die WA sollte innerhalb von elf Jahren im Umfang von 40 Bänden vollendet und von einer Herausgeberkommission betreut werden –, ist nur der letztgenannte Punkt realisiert worden. Dass der Germanist Paul Pietsch 1890 die wissenschaftliche Leitung der Kommission über nahm, trug wesentlich zur mittelfristigen Erfolgssicherung des Großunternehmens bei.
In dem Weimarer Verlagsbuchhändler Hermann Böhlau hatte sich der ideale Wirtschaftspartner gefunden. Er kalkulierte den Preis eines anfangs in 900 Exemplaren gedruckten Bandes derart, dass der Erlös dann die Herstellungskosten des nächsten Bandes abdeckte. Die Zahl der Subskribenten, die im Vorspann namentlich aufgeführt wurden, hatte sich beim zweiten Band (1884) bereits auf 691 verdoppelt. Im August 1883 war Knaake von der Theologischen Fakultät Halle, die damit der Berliner Fakultät zuvorkam, die Ehrendoktorwürde verliehen worden – gerade noch rechtzeitig, um seinen Herausgebernamen von Anfang an mit diesem Titel zu schmücken.
Kaum war die Edition in Gang gebracht worden, da äußerte sich Zustimmung, ja Begeisterung allenthalben. Sie galt zumal Knaake, auch wenn ihm seit 1881 nicht nur die Kommission, sondern auch kundige Mitarbeiter zur Seite standen. Allerdings zeigte sich bald, dass der ehrgeizige Editionsplan unmöglich zu realisieren war: Die Verzögerung weiterer Bände, die auch den Verlag in wirtschaftliche Schwierigkeiten brachte, resultierte nicht nur aus organisatorischen Mängeln, sondern auch aus zahlreichen neuen Quellenfunden. Insofern war die Kritik, die Knaake den Verzicht auf eine systematische Abfrage aller in Betracht kommenden Sammlungen vorhielt, durchaus berechtigt. Moniert wurde auch anderes, so der bisweilen unzulängliche Nachweis von Zitaten, die freie Gestaltung der Interpunktion oder die uneinheitliche Textwiedergabe. Dagegen dürfte sich Knaakes Entscheidung, bei Drucken, die Luther autorisiert hatte, die Varianten der handschriftlichen Überlieferung im kritischen Apparat auszuweisen, hingegen bei unautorisierten Drucken die handschriftliche Vorlage als Leittext zu nutzen, insgesamt wohl bewährt haben.
Den Band beschließen ein Literatur- und Quellenverzeichnis (133–139) sowie ein Register der Orte und Personen (140 f.). Dass die Letzteren weder ganz vollständig erfasst noch ganz tadellos alphabetisiert wurden, stellt nur einen unerheblichen Schönheitsfehler dar, der das große wissenschaftsgeschichtliche Verdienst, das sich Knaakes Urenkelin mit dieser Veröffentlichung erworben hat, nicht im Geringsten zu schmälern vermag. Während etliche der Produktionen, die das Reformationsjubiläum von 2017 hervorbrachte, schon bald überholt, makuliert oder vergessen sein dürften, stiftet dieser Band die bleibende Erinnerung, dass zwar nicht die Durchführung und Vollendung, wohl aber die erfolgreiche Inauguration der »Weimarer Ausgabe« der unbeirrten Leidenschaft, dem beharrlichen Fleiß und der lebensbündelnden Gelehrsamkeit dieses einzelnen Mannes zu danken ist.