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Ausgabe:

März/2018

Spalte:

244–246

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Landmesser, Christof [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Bultmann Handbuch.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2017. XI, 546 S. = Handbücher Theologie. Kart. EUR 49,00. ISBN 978-3-16-151687-0.

Rezensent:

Ulrich Luz

Dieser Band, an dem unterder Stabführung von Christof Landmesser etwa 40 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus al­len theologischen Disziplinen mitgearbeitet haben, ist ein Schatzkästchen für alle, die über Bultmann arbeiten oder sich für ihn interessieren. Der Nachlass Bultmanns ist ja bedauerlicherweise schlecht erschlossen. Es gibt keine Ge­samtausgabe; vor allem sind wichtige Teile von Bultmanns um­fangreicher Korrespondenz nicht veröffentlicht. So entspricht gerade dieser Band in der Reihe »Handbücher Theologie« einem dringenden Bedürfnis.
Wie andere Bände der Reihe enthält er vier Hauptteile: A. Orientierung, B. Person, C. Werk, D. Wirkung und Rezeption. Die kurze »Orientierung« enthält eine Zusammenstellung der Veröffent-lichungen Bultmanns, auch von Artikeln und Übersetzungen. Besonders wertvoll darin ist die Übersicht über seine Briefe: Bultmann hat einen beträchtlichen Teil seiner Arbeitszeit dem Briefschreiben gewidmet. In seinem Nachlass in der UB Tübingen finden sich über 1700 Briefe an mehr als 300 Korrespondenzpartner. Veröffentlicht sind z. B. die Korrespondenzen mit Karl Barth, Friedrich Gogarten, Günther Bornkamm oder Martin Heidegger. Teilweise veröffentlicht sind etwa die Briefwechsel mit Karl Jaspers, Hans Jonas oder Hans Lietzmann. Nicht veröffentlicht ist bisher der theologie- und zeitgeschichtlich überaus wichtige Briefwechsel mit Ernst Käsemann oder der nur teilweise erhaltene Briefwechsel mit Heinrich Schlier. Leider habe ich im ganzen Band keine Zusammenstellung darüber gefunden, von Briefen welcher Korrespondenzpartner es überhaupt nicht einmal eine Teilveröffentlichung gibt. Die Veröffentlichung des Briefwechsels mit Käsemann ist wohl das dringlichste Desiderat!
Dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch unveröffentlichte Korrespondenzen Bultmanns auswerten konnten, kommt natürlich vor allem dem zweiten Teil des Handbuchs zugute, in dem es um die »Person« Bultmanns geht. Insbesondere die Artikel des Abschnittes »Beziehungen« (57–150) liest man mit großer Faszina-tion. Highlights sind beispielsweise die Artikel über Bultmann und Martin Heidegger, über Bultmann und Hans von Soden, über Bultmann und Heinrich Schlier oder über Bultmann und Ernst Käsemann. Aber auch kürzere Artikel wie z. B. diejenigen über Bultmann und Hermann Gunkel, über Bultmann und Rudolf Otto, über Bultmann und Hans Jonas oder über Bultmann und seine Marburger Kollegen geben wichtige Hinweise. Sie zeichnen ein deutliches Bild des Menschen Bultmann, der am Geschick und am Denken seiner Kollegen und Schüler intensiv Anteil nahm und den Kontakt mit ihnen auch in den dunkelsten Zeiten der Naziherrschaft und des Zweiten Weltkriegs suchte. Eindrücklich war mir auch, wie Bultmann immer wieder Brücken zu schlagen versuchte, auch wo andere »Nein« sagten. Die Artikel zeigen den über viele Disziplingrenzen hinweg interessierten Wissenschaftler Bultmann, der vor allem mit Philosophen und klassischen Philologen in ständigem Austausch stand. Sie zeigen den politischen Zeitgenossen Bultmann, der das Zeitgeschehen scharf analysierte und immer eine klare Linie vertrat, aber nie plakativ, sondern mit der ihm eigenen Subtilität und Vornehmheit. Mit damals seltener Klarheit und Offenheit setzte sich Bultmann seit 1933 für die deutschen Juden ein. Viele seiner ihm am nächsten stehenden Kollegen und Freunde, auch manche seiner Schülerinnen und Schüler waren Juden.
Interessant ist auch das Kapitelchen über politisch-gesellschaftliche Beziehungen mit den Artikeln »Bultmann und die Kirche«, »Bultmann und die Politik«, »Bultmann und das Judentum« sowie »Bultmann und die Kultur«. Während die ersten beiden dieser Artikel eher theologische Aspekte reflektieren, legt der dritte Artikel das Gewicht auf biographische Aspekte: Bultmann hatte seit seiner Gymnasialzeit enge jüdische Freunde und stand als akademischer Lehrer in Marburg in außerordentlich engem Austausch gerade mit vielen jüdischen Kollegen und Freunden. Für sie setzte er sich mit allen Kräften ein, sowohl persönlich, wie auch auf universitätspolitischer Ebene. Auch manche seiner theologischen Auseinandersetzungen, z. B. mit Emanuel Hirsch, und viele seiner Aufsätze zum Alten Testament erhalten von hier aus ein neues Licht.
Der ausführliche Hauptteil »Werk« (175–400) ist in die Unterabschnitte »Gattungen« (z. B. Monographien, Rezensionen, Predigten, Briefe), »Strukturen« (z. B. Sünde und Rechtfertigung, Glauben und Verstehen) und »Themen« (z. B. Religionsgeschichtliches Um­feld, Jesus, Religion, Anthropologie, Mythos) gegliedert. Hier konzentrierte sich mein Interesse auf alle diejenigen Aspekte von Bultmanns Werk, die weniger bekannt sind, z. B. auf die Gattungen »Rezensionen« oder »Briefe« oder auf Themen wie »Bultmann und das Alte Testament«, »Religion«, »Frühkirchliche Entwicklungen«. Die meisten derjenigen Artikel, die sich mit Kernthemen von Bultmanns Theologie beschäftigen wie z. B. »Glauben und Verstehen«, »Theologie des Neuen Testaments« oder »Mythos und Entmythologisierung« sind für Kenner Bultmanns weniger interessant, aber sie verraten dafür einiges über die Bultmanninterpretation ihrer Verfasser. So werden unterschiedliche Benutzer des Handbuchs die Artikel je nach Interesse selektiv lesen. Das kann man ohne Weiteres; in keinem Artikel ist die Kenntnis anderer Artikel vorausgesetzt. Der Preis dafür sind einige unvermeidliche Wiederholungen.
Auch die Artikel des vierten Hauptteils »Wirkung und Rezeption« (401–474) wird man je nach eigenem Interesse selektiv lesen. Ein Systematiker wird sich wohl mehr für die Rezeption Bultmanns in der neutestamentlichen Wissenschaft, z. B. in der Paulus- oder Johannesforschung interessieren; ein Neutestamentler, dem dieses bekannt ist, mehr für die Bultmannrezeption in der Systematischen Theologie, in der Religionswissenschaft und in der Philosophie. Hilfreich sind die beiden Artikel über die Bultmannrezeption im englischsprachigen Raum und in Skandinavien. Mit besonderem Gewinn habe ich auch den Eingangsartikel über die »Bultmannschule« gelesen.
Am Schluss des Bandes steht ein fünfzigseitiges Literaturverzeichnis, das nicht nur unentbehrlich ist, weil in zahlreichen Artikeln Verweise auf Literatur (leider!) nicht mit Kurztiteln, sondern mit dem Veröffentlichungsjahr erfolgen, sondern auch sehr hilfreich, weil es sehr viele Hinweise auf Bücher und Artikel enthält, die jedenfalls dem Rezensenten bisher unbekannt waren.
Fazit: Christof Landmesser und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben ein Werk vorgelegt, das Bultmanns vielschichtiges Werk auf großartige Weise erschließt und die Bultmannforschung voranbringt. Sie haben auch ein Werk vorgelegt, in dem man viele Artikel mit großer Spannung und nicht ohne innere Bewegung liest. Dafür sei ihnen herzlich gedankt.