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Ausgabe:

März/2018

Spalte:

242–244

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Enders, Markus [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Meister Eckhart und Bernhard Welte. Meister Eckhart als Inspirationsquelle für Bernhard Welte und für die Gegenwart.

Verlag:

Münster u. a.: LIT Verlag 2015. 142 S. = Heinrich-Seuse-Forum, 4. Kart. EUR 19,90. ISBN 978-3-643-13095-2.

Rezensent:

Markus Vinzent

Das zur Rezension vorliegende Büchlein ist eher unscheinbar mit seinen vier Beiträgen, die mit einer kurzen Einleitung des Herausgebers auf 142 Druckseiten zusammengebracht wurden. Doch, wie gleich zu zeigen sein wird, ist es ein kleines Juwel, das hoffentlich weder in der Welte- noch in der Eckhartforschung künftig übersehen wird.
Die Beiträge selbst gehen auf eine Jahrestagung der Bernhard-Welte-Gesellschaft zurück, die am 28. und 29.11.2014 in der Katholischen Akademie der Erzdiözese Freiburg stattfand. Nicht nur die Verbindung des ehemaligen Freiburger Religionsphilosophen Bernhard Welte (1906–1983, ab 1952 Professor für Grenzfragen an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, seit 1954 ebenda Lehrstuhlinhaber für Christliche Religionsphilosophie bis 1973, 1955–1956 Rektor) mit Meister Eckhart, sondern auch die Tatsache, dass es um die mystische Spiritualität heute geht, wecken Interesse. Hinzu kommt, dass die Schrift als vierter Band des Heinrich-Seuse-Forums erschienen ist, wurde doch Bernhard Welte bereits durch seine Gymnasialzeit am Konradihaus (das seit 1948 Heinrich-Suso-Gymnasium heißt) in der Heimat Heinrich Seuses in Konstanz groß.
Im ersten Beitrag »Abgeschiedenheit – der Weg ins dunkle Licht der Gottheit. Zu Bernhard Weltes Deutung der Metaphysik und Mystik Meister Eckharts« (5–29) zeichnet der Herausgeber Markus Enders die wichtigsten Linien von Weltes Eckhartrezeption nach. Welte hat Eckhart gelesen, wie wir Mozart hören. Nicht, indem wir uns die Nachschreibversuche der ersten Klaviersonaten Haydns zu Ohren führen, sondern indem er die »Masterpieces« des Magisters ins Auge fasst, die sowohl Eckhartliebhaber wie die Kritiker Eckharts in Köln und an der Kurie in Avignon agierenden bzw. intrigierenden Kritiker lesen, ausschreiben und diskutieren: Die Armuts-predigt (Predigt 52 Quint), Predigt 6 mit den Identitätsaussagen (»Was in das andere verwandelt wird, das wird eins mit ihm. So werde ich gewandelt in ihn [sc. in Gott], daß er mich wirkt als sein Wesen, als eines, nicht als gleiches«) und Predigt 12 (»Qui audit me«). Nach Welte ist »Abgeschiedenheit« der Zentralbegriff Eckharts, der den »Weg des menschlichen Daseins ins dunkle Licht der Gottheit [hinein]« beschreibt (8–9), es ist ein »Haben der welthaften Bilder ›ohne Eigenschaft‹« (9–11) und ein »Durchbruch […] in eine unmittelbare Erfahrung« von Gottes »Gegenwart« (11–12). Trotz aller Rede von Identität und Einheit legt Welte doch Wert darauf, dass Eckhart von einer Wirkidentität, nicht einer Seinsidentität spricht, so dass die differenzierte Identität von Gott und Kreatur letztlich auch in und während der Wirkidentität dieser beiden gewahrt bleibt. Hier setzt dann auch die deutlich kritische Lektüre von Weltes Eckhartbild durch Enders ein. Mit guten Gründen und Verweisen auf frühere Studien, die leider auch dem Rezensenten in seiner eigenen Studie zur Abgeschiedenheit Eckharts entgangen waren, legt En­ders nahe, dass es Welte nicht nur um eine Wirk-, sondern auch um eine Seinsidentität Eckharts ging (24). Vermittelnd könnte man hinzufügen, dass Weltes Betonung der Dynamik dieser Identität gar nicht ohne Seinsgrund zu denken ist, andererseits Eckharts Seinsidentität, wie von Enders korrekt gesehen, nicht als ontologischer Status, sondern eben als dynamischer Liebesvollzug, also als göttliches, kategorienloses Wirken betrachtet wird, wie dann später Mieth und auch Roesner ausführen werden (105; 129–130).
In ganz anderer Weise nähert sich Udo Kern in seinem Beitrag »Die Rezeption Meister Eckharts im Protestantismus« (31–101) der Thematik, indem er die Alterität zu Weltes katholischer Lektüre Eckharts darstellt, und zwar in einem doppelten Durchgang, zum einen historisch in einem weiten Zugriff von Luther über Hegel, Martensen, C. W. A. Schmidt, Otto, E. Seeberg, Ebeling zu K. Weiß und seinen Schülern und damit bis zur gegenwärtigen Diskussion, seiner selbst mit seinen eigenen Beiträgen inbegriffen, zum ander en in einem eher protestantisch systematischen Zugriff auf die Geschichte der Rezeption. Gerade der lange Teil zur Schule von Weiß in Rostock ist von besonderem Interesse, da der Vf. als Zeitzeuge viele Details bietet, die bisher noch nicht bekannt waren, und gerade ein Stück »DDR«-Rezeption Eckharts nachzeichnet, die dringend in einem eigenen Forschungsprojekt gemeinsam mit der Rezeption Eckharts seit Pfeiffer untersucht werden müsste. Unter den Schülern und deren Zeitgenossen sind viele, die noch leben, und andere, die wie Kurt Ruh (kein Schüler von Weiß) weit über ihren Tod hinaus noch nachhaltend auf die Eckhartforschung einwirken. Am eindringlichsten ist dabei der Abschnitt, in welchem der Vf. über seinen eigenen Ansatz reflektiert und der in gut Eckhartschem Stil fast ausschließlich aus Eckhartzitaten ein Reflexionsmosaik bil det, geprägt von der Dialektik des Gottsuchers und des von Gott Gesuchten, einer Suche, die in der Intellektualität beheimatet ist. Auch wenn von der Unterkapitelzählung die gesamte Liste der vorgestellten protestantischen Eckhartinterpreten als Schüler von Weiß ausgewiesen wird, überschreitet der Vf. doch bald den engen Kreis der Weißschüler und weitet den Blick auch auf die westdeutsche Eckhartrezeption aus, geht aber auch etwa auf die praktische »protestantische Gemeindelektüre Meister Eckharts« im von Claus Henneberg angeregten, seit 2005 bestehenden Studienkreis in Hof ein (90–91). Wie nah die protestantische Lektüre wohl aufgrund von Eckharts Vorgaben ausfällt, lässt sich schon an der Eröffnung sehen, die auf dasselbe »Masterpiece« wie Welte/Enders zurückgreift, Eckharts Predigt 6. Und in der Tat gibt der Vf. zu Beginn seines systematischen Durchblicks (91–101) an, dass er bestenfalls protestantische Akzente zu sehen vermag, man aber eigentlich von einer ökumenischen Interpretation Eckharts sprechen müsse (91).
Dietmar Mieth beginnt in »Meister Eckhart als spirituelles Vorbild und als theologische Herausforderung« (103–118) mit einer persönlichen Reminiszenz und reiht sich so vorzüglich an den voranstehenden Beitrag ein, sozusagen, indem er diesen katholisch mitrahmt. Der Vf. hatte Welte als Prediger in der Freiburger Universitätskirche gehört, nachdem er selbst Eckhart erstmals 1959 begegnet war. Es folgen in groben Linien die wichtigsten Elemente von Mieths Eckhartlektüre, die er in seiner Monographie »Meister Eckhart« (2014) detailliert hatte. Hinzugekommen ist der erste Abschnitt zu »Eckharts Persönlichkeit« (108–109), der den gelehrten, aber auch humorvollen und weisen Eckhart vorstellt, gefolgt von Eckhart, der »Provokationen« nicht scheute (104–107). »Gött-liche Dynamik« und menschliche, religiöse »Freiheit« entsprechen sich gegenseitig und leben aus einer gegenseitigen »Beziehung«, die auch einem jüdischen und islamischen Verständnis offen stehen (107–114). Auch Mieth geht auf »Eckharts Aktualität« ein (115–118), gegen »Zukunfts-Seligkeit« eines »homo-oeconomicus« steht der im Jetzt lebende und wirkende Mensch, der, wie Eckhart selbst, auch gegen den Strom zu schwimmen be­reit ist.
Im letzten Beitrag »Selbstentäußerung und Selbstverleugnung bei Meister Eckhart unter besonderer Berücksichtigung seines lateinischen Schriftwerks« (119–140) beschäftigt sich Martina Roesner mit der scholastischen Seite Eckharts. Als erstes Hauptproblem wird markiert, dass höchste Individualität an den Intellekt, nicht an die Existenz geknüpft wird, doch der Intellekt gerade das Organ ist, das dividuiert, denn nur als Reflexivum ist er, was er ist (122). Wie aber kann er dann Organ der Glückseligkeit einer Einheitserfahrung sein? Im Unterschied zu der averroistischen Tradition seiner Vorgänger sieht Eckhart dieses Paradox durch Gott selbst in einer Dynamik aufgelöst, auf die Enders und Mieth bereits zu sprechen kamen, indem sich sowohl das göttliche »Ich« »als reflexiver Akt« einer Selbstdifferenzierung begreift und damit »Differenz und Andersheit« ermöglicht, also das »Ich« des Menschen mitsetzt, wie umgekehrt die »im Wesen des Intellekts als solchen immer schon liegende Relationalität« dem »Ich« Gottes entspricht. Beide »Ich« bilden »durchaus ein strenges singulare tantum«, »aber nicht im Sinne eines […] metaphysischen Schwarzen Loches«, sondern als Raum, in welchem sich »Andersheit entfalten kann« (129–130).
Wie diese kurzen Ausführungen zeigen, bietet dieser Band so­wohl einen bündigen Zugriff auf Weltes Verständnis von Eckhart wie auch eine von Welte angeregte, auf die Aktualität bezogene Lektüre Eckharts. Dass Eckhart Welte öfter überlagert, hängt wohl auch damit zusammen, dass die Welte-Rezeption gerade auch in der Eckhartforschung noch als Teildesiderat der weiteren jüngeren Eckhartauseinandersetzung im 20. Jh. angegangen werden sollte.