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Ausgabe:

März/2018

Spalte:

241–242

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Carleton Paget, James, and Michael J. Thate [Eds.]

Titel/Untertitel:

Albert Schweitzer in Thought and Action. A Life in Parts.

Verlag:

Syracuse: Syracuse University Press. 2016. 472 S. Kart. US$ 59,95. ISBN 978-0-8156-3464-5.

Rezensent:

Frank Jehle

Dieser monumentale Band sollte 2015 zum 50. Todestag Albert Schweitzers erscheinen, zugleich als Erinnerung an das Jahr 1915, als der »Urwaldarzt« seine Frau, Helene Bresslau, nach Lambarene holte. Da das Buch keine Eintagsfliege ist, sondern für die Albert-Schweitzer-Forschung unersetzlich ist, macht das verspätete Erscheinungsdatum nichts aus. Die 17 Beiträge von qualifizierten Fachleuten decken ein weites Spektrum ab. »Ich bin kein ausgeklügelt Buch, ich bin ein Mensch mit seinem Widerspruch«, soll Schweitzer von sich selbst gesagt haben. (Leider konnten die anglophonen Verfasser nicht erkennen, dass es sich um ein Zitat aus Conrad Ferdinand Meyers Dichtung »Huttens letzte Tage« handelt!) Und in der Tat: Albert Schweitzer hatte viele Facetten, die sich nicht immer klar zusammenfügen lassen. Er lebte lang (1875–1965). Die Aporien eines ganzen Jahrhunderts spiegeln sich in seinem Leben und in seinem Wirken. Als geborener Elsässer stand er zwischen der französischen und der deutschen Kultur, nahm an beiden Anteil und entwickelte sich zum Weltbürger. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war er eine internationale Autorität, die ihresgleichen suchte. Ausgezeichnet wurde er unter anderem mit dem Friedensnobelpreis, dem Goethepreis der Stadt Frankfurt am Main (dies bereits vor dem Zweiten Weltkrieg) und dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Schon früh erfuhr sein Wirken in Afrika aber auch heftige Kritik. Er wurde sowohl als der dreizehnte Apostel Jesu Christi bejubelt als auch als Repräsentant von Rassismus und Kolonialismus verhöhnt. Mit seinen Publikationen zur Leben-Jesu-Forschung und zur »Mystik des Apostels Paulus« trug er sich in die Theologiegeschichte ein. Von seinem Buch über Johann Sebastian Bach gingen entscheidende Anregungen aus, sowohl für die Aufführungspraxis als auch für den Orgelbau. Als philosophischer Ethiker prägte er die Formel »Ehrfurcht vor dem Leben«. Bemerkenswert ist, dass er sich mit der »Weltanschauung der indischen Denker« auseinandersetzte (seltsamerweise aber nicht mit dem afrikanischen Denken!). Unvergessen sind die Aufrufe des greisen Albert Schweitzer gegen das atomare Wettrüsten in den 1950er Jahren. Politisch wurde er in der Zeit des Kalten Kriegs von beiden Seiten vereinnahmt. Die atheistische DDR widmete ihm 1965 drei Sonderbriefmarken, »Der grosse Humanist und Arzt«, »Der Kämpfer gegen Krieg und Atomtod«, »Der Musiker und Bachinterpret«. Bezeichnenderweise fehlt »Der Theologe«.
Der Sammelband lässt sich mit den »Handbüchern« vergleichen (z. B. über Luther und Barth), wie sie zurzeit an der Tagesordnung sind. Weiterführend sind verschiedene Beiträge, die Schweitzer in die Geistesgeschichte einordnen, seinen intellektuellen Werdegang erhellen. Leitfiguren, an denen er sich formte, waren nicht nur Kant, sondern besonders Schopenhauer und Nietzsche. Der junge Schweitzer war ein typischer Vertreter des Jugendstils, der Jugendbewegung und der Lebensphilosophie. Dass er nach Lambarene ging, war anfänglich keineswegs so klar, wie er selbst es später darzustellen pflegte, was der Briefwechsel mit seiner Braut 1902–1912 dokumentiert. Da er als »liberaler« Theologe die leibliche Auferstehung Christi leugnete, wäre es für ihn schwierig gewesen, ordentlicher Professor an einer lutherischen Fakultät zu werden. Dazu kommt, dass er sich nach praktischer Verwirklichung sei-ner Ideale sehnte. Er träumte davon, Waisenkinder zu betreuen. Schließlich studierte er Medizin und wurde »Missionsarzt«, in loser Verbindung mit der »Pariser Mission«, der er versprechen musste, in Afrika nicht zu predigen, sondern in Bezug auf seine »ketzerische« Theologie »wie ein Fisch« zu schweigen.
Im Rahmen dieser Rezension ist es aus verständlichen Gründen nicht möglich, alle Beiträge zu besprechen, ja auch nur aufzuzählen. Herausgegriffen sei der Aufsatz eines der beiden Herausge-ber, Michael J. Thate, Forschungsassistent in Princeton und Humboldtstipendiat in Tübingen: »An Anachronism in the African Jungle? Reassessing Albert Schweitzer’s African Legacy«. Man liest diesen Beitrag mit Gewinn, weil er viel weitgehend Unbekanntes bringt. Bereits 1945 wurde Schweitzer – ausgerechnet in einer Festschrift zu seinem 70. Geburtstag! – vom Doyen der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung W. E. B. Dubois (1868–1963, er war der erste schwarze Doktorand in Harvard) aufs Schärfste angegriffen. Dubois verkannte Schweitzers humanitäre Verdienste nicht, stellte aber fest, dass der »Urwaldarzt« – ob er dies wolle oder nicht – rein durch seine Existenz ein Vertreter des französischen Kolonialismus sei. Er warf Schweitzer vor, »no broad grasp of what modern exploitation means« zu haben (299). »For four hundred years, from the mid-fifteenth century down until the last half of the nineteenth, the wealth of the world was based on the stealing of black [people] and their driven labor. It was for this that Europe invaded Africa and with the remains of this invasion the slender hands of Albert Schweitzer tried to cope.« (298) In einer anderen Publikation schrieb Dubois: »Missionaries represent the oldest invasion of whites.« (302) Thate referiert viele divergierende Stimmen. Ein abschließendes Urteil ist kaum möglich. Es lohnt sich, diesen Artikel (und natürlich viele andere) sehr exakt zu lesen.
Unersetzlich ist die umfangreiche Bibliographie (35 Seiten), die dem Buch beigegeben ist. Man darf den Herausgebern gratulieren.