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Ausgabe:

März/2018

Spalte:

215–217

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Immendörfer, Michael

Titel/Untertitel:

Ephesians and Artemis. The Cult of the Great Goddess of Ephesus as the Epistle’s Context.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2017. XVIII, 496 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 436. Kart. EUR 99,00. ISBN 978-3-16-155264-9.

Rezensent:

Rainer Schwindt

Die Erforschung und Erschließung der Inschriften des antiken Ephesus gehören zu den Großtaten epigraphischer Forschung. Die Sammlung dieser meist griechisch verfassten Inschriften umfasst etwa 6.000 Texte bzw. Textfragmente aus dem 6. Jh. v. Chr. bis in das byzantinische Mittelalter. Sie beinhalten den öffentlichen wie den privaten Lebensbereich, den politischen wie den religiösen. Zusammen mit numismatischen und archäologischen Zeugnissen gewähren die Inschriften insbesondere Einblicke in den Kult der Stadtgöttin Artemis, der in paulinischer Zeit in voller Blüte stand. Im Neuen Testament ist es aber allein Lukas in Apg 19, der den Artemiskult als Folie für das dreijährige Wirken des Paulus in der kleinasiatischen Metropole expressis verbis aufgreift. In der Exegese des Eph, der meist als allgemeines, nicht auf ein bestimmtes Lokalkolorit bezogenes Rundschreiben eingeschätzt wird, spielt dieser Hintergrund kaum eine Rolle. Nur zwei Monographien haben in jüngerer Zeit den Kult der Artemis Ephesia als möglichen Hintergrund für das Weltbild und den Geisterglauben der Epistel herangezogen (C. E. Arnold, Ephesians. Power and Magic, Cambridge 1989; R. Schwindt, Das Weltbild des Epheserbriefes, Tübingen 2002). Während letztere Studie den Artemiskult in ein umfassendes religionsgeschichtliches Geflecht pagan- und frühjüdisch-hellenistischer Dämonologien einordnet und den Fokus auf die theologisch-systematische Relevanz dieser Paradigmen legt, geht es in der vorliegenden Dissertation von Michael Immendörfer, die an der University of Wales, Trinity Saint David eingereicht wurde, um den Nachweis, dass der Brief an Adressaten in der Stadt Ephesus gerichtet ist und thematisch wie linguistisch deutlich auf den Artemiskult Bezug nimmt.
Dem Untersuchungsgegenstand entsprechend ist die Studie we­sentlich interdisziplinär ausgerichtet. Der Schwerpunkt liegt auf dem textlinguistischen Vergleich des Epheserbriefs mit den ephesischen Inschriften. Methodologisch knüpft I. u. a. an die textkomparatistischen Kategorien von R. B. Hays und besonders S. E. Porter an: die wörtliche Zitation, die direkte Zitation, die Paraphrase, die An­spielung (allusion) und das Echo (12–28). Die Trennschärfe dieser Kategorien ist naturgemäß aber beschränkt, wie sich im Konkreten auch in dieser Studie immer wieder zeigt. Für Eph sind letzte beide Kategorien von entscheidender Bedeutung. Ihre Bestimmung hängt aber wesentlich von den Intentionen und dem Wissen des Autors und seiner Leser ab, so dass immer die Gefahr eines hermeneutischen Zirkelschlusses besteht. Erschwerend kommt hinzu, dass es hier nicht nur um einen innerbiblischen Textvergleich von Altem und Neuem Testament geht, sondern um einen Vergleich mit dem Artemiskult, einem Symbolkosmos auch nichttextlicher Art. Im Anschluss an eine Kriteriologie von W. Harmon und C. H. Holman legt I. vier »practical criteria« (31) seiner Untersuchung zugrunde: 1. die Zugänglichkeit von Autor und Lesern zu den Quellen, 2. die sprachliche Kohärenz, 3. die konzeptionelle Kohärenz und 4. die Differenzen zum Corpus Paulinum und zu Kol.
In der Adressatenfrage (Kapitel 2) kommt I. zu dem Ergebnis, dass die textkritisch umstrittene Ortsangabe ἐν Ἐφέσῷ (Eph 1,1) authentisch ist, u. a. weil sie handschriftlich recht gut bezeugt ist und auch von verschiedenen Kirchenvätern vorausgesetzt wird. Andere Städte im Umkreis von Ephesus als Zielorte hält er für nicht wahrscheinlich. Unter dieser Prämisse wendet sich I. der Stadt Ephesus zu (Kapitel 3). Er skizziert nach neuestem Forschungsstand die Quellenlage, be­schreibt die geographische Lage, Geschichte und Archäologie der Stadt und gibt einen Überblick über Religionen, Magie und Kaiserkult der Metropole, besonders zu paulinischer Zeit. In einem eigenen 4. Kapitel beschreibt I. ausführlich den Artemiskult, näherhin das Artemision, die Geschichte und Gestalt der Göttin, ihre Würde-titel, ihr Verhältnis zur Stadt und die kultische Praxis.
Auf dieser methodologischen und materiellen Grundlage geht I. möglichen Referenzen des Eph auf den historischen Hintergrund der Stadt nach (Kapitel 5). Größtes Gewicht misst er den begrifflichen Entsprechungen zwischen Eph und der ephesischen Epigraphik bei. So untersucht er etwa das tempelmetaphorische Begriffsfeld in Eph 2,20–22, das in 1Kor 3,9–17 eine Parallele hat, doch unter den sieben »Bautermini« auch drei zusätzliche kennt (180–190). In Kol spielt die Tempelmetaphorik hingegen keine Rolle. I. findet dies erstaunlich, da es auch in Kolossä einige Tempel gegeben habe (183). Unabhängig von der Frage, ob Kol nicht als ein Pseudepigraphon an die in Wirklichkeit um 60/61 n. Chr. von einem Erdbeben zerstörte Stadt gelten muss, ist die in fast jeder Stadt nachweisbare Tempelarchitektur kein Argument für oder wider eine briefliche Rezeption. I. sieht dennoch deutliche Hinweise auf das Artemision, das den Ephesern durch seine lange, durch viele Neubauten gekennzeichnete Baugeschichte sehr nahegestanden habe. So sind die Verweise auf einen schon exis-tierenden Baugrund und das in Inschriften mit der Stadtgöttin Artemis verbundene »Wachsen« ( δὐξάνω) Indizien für diesen Bezug. M. E. aber erklärt sich mit Blick auf die ekklesiologische Argumentation des Eph die intensive Rezeption der paulinischen Tempelmetaphorik am besten aus dem Leitthema des Briefes, das von Kol erheblich ab­weicht, nämlich die Einheit der aus Juden und Heiden zusammengewachsenen bzw. erbauten Kirche. Die Baumetaphorik ist kein lokales Spezifikum, sondern für den in jeder Hinsicht universal denkenden Eph kulturübergreifend. Ähnlich verhält es sich mit der Opfermotivik, die in alttestamentlich-frühjüdischen wie in paganen Kontexten integraler Bestandteil des religiösen Lebens ist (194–198). Auch die göttlichen Herrschaftsattribute, die der Artemis Ephesia zukommen, dürften für alle mit ihr vertrauten Leser des Eph die Vorstellung des erhöhten Christus-Kyrios koloriert haben, doch eignet den vielen anderen göttlichen und menschlichen Imperatoren ein ähnliches Referenzpotenzial. Explizit von Eph hervorgehoben ist allein das alttestamentlich-frühjüdische Paradigma von der Erhöhung und Herrschaftseinsetzung des Messiaskönigs nach Ps 110,1. Der Rückgriff auf das Motiv der »Waffenrüstung Gottes« greift m. E. noch am ehesten Spezifika der ephesischen Stadtgöttin auf (219–226). Ein (früherer) Artemisanhänger wird bei den »feurigen Pfeilen des Bösen« (Eph 6,16) an die Pfeile schleudernde Artemis und an die in einer ephesischen Orakelinschrift zitierte Drohung Apollos denken, dass die Göttin eine mangelnde Verehrung mit Feuer bestrafen wird. Und doch ist hier eine Vorstellung aufgerufen, die auch die LXX gut bezeugt. Für weitere in Frage kommende Begriffe wie »Bürgerschaft«, »Bund« oder die »trennende Wand der Feindschaft« (aus Eph 2,12–14) sind weniger der Artemiskult (232–241) als in erster Linie biblische und römisch-religionspolitische Hintergründe zu veranschlagen. Leider bleibt die grundlegende religionsgeschichtliche Studie von E. Faust, Pax Christi et Pax Caesaris (1993), die besonders den religionspolitischen Kontext dieser und anderer Eph-Stellen glänzend herausarbeitet, ganz unberücksichtigt.
Kaum zu begründen ist die von I. erwogene Authentizität des Eph (297–299.325 f.). Das Schreiben lässt jede lebendige Kommunikation vermissen, wie man sie von Paulus kennt; dies ist umso auffälliger, als er ganze drei Jahre in Ephesus gewirkt hat. Auch die hinlänglich bekannten, von I. ausgeblendeten inhaltlichen Differenzen einer kosmischen Christologie, eines Zurücktretens der Zukunftserwartung und eines universalen Kirchenverständnisses sprechen gegen die Authentizität. Genauso fraglich bleibt I.s Einordnung des Eph als Quelle für die Entwicklung der frühen Kirche in Ephesus (326–328).
Im Ganzen bleibt ein zwiespältiger Eindruck. Dem Rekurs auf das reiche Quellenmaterial der ephesischen Metropole eignet unbestritten exegetisches Potenzial, das die Studie zu einem beachtlichen Forschungsbeitrag macht. I. wertet die sprachlichen und motivischen Verbindungen zwischen Eph und den ephesischen Quellen sehr genau aus. Dies zeigt auch die verdienstvolle Tabellierung des (gemeinsamen) Wortmaterials in den Appendizes 1 und 2. Die Studie kann in Weiterführung bisheriger Forschungen vertiefend nachweisen, dass jedem mit dem ephesischen Milieu bekannten Leser zahlreiche Anknüpfungspunkte möglich waren. Die Bedeutung der aufgezeigten »allusions and echoes« muss dennoch insofern relativiert werden, als sie allesamt orts- und kulturübergreifend transparent sind und diese Polysemantik des Eph-Autors wohl auch bewusst angestrebt ist. Gerade dies nämlich befördert die Grundidee einer zur Einheit wachsenden und ihr verpflichteten Kirche als corpus permixtum.